Alle Artikel von WilliZ, Lockwood, Kretakatze & Co.

„Listen to the song here in my heart…“

Kretakatze schrieb am 14.09.2008:

Meine lieben Freunde,

ich muss Euch ein Geständnis machen: Manchmal lese ich tagelang Eure Mails nicht, einfach, weil ich gerade mit einem bestimmten Thema beschäftigt bin und dabei nicht abgelenkt oder von außen beeinflußt werden möchte. So war es auch mit Wilfried’s Mails von letzter Woche – ich habe sie beide erst jetzt gerade angeschaut. Deshalb ist vielleicht nicht mehr alles so aktuell und passend, was ich weiter unten schreibe – sei’s drum.

Zuerst einmal war ich völlig überrascht von Wilfied’s Reaktion auf meine letzten beiden Mails. Mit Zustimmung oder Lob hatte ich bestimmt als letztes gerechnet. Auf jeden Fall: Vielen Dank für Deine lobenden und aufmunternden Worte und Deinen ausführlichen Kommentar betreffend meine musikalischen Darbietungen. Dieses „If I can play ist, everybody can“ meine ich übrigens durchaus ernst. Natürlich muss man üben, das musste ich auch. Aber nichts, was ich auf der Gitarre spiele, ist so schwierig, dass es nicht Jeder mit fünf Fingern nach ein bißchen Übung auch hinbekommen könnte. Wirklich nicht!

Dann hat mich natürlich auch besonders gefreut, dass die Musik des Herrn Pascalidis gefallen konnte. Nach meinen letztjährigen Erfahrungen mit dem Versuch Euch griechische Musik näher zu bringen, hatte ich damit eher nicht gerechnet. Viele seiner Lieder klingen zwar nicht direkt nach griechischer Musik, aber da bleibt immernoch die Sprache. Und mit der hatte ja zumindest Lockwood so seine Probleme. Es ist ja auch irgendwo ein Handikap, wenn man den Text nicht versteht und nicht mitsingen kann.

Dabei hat Herr Pascalidis wahrscheinlich so ziemlich das umfangreichste musikalische Spektrum, das ich bei einem Musiker kenne. Es reicht vom traditionellen kretischen Volkslied (z.B. Kantada – Übersetzung nicht nötig) bis zum amerikanischen Rock-Song – etwa Hotel California oder Losing My Religion. Und er schafft es noch Lieder dieser verschiedenen Stilrichtungen medley-artig nahtlos ineinander übergehen zu lassen. Den Vergleich mit Hannes Wader konnte ich da nicht ganz nachvollziehen, unter anderem auch, weil ich Herrn Pascalidis für einen der besten Sänger überhaupt halte. Da spielt Herr Wader wohl doch in einer anderen Klasse. Aber mehr dazu eher ein andermal.

Deine Probleme mit dem 7/8 Takt kann ich gut nachvollziehen, lieber Wilfried, auch ich habe damit eine Weile gekämpft. Aber wenn man den Dreh mal raus hat, ist es ganz einfach, und „Paramithi…“ (hier eine live-Version, leider mit miserablem Sound) ist inzwischen eines meiner liebsten Lieder für „easy playing“ auf der Gitarre. Vielleicht schaffe ich es ja heute noch, meine Version davon auf YouTube hochzuladen (eigentlich wollte ich garnichts mehr auf YouTube stellen…). Ich hoffe damit kann ich dann alle Deine 7/8-Probleme zerstreuen.

So, genug dazu für den Moment, sonst werde ich heute überhaupt nicht mehr fertig… Und nun zu dem, was ich eigentlich schreiben wollte:

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Unser Gedankenaustausch zum Thema Musik scheint mir inzwischen zum Erliegen gekommen zu sein. Das ist auch irgendwie verständlich, es gibt wichtigere Dinge und der eine oder andere von uns hat zurzeit wohl auch einfach andere Probleme. Tatsache ist, dass mich dieses Thema immernoch umtreibt, und also habe ich einmal wieder ein paar Gedanken dazu aufgeschrieben. Und da ich nicht wüßte, wen ich sonst damit belästigen sollte, da schicke ich meine Aufschriebe eben an Euch. Macht damit was Ihr wollt…

Zuletzt ging es in unserer Diskussion um Qualität und Geschmack, besonders den „Geschmack der breiten Massen“ und den „Geschmack, den man haben sollte“. Soweit ich mich erinnere wurden diese beiden „Geschmäcker“ als Gegensätze gehandelt. Tatsächlich bin ich in letzter Zeit zu der Erkenntnis gelangt, dass der „Geschmack der breiten Massen“ sich in weiten Bereichen mit dem meinigen deckt – das ist sicher kein gutes Zeichen. Jedenfalls hat es mich dazu veranlasst, mich mit dem „Geschmack der breiten Massen“ etwas näher zu beschäftigen.

Um zu erkennen, ob eine bestimmte Musik oder ein bestimmter Musiker (vorzugsweise Sänger) den Geschmack der breiten Massen trifft, muss sie oder er den breiten Massen erst einmal bekannt werden. Diesbezügliche Vorhersagen von „Experten“ haben sich in der Vergangenheit immer wieder als Trugschluss erwiesen. Dazu einmal wieder eine Geschichte, und es ist – für mich nicht ganz untypisch – die Geschichte eines jungen Mannes. Ich höre Euch schon aufschreien „Nein, nicht schon wieder!“ – aber darauf kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen.

Er war Sänger und Gitarrist einer Band mit Namen Axium. Diese veröffentlichte immerhin 2 Alben unter ihrem eigenen Label, irgendwo im amerikanischen Mittelwesten. Der Musikstil war traditioneller Rock bis Hard Rock, solide gemacht aber ohne irgendwelchen Hit- oder Ohrwurm-Charakter. Die Band blieb weitgehend unbekannt. Nach der College-Zeit brach sie auseinander – man musste Geld verdienen. Der junge Mann verdingte sich als Barkeeper und musizierte weiter, eine Solo-Scheibe wurde produziert. Der Durchbruch ließ auf sich warten…

Das Erste, was ich von ihm zu sehen und zu hören bekam war dieses Video. „Wow“, dachte ich, „das klingt aber gut! Das ist genau der Sound, den ich hören möchte, und genau so muss das gesungen werden! Da sitzt jeder Ton.“ Natürlich habt Ihr sofort erkannt: Das ist der alte Free-Klassiker „All Right Now“, und es handelt sich schon wieder um American Idol. Aber es ist einfach so, dass dieser Show-Wettbewerb dieser Tage die wohl wichtigste Plattform ist, auf der getestet wird, was bei den breiten Massen ankommt. Und da kann man immer noch so diese oder jene Überraschung erleben.

David Cook, so sein Name, hatte eigentlich garnicht vorgehabt sich bei American Idol zu bewerben. Er war der Meinung, er schafft das auch allein. Aber sein jüngerer Bruder wollte vorsingen, also hatte er ihn zur Audition begleitet. Und da er nun schon mal dort war, war es nahelegend, dann doch auch einmal vorzusingen. Seinen Bruder wollten sie nicht haben, aber er wurde zu Simon und Co. durchgewinkt. Sein Auftritt vor dieser Jury drängt nicht unbedingt die Vermutung auf, hier einen künftigen Star vor sich zu haben. Sein Pullover sieht aus als hätte er ihn von Clay Aiken geliehen – der war zu seiner ersten (erfolglosen) Audition im selben Design erschienen – und seine Punkrock Stehhaar-Frisur wirkt nicht direkt Millionen-tauglich. Aber auch Mr. Cook sollte sich noch als anpassungs- und lernfähig erweisen.

