- Ich schwöre es, die schönste Liebesgeschichte der Welt.
Louis Aragon
Im zentralasiatischen nordöstlichen Kirgisien, irgendwo im Tal des Kukureufluses, im Sommer des dritten Kriegsjahres, 1943, hat sie sich abgespielt, „die schönste Liebesgeschichte der Welt“ (Aragon). Said, der damals Fünfzehnjährige, der nicht wußte, wie Liebe sich zuträgt, erzählt sie mit großem Erstaunen.
(aus dem Klappentext)
- Ich war erschüttert. Die ganze Steppe schien zu erblühen, zu wogen, die Dunkelheit wich, und in der unendlichen Weite sah ich die Liebenden. Sie bemerkten mich nicht, sie hatten alles auf der Welt vergessen und wiegten sich im Takt des Liedes. Ich erkannte sich nicht wieder. Und dennoch: das war Danijar in seinem offenen, abgewetzten Uniformhemd, aber seine Augen schienen in der Dunkelheit zu leuchten. Und das war meine Dshamilja, die sich an ihn lehnte, aber sie war so stille und scheu, und an ihren Wimpern blitzten Tränen. Das waren zwei neue, unendlich glückliche Menschen. Und war das denn nicht das Glück? Danijars Lieder galten nur ihr, er sang für sie, er sang von ihr.
Tschingis Aitmatow: Dshamilja(S: 96)
Mit seiner kleinen Erzählung von Dshamilja und Danijar hat der Kirgise Tschingis Aitmatow eine wunderbare Liebesgeschichte geschrieben, die sicherlich auch uns, die wir fernab der asiatischen Steppe leben, auf besondere Weise berührt. Denn sie spielt in einem Dorf namens Talas am Fluß Kukureu im Nordosten Kirgisiens (Talaskaja Oblast) an der Grenze zu Kasachstan und – wie bereits erwähnt – vor längerer Zeit im Jahr 1943. Aber auch wenn uns die beiden Liebenden von Ort und Zeit so weit entrückt sind, mit dieser Erzählung kommen sie uns ganz nah. Wer mag da dem guten Louis Aragon widersprechen: Es ist wirklich die schönste Liebesgeschichte der Welt!
Die Erzählung Dshamilja – aus dem Russischen von Gisela Drohla – habe ich als suhrkamp taschenbuch 1579 – erste Auflage 1988 – Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, vorliegen und zum ersten Mal vor nun 27 Jahren (eben 1988) gelesen.
Zum Inhalt: Said, ein 15-jähriger Junge, erzählt die Liebesgeschichte seiner Schwägerin Djamila. Während Djamilas ungeliebter Mann, Sadyk, im Zweiten Weltkrieg an der Front kämpft, lernt sie Danijar bei den täglichen Getreidefuhren zum Bahnhof mit ihm kennen. Er ist ein teilinvalider Frontheimkehrer, scheu, träumerisch und von den Menschen im Dorf gemieden. Erst als er eines Tages ein Lied singt, bemerkt Djamila, dass in ihm ungeahnte Qualitäten stecken. Er singt von der Landschaft und vom Leben und auch Said ist hingerissen von ihm. Djamila und Danijar verlieben sich ineinander und Said, der bisher versucht hat, Djamila von Männern fernzuhalten, da er selber auf eine für ihn noch unbegreifliche Weise in Djamila verliebt ist, billigt dies. Durch den Gesang Danijars entdeckt er sein eigenes künstlerisches Ausdrucksverlangen als Maler. Nach Sadyks Heimkehr von der Front eskaliert die Situation und die zwei Verliebten verlassen das Dorf und brechen so die Tradition, um miteinander leben zu können. Auch Said verlässt das Dorf und folgt seiner Berufung als Maler.
Der merkwürdige Reiz von „Dshamilja“ beruht darauf, […] daß wir das alles von innen erfahren durch Menschen, für die das alles natürlich ist, keiner Erklärung bedarf, so daß der Erzählfluß jene außerordentliche Leichtigkeit gewinnt, die der modernen, an einer Reportagekrankheit leidenden Literatur, in der alles vorher auf Karteikarten geschrieben zu sein scheint, so sehr fehlt. (Louis Aragon: Vorwort – S. 14 f. – Leseprobe: Vorwort zum Buch)
Der Autor, Tschingis Aitmatow wurde 1928 im Dorf Sheker, Kirgisien, geboren. Mit fünfzehn war er der Sekretär des Dorfsowjets in Sheker. Genau in dieser Zeit spielt „Dshamilja“. 1946 studierte er an der Technischen Hochschule in Dshambul Veterinärmedizin. Nach dreijähriger Arbeit auf dem Experimentiergut des Wissenschaftlichen Viehzuchtforschungsinstituts von Kirgisien geht Aitmatow 1956 bis 1958 an das Literatur-Institut „Maxim Gorki“ nach Moskau. Aitmatows Name repräsentiert – auch in der westlichen Welt # die beste zeitgenössische Sowjetliteratur.
Bereits in den 1970er Jahren distanzierte er sich vom sozialistischen Realismus, sein Roman Der Richtplatz (auch: Die Richtstatt) gab 1987 wichtige literarische Impulse für die Perestroika.
1988–1990 war Aitmatow Vorsitzender des kirgisischen Autorenverbandes. In der Zeit der Perestroika war er als parlamentarischer Vertreter (Oberster Sowjet der UdSSR) aktiv, seit Ende 1989 auch als Berater Michail Gorbatschows. 1990 wurde er der letzte sowjetische Botschafter in Luxemburg. Bis März 2008 war er Botschafter für Kirgisistan in Frankreich und den Benelux-Staaten und lebte in Brüssel.
Nachdem der an Diabetes erkrankte Aitmatow bei Dreharbeiten im Wolgagebiet im Mai einen Schwächeanfall erlitten hatte, verstarb er am 10. Juni 2008 im Nürnberger Klinikum nach drei Wochen an den Folgen einer schweren Lungenentzündung.
Hannes Wader wurde durch die Erzählung zu seinem Lied „Am Fluss“ inspiriert („Es wird Abend, siehst du auch die alten Weiden dort am Fluß? Komm, in ihren Schatten kühlst du deinen müden Fuß …“).