Meiner Meinung nach gibt es eine ganze Reihe sehens- und hörenswerter Auftritte des Mr. Cook bei American Idol, aber auf die möchte ich eher in einem anderen Zusammenhang zurückkommen. Das soll ja hier alles nur die Einleitung sein. Jetzt nur noch einmal sein Auftritt in der Runde der letzten 20 in voller Länge mit Vorfilm und Kommentaren der Jury: All Right Now. Ich denke den Song kann man gut auch zweimal hören. Bereits in dieser frühen Phase des Wettbewerbs wagt es Mr. Cook sich mit Mr. Cowell anzulegen: Er lässt ihn nicht ausreden und gibt Ihm zu verstehen, dass er dessen Meinung bezüglich seines „Word-Nerd“-Filmchens und seines mangelnden Charisma für nachrangig hält. Er hat den Applaus und die Lacher auf seiner Seite. Simon Cowell reagiert mimosenhaft empfindlich, und seine seltsam übertriebene und unpassende Gestik offenbart, dass er tatsächlich gekränkt und irritiert ist.

Außerdem muß Mr. Cowell hier wohl einmal wieder Tomaten auf den Augen und Kartoffeln in den Ohren gehabt haben. Es war im Übrigen das letzte Mal, dass er David Cook so abfällig kritisiert hat. Jedenfalls – trotz langweiliger Kreuzworträtsel und charismatischer Mängel kam Mr. Cook weiter und bewies im Verlauf des Wettbewerbs, dass er nicht nur rocken kann, er kann (wenn es sein muss) auch sülzen ohne kitschig zu wirken: First Time Ever I Saw Your Face. Dieses Lied hat mir noch nie besonders gefallen, und es gibt grauenvolle Versionen – selbst Elvis Presley und Johnny Cash haben sich daran versucht. Zuletzt haben Celine Dion und (praktisch als Kopie) Leona Lewis Covers produziert, die so langsam und quälend sind, dass ich bei jedem Ton auf die Uhr geschaut und mich gefragt habe, wie lange es wohl noch dauert bis der nächste kommt – mehr als drei Töne habe ich nicht ertragen. Die Version von David Cook ist die einzige, die mir gefällt.

Wie auch immer, schließlich kam es soweit, dass sich David Cook im Finale wiederfand, zusammen mit seinem hoch favorisierten Konkurrenten David Archuleta. Das Duell der beiden Davids, der „ungewaschen wirkende“, „arrogante“ (O-Ton einiger seiner Kritiker) Rocker gegen den herzigen 17-jährigen Jungen mit der schönen Stimme, der lauter nette Lieder gesungen hatte. Noch während die Telefonleitungen unter dem Ansturm der Anrufer heißliefen, prophezeite Mr. Cowell in einer Talkshow den Sieg von David Archuleta, denn „alle Teenies und alle Omis werden für ihn stimmen“. Das war eine Beleidigung der Teenies und erst recht der Omis (zu denen ich mich altersmäßig auch schon fast zähle), und das wollten die wohl nicht auf sich sitzen lassen. Zusammen mit den Opis und allen Altersgruppen dazwischen griffen sie zum Telefon und wählten sich die Finger wund – es gab einen neuen Rekord von über 97 Mio. Anrufen innerhalb von 4 Stunden. Der Gewinner mit 12 Mio. Stimmen Vorsprung wurde David Cook. Das bedeutet im Klartext: Für den Rocker wurden fast 56 Mio. Stimmen abgegeben. Soweit mein erstes Kapitel zum Thema „Geschmack der breiten Massen“.

Wie wir ja auch bereits wissen, ist American Idol nicht die einzige Talent-Show, es gibt zahlreiche „Konkurrenzprodukte“ anderer Fernsehsender, Talent-Shows sind zurzeit ein Renner auf dem Markt. Da ist z.B. noch „America’s got talent“, und in dieser Show erschien im Jahr 2006 ein 11-jähriges pausbäckiges Mädchen auf der Bühne und verkündete, sie singt jetzt And I am Telling You (I’m Not Going). Ich vermute ich habe mir schon bei den ersten paar Tönen ungläubig die Ohren gerieben – man kann sich einfach nicht vorstellen, dass diese Stimme aus diesem Kind kommt. Sie wirkt wie ein Medium für jemanden, der mindestens doppelt bis dreimal so alt ist.

Bianca Ryan hat diesen Wettbewerb gewonnen und war anschließend im Jahr 2006 in allen Fernsehshows und in aller Munde. Ihre erste Platte, Ende 2006 veröffentlicht, kam aber in den Charts nur bis auf Platz 57, und ich habe den Eindruck es ist ziemlich still um sie geworden. So ein Überraschungseffekt funktioniert halt nur einmal. Und auf der Platte hört man nur die Stimme, man sieht nicht das Kind dazu, und damit ist der größte Teil vom Witz weg. Meiner Meinung nach (soweit ich das anhand von Videos beurteilen kann) konnte Bianca auch bei Live-Auftritten nicht immer überzeugen, so gut wie bei ihrem ersten Auftritt war sie nie wieder, wenn sie auch bestimmt singen kann. Dazu kommt: Auch sie wird immer älter und damit weniger sensationell, andere Nachwuchstalente rücken nach und haben sie schon überholt, wie wir gleich sehen werden. Hier wurde eine Eintagsfliege produziert, die zumindest vorläufig keine eigenen musikalischen Akzente setzen kann und deshalb wieder in der Masse untergeht.

Neben den Talentshows wird aber auch zunehmend ein anders Medium zur Plattform für die Verbreitung von Musik: Das Internet und hier speziell YouTube. Die (soweit ich das beurteilen kann) erste Sängerin, die über das Internet weltweite Bekanntheit erlangte, stammt aus dem fernen Osten, genauer gesagt von den Philippinen. Auch sie begann ihre Karriere als Kind in Talentshows. Aber wie hätte vor World Wide Web und YouTube die Welt davon erfahren, wenn auf den Philippinen ein Kind singt? Übrigens, wenn auf den Philippinen ein Kind singt, dann klingt das so: To Love You More (nur ein kurzer Ausschnitt).

Ich muss zugeben, dass derartige Bilder ein ungutes Gefühl in mir hinterlassen. Ich halte nichts davon 9-Jährige aufzuputzen wie eine Prinzessin und sie singen zu lassen „I want to love you more…“. Was fängt ein Kind mit diesem Text an? Aber vielleicht ist das auch nicht so wichtig. Charice scheint es zum Glück nichts geschadet zu haben. Diese Talentshow hat sie jedenfalls gewonnen, aber damit war sie noch lange kein Star. Auf den Philippinen ist die Konkurrenz hart und der Markt für Kinderstars scheint begrenzt. Weitere Talentshows folgten, die letzte im Jahr 2006, bei der sie „nur“ Zweite wurde.

Oftmals gilt der Prophet eben nichts im eigenen Land. Aber ein Unbekannter wurde auf sie aufmerksam und stellte Videos von ihren Auftritten ins Internet. Darüber stolperte man wohl in Korea, im Frühjahr 2007 wurde sie als Gast in eine koreanische Talentshow eingeladen. Ein Video ihres atemberaubenden Auftritts dort wurde auf YouTube gestellt und sollte Karriere machen. Die inzwischen 14-Jährige singt das Lied für kleine Mädchen in kurzen Röckchen, das wir schon kennen: Charice – And I am Telling You (I’m Not Going).

Dieses Video fiel auch in Amerika auf. Im Dezember 2007 erhielt Charice eine Einladung in eine der populärsten amerikanischen Fernsehshows, danach ging alles ganz schnell. Sie wurde in den USA von Show zu Show herumgereicht, und auch auf den Philippinen war sie plötzlich ein vielgefragter „Internationaler Star“. Der bekannte und einflussreiche amerikanische Produzent David Foster kümmerte sich persönlich um ihr erstes Album, es wurde im Frühjahr veröffentlicht. Und einer der zahlreichen Höhepunkte ihrer kometenhaften Karriere der letzten Monate war ihr herzergreifender Auftritt bei Oprah Winfrey im Mai: Charice – I Have Nothing.

Jetzt ist man in den USA dabei eine neue Diva aus ihr zu machen, die nächste Whitney Houston, Mariah Carey und Celine Dion in einem. Zur Anschauung noch eine Version von I Have Nothing. Wie kann man nur dieses Kind, das beim Singen üblicherweise um sich schlägt und tritt, statisch hinter einen Mikrophonständer stellen? Wer braucht denn eine neue Diva, es gibt doch schon so viele? Und es ist eben gerade der Charme von Charice, dass sie keine Diva ist. Aber das werden die Show-Produzenten hoffentlich auch noch kapieren. Und Gott sei Dank lässt sich Charice auch durch Mikrophonständer, künstlich drapierte Frisuren und unpassende Kleidchen nicht vom Singen abhalten.

Jetzt liegt es natürlich nahe Charice mit Bianca Ryan zu vergleichen, und das ist auch bereits ausgiebig getan worden. Wird die Erfolgskurve von Charice genauso verlaufen wie die von Bianca, deren erstes und bislang einziges Album übrigens auch von David Foster produziert wurde? Ich sage nein, denn Charice hat ganz andere Voraussetzungen. Da ist zunächst die Tatsache, dass sie einfach konstant deutlich besser singt und Stimmakrobatik beherrscht, bei der Bianca nicht mithalten kann. Dazu kommt ihr spektakulärer Vortragsstil – sie explodiert förmlich auf der Bühne, da sitzt man nur noch mit offenem Mund da und staunt (ich jedenfalls). Und die Faszination, die davon ausgeht, hat nicht in erster Linie mit ihrem Alter zu tun.

Ein weiterer wichtiger Vorteil ist der exotische Charme ihres asiatischen Aussehens. Es gibt bislang keinen asiatischen oder asiatisch aussehenden Weltstar – gab es überhaupt schon einmal einen? Hier klafft eine riesige Marktlücke, und Charice kommt gerade recht sie auszufüllen, sie könnte die Stimme und das Gesicht Asiens werden. Eigentlich sieht sie nicht direkt philippinisch aus (eher überhaupt nicht), man könnte sie genauso gut für eine Chinesin, Japanerin, Koreanerin, Vietnamesin oder Thailänderin halten, selbst unter den amerikanischen Indianern und Indios gibt es Gesichter wie ihrs – bis hin zu den Eskimos. Eigentlich könnte sich bald die halbe Weltbevölkerung mit ihr identifizieren, vor allem die Hälfte der Welt, die bisher immer hinter den Amerikanern und Europäern zurückstehen musste. Ob diese das wirklich tun würden, kann ich natürlich nicht beurteilen, aber zumindest könnte Charice für die Amerikaner (und vielleicht auch die Europäer) diese Hälfte der Weltbevölkerung (musikalisch) repräsentieren. (Wir können doch all diese Chinesen und Japaner sowieso nicht auseinander halten – oder?)

Nach all diesen geistigen Höhenflügen betreffend die rosigen Aussichten auf ihre glänzende Karriere, zurück auf den Boden der gegenwärtigen Tatsachen und zu meinem Lieblings-Video von Charice: Alone. Es zeigt ein Kind, das im Familienkreise vor dem Weihnachtsbaum mal gerade eben noch bei laufender Camera ein Lied ins Mikrophon singt, während ringsherum der Tisch gedeckt wird. Man hat den Eindruck, singen ist für sie bereits so selbstverständlich wie reden oder atmen, es ist ein inneres Bedürfnis und eine Freude, etwas, von dem sie sich durch nichts abbringen lassen würde. Dieses Video hat mich dazu veranlasst darüber nachzudenken, was eigentlich „Singen“ ist.

Musik ganz allgemein ist Ausdruck von Emotionen, das ist nichts Neues. Singen ist wohl die persönlichste Art und Weise, Musik zu machen, denn der Ton kommt direkt aus dem eigenen Innersten, hier werden Gefühle praktisch unmittelbar in Klänge umgesetzt. Dazu hat ein Lied üblicherweise einen Text, das heißt man kann den Klängen gleichzeitig durch Worte eine Bedeutung verleihen, oder auch umgekehrt, die Worte werden in ihrer Bedeutung durch den Ton unterstrichen.

Meist ist Singen ein Mittel, Gefühle oder Bedürfnisse auszudrücken, die man im „normalen“ Leben nicht oder nicht in ausreichendem Maße ausdrücken oder ausleben kann. Welche Freude für ein Kind, das mit dem Fuß aufstampfen und schreien (oder singen) kann „No, no, no, no, I’m not going…“, und das dafür nicht eins hinter die Ohren, sondern Beifall bekommt. Wenn Charice singt „Don’t you dare to walk away from me“ und dabei drohend die Faust schüttelt, könnte man fast Angst vor ihr bekommen. Kaum ist der letzte Ton des Lieds verklungen, ist sie einfach wieder ein liebes und sanftmütiges Mädchen, nie würde sie sich im „richtigen“ Leben so benehmen. Aber all diese Aggressivität steckt in ihr, und Singen ist ihre Weise, diese Seite ihrer Persönlichkeit auszuleben. Wir kennen das ja bereits von Meister Anderson.

Unter diesem Gesichtspunkt habe ich eine kleine Auswahl Videos zusammengestellt zum Thema „Der singende Mensch“. Von welchen Emotionen sind die Sänger angetrieben? Zuerst noch einmal Charice – Listen. „Listen to the song here in my heart…“, die erste Zeile dieses Liedes könnte gut die Überschrift zu diesem Kapitel sein. Letztendlich möchte doch fast jeder, der singt, auch gehört werden, er möchte sich und seine Gefühle mitteilen. Und wenn man singt ist die Wahscheinlichkeit ziemlich hoch, dass tatsächlich jemand zuhört – höher jedenfalls, als wenn man nur sprechen würde.

Das nächste Video hatten wir schon einmal, aber es darf in dieser Sammlung nicht fehlen: k.d. lang – Helpless. Und noch eine Lady: Sarah McLachlan – Angel. Mrs. McLachlan ist im Gegensatz zu den anderen Damen durch das Instrument in der Gestik stark eingeschränkt. Sie gleicht das durch intensive Mimik und deutliche Akzentuierung im Gesang aus. Trotzdem bekommt sie jetzt von mir noch eine zweite Chance ohne Klavier Sarah McLachlan – Possession.

Jetzt zu den Herren: Ian Anderson – Whole Lotta Brick (ja, ich weiß, den kennt Ihr schon…). Ganz anders: Cat Stevens – Into White und Miltos Pascalidis – Sou tilefono (Übersetzung hier wohl überflüssig). Und wirklich nicht nur um Euch zu ärgern: Clay Aiken – Measure Of A Man.

Was mir an diesen Aufnahmen aufgefallen ist: Abgesehen von Herrn Anderson, der natürlich wie immer aus dem Rahmen fällt, haben die Herren beim Singen mindestens die halbe Zeit die Augen geschlossen, sie wirken mehr oder minder in sich selbst versunken, während die Damen gestenreich mit dem Publikum zu sprechen scheinen. Habe ich vielleicht nur einfach mal wieder die falschen Männer ausgesucht? (Das passiert mir ständig…). Aber wenn man bedenkt, dass beim Singen hauptsächlich die Emotionen artikuliert werden, die im alltäglichen Leben zu kurz kommen, dann kommt es ja vielleicht doch nicht von ungefähr, wenn – überspitzt ausgedrückt – die Frauen sich hier alle austoben während die Männer eher „in sich gehen“.

Zum krönenden Abschluss jetzt noch zwei Beispiele die zeigen, wie ein Lied auf den Sänger zurückwirken kann. Zuerst Melanie – Tuning My Guitar… nicht gerade ihr bekanntestes Stück und auch nicht das eingängigste, aber ein bemerkenswerter Text und eine bemerkenswerte Performance. Am Anfang lächelt sie noch in der Erinnerung bei den Worten „I still haven’t forgotten I did it just for fun“, aber am Ende des Liedes kommt die ganze Wut in ihr hoch auf die Leute, von denen sie da singt – „Who do you think you are?!“ – und als das Lied vorbei ist, da scheint sie immernoch wütend.

Ich beende meinen heutigen Vortrag so, wie ich ihn begonnen habe: Mit David Cook – The World I Know. Das Lied hatte er eigentlich von Anfang an singen wollen, es ist das Lied für seinen krebskranken Bruder, aber immer hat man ihm davon abgeraten – es ist zu schwach, das bringt keine Stimmen. Jetzt steht er im Finale und es ist das letzte Lied, das er zu singen hat, das Lied, das der Knaller sein muss, der alle davon überzeugt, dass er das nächste American Idol ist. Und jetzt singt er es, allen guten Ratschlägen zum Trotz. Zum Einen vielleicht, weil er sowieso keine Chance hat, alle Experten haben vorhergesagt, dass David Archuleta gewinnen wird, also ist es sowieso gleich, was er singt. Vor allem aber, weil er dieses Lied einfach noch singen MUSS. Bei seinem (vermeintlich) letzten Auftritt auf der Bühne von American Idol singt er dieses Lied nur für sich und seinen Bruder, und danach ist er von dem, was es für ihn bedeutet, so überwältigt, dass die vorletzte Textzeile des Lieds Wirklichkeit wird – „…the tears roll down…“.

Mr. Cowell lag natürlich einmal wieder völlig daneben, es war das exakt richtige Lied im exakt richtigen Moment. Tatsächlich ist die Reaktion von Paula Abdul meist der beste Indikator dafür, wie die „breiten Massen“ reagieren werden. Ich denke es war nicht zuletzt dieser Auftritt, der die letzten Unentschlossenen noch dazu bewegt hat zum Telefon zu greifen und für ihn zu stimmen.

Damit wäre ich für heute am Ende angelangt, ich hoffe ich habe Euch nicht zu sehr ermüdet. Vielleicht habt Ihr ja jetzt auch Lust bekommen ein bißchen zu singen…???

Viel Spaß und haltet die Ohren steif
Kretakatze

PS.: Nur noch ein kurzer Epilog zu David Cook und unseren „modernen (Musik-)Zeiten“: 2 Wochen nach seinem Gewinn von American Idol war er mit 11 Titeln gleichzeitig in den Billboard Hot 100 Charts vertreten – ein Rekord, der bislang nur von den Beatles überboten wurde (vermutlich irgendwann so vor ca. 40 Jahren). Es dürfte das erste Mal gewesen sein, dass ein Musiker, von dem es noch nicht eine einzige Platte zu kaufen gibt, die Charts beherrscht. Aber heutzutage läuft das eben alles ein bißchen anders. Sofort nach seinem Titelgewinn muss man Mr. Cook ins Studio gezerrt haben, innerhalb weniger Tage wurden praktisch alle Songs, die er bei AI gespielt hatte, in voller Länge als Studio-Version aufgenommen und auf iTunes gestellt – wir leben in rasanten Zeiten.

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Wilfried schrieb am 18.09.2008:

Hallo, meine Freunde,

Kretakatze hat uns einmal wieder sehr ausführlich zum Thema Musik, zur Diskussion Qualität und Geschmack, berichtet und dabei den „Geschmack der breiten Massen“ unter die Lupe genommen. Fast zwangsläufig ist sie dabei wieder bei American Idol gelandet und bei einem Herrn David Cook, dem Gewinner dieses Contestes. Nebenbei, nebenbei ist gut, offeriert sie uns zwei junge Mädels, die für ihr Alter zweifellos über ungewöhnliche Stimmen verfügen.

Es ist nicht so, dass ich mich dem Geschmack der breiten Masse völlig verweigere. Aber weder die beiden jungen Mädchen noch Herr Cook können mich begeistern. Ich bezweifle nicht deren Gesangskunst, die ist wirklich beeindruckend. Aber das ist alles nicht mein DING.

Ob nun David Cooks Interpretation des Free-Titels „All Right Now“ besser ist als das Original, möchte ich bereits bezweifeln. David Cook mag besser singen, aber das Original ist für mich das, was ich an anderer Stelle bereits als authentisch bezeichnet habe, es ist also authentischer als das von Herrn Cook.

David Cook ist wie jene Biancas und Charices ein Interpret, ein Nachsänger, ein Sänger, der sich an Fremdtiteln wagt. Wenn er das tut und sich dabei möglichst am Original hält, dann erzeugt er lediglich eine Kopie, die nichts wirklich Neues bewirkt. Wagt er dagegen eine Eigeninterpretation, d.h. versucht er, einen allgemein bekannten Titel auf eigene Weise nachzusingen, dann schafft er auch etwas Neues. Genau hier frage ich mich dann, ist dieses Neue wirklich so neu, so viel anders und vielleicht außer- oder ungewöhnlicher als das Original. Bei Herrn Cook muss ich sagen: nein. Ich stelle hier nicht sein Können in Frage. Ich erwarte nur etwas wirklich Neues. Und genau das bietet er mir nicht. Wenn es dann auch noch Lieder sind (die er außerhalb des Wettbewerbs gar nicht singen würde), die mir nicht sonderlich gefallen, dann ist der Mann für mich abgehakt.

Das mit dem letzten Lied für seinen krebskranken Bruder, die vergossenen Tränen (ich will hier dem David Cook nichts unterstellen), das hat natürlich schon etwas ‚Werbewirksames’ und wird nach meiner Meinung das Zuschauervotum nicht unbeeinflusst gelassen haben. Aber hat das EIGENTLICH etwas mit der Musik zu tun?

Überhaupt die Frage nach der ‚Werbewirksamkeit’. Die beiden genannten jungen Mädchen sind sicherlich das, was man Wunderkinder zu nennen pflegt. Man hält so etwas nicht für möglich: solche Stimmen aus solchen kindlichen Körpern. Und damit rückt dieser optische Aspekt in den Vordergrund. Es geht nicht mehr allein um eine ungewöhnliche Stimme, sondern um diese wunderliche Mischung aus Stimme und Kindsein.

Von dem einen Mädchen schreibt Kretakatze: „ …all diese Aggressivität steckt in ihr, und Singen ist ihre Weise, diese Seite ihrer Persönlichkeit auszuleben.“ Zunächst muss ich sagen, dass mich dieses Fäusteschütteln und Fußgestapfe eher abschreckt. Und ich kann mich von dem Eindruck nicht frei machen, dass hier eine Zirkusnummer läuft. Das Mädel ist schon im Alter von vier Jahren öffentlich aufgetreten. Das wird förmlich gedrillt worden sein, wie ein dressierter Affe diese Show aufzuführen. Sicherlich fließt einiges aus dem Inneren des Mädchens an Emotionen nach außen. Aber auf mich wirkt das leider nicht authentisch, um noch einmal dieses Wort zu benutzen. Weitaus authentischer, also echter, wirkt der Auftritt von k.d. lang. Auch hier werden Emotionen nach außen getragen, Emotionen, die auch auf mich wirken. Und bei Herrn Anderson, na ja, da ist viel Augenzwickern dabei.

Weshalb mir die ganze Chose nicht gefällt: Da ist nichts wirklich Neues dabei. Die Lieder des philippinischen Mädchens klingen für mich fast alle gleich. Da höre ich mir lieber die Lieder von Tom Waits an (gestern habe ich mir eine Scheibe von ihm angetan, deshalb ihn als Beispiel). Das klingt so schön kaputt und übt auf mich wirklich einen ungewöhnlichen Reiz aus. Hier werden Lieder, die eigentlich ganz gewöhnlich sind, in einer Weise interpretiert, die nicht unbedingt innovativ ist, die aber für mich der Inbegriff des Persönlichen ist, glaubhaft und echt.

„Meist ist Singen ein Mittel, Gefühle oder Bedürfnisse auszudrücken, die man im ‚normalen’ Leben nicht oder nicht in ausreichendem Maße ausdrücken oder ausleben kann.“, schreibt Kretakatze. Dem stimme ich natürlich voll und ganz zu. Und es ist auch gut so. Wir alle sollten wieder mit dem Singen beginnen, wenn wir es nicht schon wie Kretakatze tun.

Ohne Gefühle ist Musik steril. Man erwartet förmlich vom Musiker, vom Sänger, dass er einen Teil seiner Seele freilegt. Aber im heutigen Showbiz verkommt das leider immer mehr zu einer Zirkusnummer, wie gesagt. Auch unser Meister Anderson weiß natürlich um solche publikumswirksame Effekte, sonst hätte er kaum den Bekanntheitsgrad erreicht, den er heute noch inne hat. Genug!

Vielleicht noch etwas zur grundsätzlichen Frage, was eigentlich die breite Masse ist. Ich denke, dass das nicht eindeutig definiert werden kann. Bestimmt man diese z.B. über Verkaufszahlen, so können Gruppen wie Jethro Tull (aufgrund der 40 Jahre Existenz) sicherlich auch als ‚Versorger’ der breiten Masse gezählt werden. Zig Millionen Alben sind von Anderson & Co. im Laufe dieser vielen Jahre über den Ladentisch gegangen. Da müssen selbst Sänger wie David Cook oder Clay Aiken zunächst einmal passen.

Ich denke, dass es eine ‚soziologische’ Frage ist. Die ‚breite Masse’ ist eine Bevölkerungsschicht, die sich dadurch auszeichnet, dass sie sich nicht auf Anhieb durch bestimmte Merkmale von anderen Gruppen unterscheidet. Ich habe erst kürzlich einen Bericht über die Gothics-Szene gelesen und gesehen. So gibt es viele Nischen in der Jugendkultur, die sich dadurch hervortut, dass ihre Mitglieder anders als die anderen sind und nicht dem Mainstream angehören. Besonders bei den Jugendlichen ist es geradezu verpönt, der breiten Masse anzugehören, sodass es hier eigentlich keine breite Masse mehr gibt. Und ich denke, dass es auch keine EINE breite Masse gibt, sondern die unterschiedlichsten Strömungen. Da gibt es die Volksmusikliga, dort die Schlagerheinis und anderswo eine ‚breite Masse’, die auf Pop u.ä. steht. Würde es nur EINE ‚breite Masse’ geben, dann hätten wir hier Verhältnisse wie in China vor 20, 30 Jahren (alle in Blauzeug). Addiert man alle Rockfans (von Jethro Tull über ich weiß nicht wen bis Zappa), was hätte man dann? Eine breite Masse, die breitet fast nicht sein konnte.

Also ist der ‚soziologische’ Ansatz auch Asche? Ja und nein. Vielleicht versuche ich es mit dem Individuellen. Wie schon gesagt, könnte man die breite Masse als Gruppe ohne besondere Merkmale, ohne bestimmte individuelle Ausrichtung, betrachten. Das sind dann die Vielen, die im Trüben dümpeln und nur darauf warten, dass sie herausgefischt werden. American Idols (stellvertretend für alle diese und ähnliche Formate) hilft hierbei. Man präsentiert die unterschiedlichsten Sänger/Sängerinnen, versorgt diese mit Musik, die möglichst vielen bekannt ist, und lässt dann den Zuschauer entscheiden, was gerade in sein soll. Als eingefleischter Angehöriger einer bestimmten Szene interessiere ich mich natürlich nicht für solche Sendungen. Wenn ich mich aber noch nicht wirklich festgelegt habe, dann horche ich auf – und siehe da, ganz demokratisch, wie das Ganze abläuft, finde ich meinen Liebling, stimme für ihn – und mir-nichts dir-nichts bin auch ich auf der richtigen Schiene. Mein Geschmack ist total IN, ich gehöre DAZU. Um das zu erreichen, müssen die auftretenden Sänger/Sängerinnen schon ihr Handwerk beherrschen. Man/frau stimmt doch nicht für einen musikalischen Versager. Und da es reichlich bisher unentdeckte Tatente gibt, ist dieser Markt vom Angebot her so schnell nicht zu sättigen.

Übrigens: die Begriffe „breite Masse“, Mainstream, wie auch immer … die werden wir in dieser, im Grunde eigenen Szene so schnell nicht hören. Und es ist eine eigene Szene, die DSDS-American Idol-Superstar-Szene. Abschließende Frage: gibt es eigentlich überhaupt eine ‚breite Masse’, wenn sich keiner wirklich dazugehörig fühlt?!

Ich wünsche Euch ein geruhsames Wochenende.
Bis bald
Wilfried

Griechischer Barde und rockende Katze

Kretakatze schrieb am 18.08.2008:

Meine lieben Freunde,

nach längerer Zeit möchte ich wenigstens einmal ein kurzes Lebenszeichen von mir geben. Ich habe Euch nicht etwa vergessen, tatsächlich denke ich täglich an Euch, und täglich wird mein schlechtes Gewissen größer (was Euch allerdings kaum etwas nützen wird). Ich habe Euch unvorbereitet mit dem Sinn des Leben konfrontiert und dann mit Euren Fragen, Zweifeln und Unklarheiten allein gelassen. Das war äußerst rücksichtslos von mir. Meine einzige Entschuldigung ist, dass ich von einem neuerlichen Anfall manisch-musikalischer Kreativität heimgesucht wurde (er ist noch immer nicht vorbei…). Täglich traktiere ich stundenlang Gitarre und Stimmbänder und übe neue Lieder bis die Finger so schmerzen, dass ich keine Saite mehr herunterdrücken kann. Dann schaue ich mir auf Youtube Musikvideos an. Für den Sinn des Lebens finde ich da einfach keine Zeit mehr… Wie Ihr seht, mein Leben ist zurzeit ziemlich sinnfrei aber trotzdem restlos ausgefüllt.

Aber ich bin mir sicher, liebe Freunde, dass ich früher oder später zur Philosophie zurückkehren werde und den Diskussionsfaden wieder aufnehme. Tatsächlich habe ich auch in letzter Zeit hin und wieder ein bißchen was geschrieben, es ist nur nichts fertig und vieles ruht noch in meinen Kopfe. Auch das Thema Musik und Qualität beschäftigt mich noch, aber ich weiß nicht, ob ich es noch einmal aufgreifen sollte, da liegen unsere Ansichten wohl doch zu weit auseinander.

Wie Ihr wisst, lasse ich Euch immer gerne an meinem chaotischen Lebenswandel teilhaben, und daher folgt nun noch ein (nicht einmal sehr kurzer) Einblick in die musikalischen Pfade, auf denen ich gerade wandle. Ich fürchte zwar, dass es wieder nicht Eurem Geschmack entsprechen wird, aber ich habe gerade erst durch Eure Listen der Lieblings-Songs gelernt, dass es garnichts schadet, wenn man einmal ein paar Videos anschaut, die man sonst nie angeklickt hätte – es erweitert den Horizont.

Neben Klassikern wie REM’s Losing My Religion oder Melanie’s Ring The Living Bell (beide mit einem schönen, einfachen Rhythmus und leicht zu spielen) habe ich mich vor allem auf einen neuen Musiker gestürzt, der so neu eigentlich auch nicht mehr ist. Ich bin schon vor über einem Jahr erstmals auf ihn gestoßen und hatte hier auch bereits einmal ein Video von ihm verlinkt. Seine Musik fand ich damals ganz gut, aber die Zeit war wohl noch nicht reif für die intensivere Beschäftigung – ich weilte musikalisch noch in anderen Gefilden. Woran es liegt, dass man zu manchen Zeiten eine bestimmte Musik aufsaugt wie ein Schwamm, die zu anderen Zeiten längst nicht die gleiche Wirkung auf einen hat – ich weiß es nicht.

Wenn ich diesen Musiker jetzt hier vorstelle, werde ich mich vermutlich bei Euch damit nicht beliebter machen, denn er ist Grieche und er singt auch noch auf griechisch – wenn nicht gar in noch exotischeren Sprachen. Sein Name ist Miltiadis (kurz auch Miltos) Pascalidis, und da taucht schon das erste Problem auf. Es ist nicht möglich seinen Namen in lateinischen Buchstaben so zu schreiben, dass ein Deutscher ihn richtig aussprechen würde. Eigentlich müsste ich „Paschalidis“ schreiben, aber das würde wohl jeder als „sch“ interpretieren. Die richtige Aussprache ist aber „s-ch“, wobei das „ch“ hart klingt wie in „ach“. Im Internet findet man ihn üblicherweise unter der Schreibweise „Pasxalidis“ (manchmal auch Pashalidis oder auch Pasxalidhs etc. es gibt da zahlreiche Variationsmöglichkeiten), da die Griechen auch nicht wissen, wie sie ihr „ch“ in lateinische Buchstaben umsetzen sollen – im Englischen gibt es den Laut nicht. Also behalten sie einfach ihr griechisches „x“ = chi bei. Soweit mein kurzer Lehrgang zur griechischen Phonetik.

Herr Pascalidis ist von Hause aus Diplom-Mathematiker und hat wohl auch ein paar Semester Philosophie studiert. Er wirkt nicht direkt so, wie man sich üblicherweise einen Musiker vorstellt, schon garnicht einen griechischen. Eigentlich sieht er aus wie das, was er ist: Ein Diplom-Mathematiker mit Hang zur Philosophie, Typ „ewiger Student“ – allerdings vielleicht eher ein schwedischer. Er hat mich an einen Ausspruch Lockwoods erinnert, der vor kurzem meinte, Philosophen wären wohl meist ernste Menschen. Ich weiß nicht ob Herr Pascalidis direkt ein Philosoph ist, aber ich kann mich nicht erinnern je ein Photo oder Video von ihm gesehen zu haben, auf dem er gelächelt oder gar gelacht hätte – oft schaut er geradezu grimmig. Musik scheint für ihn eine todernste Sache zu sein und ein Auftritt vor Publikum kein Vergnügen (wenn doch, dann lässt er es sich jedenfalls nicht anmerken). Ich finde es immer wieder faszinierend, welch unterschiedliche Charaktere sich musikalisch betätigen. Noch erstaunlicher ist, dass die Musik nicht so unterschiedlich zu sein scheint wie die Menschen, die sie produzieren.

Aber halten wir uns nicht länger mit dem unromantischen Erscheinungsbild des Herrn Pascalidis auf, hören wir uns lieber ein romantisches Lied von ihm an. Und ab hier ist jetzt Schluss mit den einfachen Rhythmen, denn Paramithi Me Lipimeno Telos (Märchen mit traurigem Ende) kommt im typisch griechischen 7/8 Takt. In dem Lied geht es darum, immer etwas sein zu wollen, was man nicht ist: Ich kannte einmal einen See, der ein Meer sein wollte…und immer, wenn der Tag anbricht, verzehrt ihn die Sehnsucht…ich liebte einmal ein Mädchen, das jeden Jungen fragte, wann sie eine Frau sein würde… zehn Jahre sind vergangen, aus dem Mädchen ist eine Frau geworden, aber ich bin immer noch ein Junge…und immer, wenn der Tag anbricht…

Von der Romantik zur Melancholie – O,Ti Ki‘ An Sisis (Was Du auch (er)lebst): Was Du auch erlebst, es ist nicht genug, es reicht nicht, dass Du lernst. Sooft Du denkst, Du bist ihm entgangen, wird es Dir wieder passieren… – und schließlich zur Depression – In Im‘ Ena Pevko Stin Akrojalia (Ich bin eine Kiefer am Strand) verarbeitet Herr Pascalidis einen Alptraum, der ihn lange Zeit verfolgt hat. Er muss zusehen, wie ein Kind ertrinkt und kann nicht helfen, denn er ist eine Kiefer am Strand.

Wer nun denkt Herr Pascalidis hätte nur langsame, schwermütige Lieder auf Lager, der wird jetzt gleich eines besseren belehrt. Herr Pascalidis kann auch schnelle, schwermütige Lieder: Pinelopi (Penelope). Eine Anspielung auf die Odysee: Du sagst, Du hast es satt zu warten und zwanzig Jahre am selben Kleid zu weben…ich werde immer zu Dir zurückkehren, und wenn Dir das nicht reicht, dann werde Du ein Schiff und ich werde ein Hafen…Alle auf hoher See werden vom Kummer verzehrt, wer auf Reisen war, sehnt sich nach Ithaka.

Was zu einem Intellektuellen immer gut passt, ist der kämpferische Prostestsong. Da ist auch Herr Pascalidis in seinem Element. Bei Ajiristo Kefali (Unbeugsamer Kopf) hört man schon am Rhythmus, worum es hier gehen muss. Wenn die Beschreibung des Videos stimmt, dann war das ein Auftritt im letzten Sommer auf dem Syntagma-Platz, dem Platz der Verfassung vor dem Parlamentsgebäude (viel sehen tut man ja gerade nicht) aus Anlass eines „Protestkonzerts für den Umweltschutz“, vermutlich eine Art griechischer „Earth Day“. Der Text des Liedes mutet geradezu apokalyptisch an (stammt allerdings ausnahmsweise nicht von ihm selbst): Es weht ein Wind, der alte und gehütete Wünsche hinwegfegt, die Helden machen sich aus dem Staub…blinde Vögel picken an meine Fensterscheibe…durch die Straßen galoppieren Reiter und jagen die herrenlosen Hunde, und die verängstigten Hausbesitzer treiben mit Weihwasser den Teufel aus, aber hier ist nicht der Balkan, sage ich Dir, hier darfst Du spielen, lachen und den Mund halten (das ist die Textstelle, bei der der Szenenapplaus aufkommt)…in Eure Hände lege ich das Steuer, damit nach der längsten Nacht der Tag anbricht.

Jetzt zur Aufheiterung ein kleines Tänzchen – ich würde einen Sonaradikos darauf tanzen (ich hatte hier schon einmal einen aus Glasgow verlinkt). Aber so ganz die unbeschwerte Lebensfreude ist das Lied dann doch auch wieder nicht. O Trelos (Der Verrückte) scheint eher ein Tanz für Verrückte zu sein: Die Welt tanzt außer Rand und Band, jeder nach seinem eigenen Rhythmus – damit ein Verrückter einen Tanzpartner findet, verkauft er sich selbst – Wenn Du nichts glaubst, dann frag nicht, und wenn Du mir nicht zuhörst, dann schau mich nicht an – wenn Du kein Feuer willst, dann spiele nicht mit Kohlen… usw. – jede Menge Verhaltensregeln – für Verrückte? Wie auch immer, ich mag dieses Lied ganz besonders, wahrscheinlich bin ich ja auch verrückt.

Zum Schluss noch ein Liebeslied (und außerdem mein Lieblingslied): Fotia mou (Mein Feuer): Mein Feuer und meine Luft, an der Grenze dieses Tages, gib mir Deine Flamme und werde mein Licht, mein Goldenes Vlies…usw.. Bei Herrn Pascalidis klingt das alles sehr leidend.

So, nun hoffe ich, Ihr habt nicht etwa auch sehr leiden müssen, und verabschiede mich für heute.

Liebe Grüße und bis demnächst
Kretakatze

PS.: Zur guten Nacht gibt’s jetzt noch ein Nanourisma (Wiegenlied) – natürlich von Herrn Pascalidis. Ich fand auch das Photo so passend, es erinnert mich irgendwie an meine Gitarre und daran, dass ich das vielleicht auch noch auf ihr spielen sollte…

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Kretakatze schrieb am 07.09.2008:

Hallo meine Lieben,

ich wollte mich nur kurz bei Euch melden um Euch auf ein aufsehenerregendes Video aufmerksam zu machen, über das ich soeben gestolpert bin, und das keinen anderen betrifft als unseren Meister Anderson. Vielleicht habt Ihr es ja noch nicht entdeckt, es wurde auch erst vor reichlich einer Woche auf YouTube gestellt. In der kurzen Zeit wurde es über 900 Mal kommentiert und mit mehr als 280 „video responses“ beantwortet, damit konnte es in den Statistik-Kategorieren „Most commented“ und „Most responded“ vordere Plätze belegen. Mr. Anderson kommt zwar nicht direkt selbst darin vor, er wird nur portraitiert – das allerdings auf vieltausendfachen Wunsch und recht gelungen: Ian Anderson of Jethro Tull – Portrait.

Um auch noch kurz von mir zu berichten: Seit etwa einer Woche bin ich stolze Besitzerin einer Videocamera, das hat die Philosophie auf meiner Prioritätenrangliste wieder etwas nach hinten rutschen lassen. Wozu braucht das Leben einen Sinn, wenn man sich die Zeit mit Filmen vertreiben kann?

Hauptsächlich habe ich die Camera gekauft um abzufilmen, was ich auf der Gitarre spiele. Ich habe das Problem, dass ich nichts „vom Blatt“ spielen kann, und mit Tabulator-Notationen komme ich auch nicht zurecht. Tatsächlich habe ich eigene handschriftliche Tabulator-Aufzeichnungen aus den 70ern gefunden, bei denen ich nicht einmal mehr rekonstruieren konnte um welches Lied es sich handelt – leider hatte ich damals wohl nicht für nötig befunden das dazu zu schreiben. Derartige Aufzeichnungen machen für mich also wenig Sinn.

Eigentlich kann ich nur nachsingen oder nachspielen, was ich irgendwo gesehen oder gehört habe. Da mein Repertoire inzwischen einen Umfang angenommen hat, der es unmöglich macht täglich alles zu üben, und mein Gedächtnis auch immer schlechter wird, habe ich also nach einer Möglichkeit gesucht meine „Cover-Versionen“ so aufzuzeichnen, dass ich hoffentlich auch in späteren Jahrzehnten noch schlau daraus werde. Und aus diesem Grund wird jetzt alles gefilmt.

Wilfried hat hier erst vor kurzem in der Rubrik Jethro Tull einen Gitarrenlehrer vorgestellt, der auf YouTube per Video unterrichtet. Seine „Lektion“ zu Jethro Tull’s Wond’ring Aloud ist wirklich sehr interessant und aufschlussreich, aber an so komplizierten Dingen versuche ich mich garnicht erst, das bekomme ich doch nicht hin. Bei Kretakatze gibt’s nur „easy guitar“. Zum Glück gibt es hin und wieder Lieder, die man auch mit kurzen, krummen, ungeschickten Fingern spielen kann und die trotzdem noch ganz gut klingen. Solche versuche ich zu finden und in mein Repertoire aufzunehmen. Und natürlich bleibt Euch jetzt eine Kostprobe nicht erspart. Ich habe zwei Titel ausgewählt, die Euch bekannt vorkommen müssten, da ich sie in früheren Beiträgen bereits erwähnt habe: Kretakatze reitet über den River und Kretakatze rockt on the Road. Ich bitte um Nachsicht, wenn meine Finger nicht immer die richtigen Saiten treffen. Ach ja, und haltet Euch fest, damit Ihr nicht vom Stuhl fallt, wenn meine liebreizende Stimme erklingt.

Irgendwo ist es mir ja fast peinlich solche Videos in die Öffentlichkeit zu stellen, wo es auf YouTube soviele Covers gibt von Leuten, die wirklich Gitarre und singen spielen können. Andererseits gibt es auf YouTube auch eine Menge Videos von Leuten, die nicht besonders gut Gitarre spielen oder singen können. Und es ist für mich immer wieder beruhigend zu sehen, dass ich in dieser Beziehung nicht die Einzige bin. Außerdem habe ich mir auch aus solchen Videos schon die eine oder andere Anregung geholt. Vielleicht geht es Anderen ja genauso. Also was soll’s…

So, das war‘ für heute. Seid herzlich gegrüßt bis zum nächsten Mal
Kretakatze

PS.: So ganz ohne „gescheites“ Musikvideo möchte ich mich dann doch nicht von Euch verabschieden. Hier jetzt zur Abwechslung eine Lady, die wirklich singen und Gitarre spielen kann (und die ich Euch eigentlich schon seit längerem einmal vorstellen wollte): Sarah McLachlan – Building A Mystery.

PPS.: Eine Frage an Dich, lieber Wilfried, Du müsstest auf diesem Gebiet Experte sein: Eigentlich wollte ich Euch diese Mail schon gestern schicken, ich wollte nur noch kurz vorher die beiden Videos auf YouTube hochladen… Kurz? Es hat ca. 10 Stunden gedauert und zwischendurch zu drei Abbrüchen wegen Timeout geführt. Ist das eigentlich normal???

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Wilfried schrieb am 11.09.2008:

Hallo Ihr alle,

Kretakatze hat den Sinn des Lebens ‚verloren’ („Für den Sinn des Lebens finde ich … einfach keine Zeit mehr“), lebt sinnfrei und trotzdem restlos ausgefüllt, also ein ausgefülltes, wenn auch sinnloses Leben. Wer kann das schon von sich behaupten.

Im Ernst: Das Ergebnis von Kretakatzes täglichem Traktieren der Gitarre und Stimmbänder trägt erste Früchte, wie bei youtube zu sehen ist. Da entschuldigen wir es doch gern, mit unseren Fragen und Zweifeln alleingelassen zu sein. Es gibt eben mehr als nur die Frage nach dem Sinn des Lebens. Aber dazu (zu Kretakatzes Traktieren) am Ende mehr.

Die Videos vom griechischen Diplom-Mathematiker (Pascalidis oder doch eher Paschalidis) hatte ich mir bereits vor meinem PC-Crash angeschaut und Kretakatzes Befürchtungen, die könnten nicht unserem bzw. meinem Geschmack entsprechen, konnte ich bereits da nicht verstehen. Jetzt, nach wiederholtem Hören, bleibe ich gern bei meinem Urteil: die Lieder gefallen mir. Okay, das erste gezeigte Lied „Paramithi Me Lipimeno Telos“ (Märchen mit traurigem Ende) ist eben doch typisch griechisch (ich habe es zz. mit dem Typischen). Ich versuchte, mich in diesen doch ungewöhnlichen 7/8-Takt ‚hineinzuwurschteln’ (auf der Tischkante fingerklopfenderweise), aber so ganz geht mir das nicht ins Blut über. Musiktheoretisch ist ein solcher Takt ja eigentlich aus 4/8 und 3/8 zusammengesetzt. Aber Theorie und Praxis sind eben zwei beschiedene Paar Schuh.

Nun die weiteren Lieder nähernd sich dann schon mehr unseren mitteleuropäischen Hörgewohnheiten. „O,Ti Ki‘ An Sisis“ (Was Du auch (er)lebst) ist wahrlich melancholisch, aber eben auch sehr schön. „Im‘ Ena Pevko Stin Akrojalia“ (Ich bin eine Kiefer am Strand) ist mir etwas zu dramatisch und auch etwas zu schleppend – aber dank Kretakatzes Anmerkungen weiß ich, dass es eben auch ein Lied mit dramatischem Inhalt ist. „Pinelopi“ (Penelope) kommt recht rockig daher. Ähnlich griechisch-rockig wie manches Anderson-Stück schottisch-rockig ist. An „Nanourisma“ (Wiegenlied) gefällt mir z.B. auch das Saxophon-Solo am Ende. Vieles erinnert mich an Angelo Branduardi, den wir an anderer Stelle in diesem Blog öfter erwähnt haben (u.a. in seiner Interpretation des Liedes vom Apfelwein). Stimmlich denke ich da an Hannes Wader.

Also, was soll ich sagen? Vielen Dank an Kretakatze, dass Du uns diesen griechischen Diplom-Mathematiker mit Hang zur Philosophie und seine langsamen, schwermütigen bzw. schnellen, schwermütigen Lieder vorgestellt hast. Respekt an dieser Stelle für Deine Kenntnisse der griechischen Sprache (und nicht nur der).

Kretakatze ist nun also bei youtube zu bewundern. Ich meine das wirklich nicht ironisch (von wegen bewundern). Zunächst möchte ich dem „if I can do, everybody can” widersprechen. Schön wäre es, wenn dem so wäre. Vielleicht mit viel Fleiß und Übung annähernd machbar. Und doch: Nein, ohne ein Mindestmaß an Musikalität kann everybody das eben nicht.

Klar, zunächst stellt jeder erst einmal sein Licht unter den Scheffel (aber so bescheiden sind Deine Fähigkeiten eben nicht, Kretakatze) – bis der Scheffel brennt. Nein, ich finde es einfach mutig, sich nicht nur eine Videokamera zu kaufen und dann die Aufnahmen zu machen, sondern die Aufnahmen dann auch noch ins Netz zu stellen. Ja, ich weiß, notfalls kann man die Lieder schnell auch wieder löschen (oder die ätzendsten Kommentare löschen – oder gleich die Möglichkeit, Kommentare abzugeben, ausschalten). Aber als ‚Künstler’ lebt man bekanntlich von der Resonanz des Publikums (die sollte möglichst positiv sein, ist klar).

Also hier meine Resonanz: Zunächst hatte ich das Dire Straits-Cover gehört. Als nach dem längerem Vorspiel der Gesang einsetzte, war ich erst einmal ziemlich verblüfft. Bisher kannte ich Deine Stimme ja nicht, Kretakatze. Ich rechnete während des Fortdauerns des Vorspiels wohl nicht mehr damit, dass du jetzt auch noch singst. Dann also Dein Gesang. Diese Alt-Stimme.

In einem Buch, das ich dieser Tage erneut gelesen hatte (Paul Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein) – ja ich weiß, ich mache es spannend -, in dem es im Wesentlichen um Missverständnisse in der menschlichen Kommunikation geht, erzählt der Autor von einem Ehepaar. Die Frau kocht ihrem Mann etwas völlig Neues und fragt ihn dann, wie es ihm schmeckt. Obwohl es ihm überhaupt nicht mundete, er aber seine Frau auch nicht kränken wollte, sagte er nur: Es schmeckt interessant! Das Wort interessant wird, weil es so vielsagend ist (von anregend über beachtenswert bis hin zu markant und aufschlussreich), meist nichtssagend benutzt.

Nein, interessant ist Dein Gesang, Deine Stimme ‚nicht’. Wenigstens nicht, wie es der Ehemann von den Kochkünsten seiner Frau meinte. Eher im Sinne von außergewöhnlich (fast hätte ich gewöhnungsbedürftig geschrieben). Dann diese leichten Schwankungen, Tremolos zwischendurch, mögen diese von Unsicherheiten (innerer Anspannung) oder Ungeübtheit herstammen, sie geben deiner Stimme einen ‚interessanten’ Reiz, d.h. besonderen Reiz.

Wärest Du einige Jahre jünger, dann könnte ich mir gut vorstellen, falls Du Deine Stimme ausbilden ließest, dass Du mit ihr Erfolg haben könntest. Sie ist keine Tralala-Stimme wie viele, die uns heute immer wieder zu beglücken suchen. Ja, ich finde deine Stimme wirklich außergewöhnlich (nach dem genannten Tralala, den man täglich hört, wie gesagt: fast gewöhnungsbedürftig). Das soll ein Kompliment sein!

Was soll ich sonst noch dazu sagen? Ich bin gespannt auf weitere Interpretationen von Dir bei youtube. Und ich will ganz ehrlich sein: Ich würde das so nicht können. Aber wer weiß. Vielleicht packt mich ja doch noch der Ehrgeiz, es dir nach zu tun. Das ist aber kein Versprechen (höchstens ein Versprecher).

Aber genug gelobt. Überhaupt genug für heute.
Bleibt alle gesund und munter, lasst Euch nicht zu sehr von den Schicksalsschlägen niedermachen (schlagt zurück).

Horrido
Euer Wilfried

P.S. Zu dem erwähnten Ian Anderson-Portrait bei youtube später etwas mehr (wahrscheinlich in einem eigenen Beitrag):


Ian Anderson Portrait

P.P.S. Ja mit dem Hochladen der Videos zu youtube ist das schon so eine Sache. Bei mir klappte das eigentlich fast immer ohne Abbrüche, die kamen aber durchaus schon vor. Bei mir dauert es meisten sogar noch etwas länger, kommt aber auf die Größe der Dateien an – und auf den Zeitpunkt, also wann ich das mache (wochentags gegen Mittag geht das schneller als abends oder gar nachts, wenn halb Amerika seine Videos bei youtube einstellt).

English Translation for Ian Anderson

Musik und Qualität

Im Beitrag Kumpelschaften (Noddy & Ian) fragte Lockwood zuletzt: „Wann ist Musik “gut” ?“ und deutete an, ein Problem zu haben, wenn „Michael Jackson und Diedä Bohlen bedeutende zeitgenössische Musiker“ wären. Ob wir Lockwood von seinem Problem erlösen können? Hier geht es weiter …

Kretakatze schrieb am 16.06.2008:

Hallo meine Lieben,

Lockwood hat das Thema „erfolgreiche Musiker“ und „Chartplatzierungen“ angesprochen, und darauf möchte ich doch noch etwas differenzierter eingehen (ziemlich differenziert sogar).

Zunächst einmal stammt von ihm der Satz „Die Hitliste, auf deren 2. Stelle Slade zu finden ist, basiert wohl auf Chartplatzierungen, also auf Verkaufszahlen“. Charts basieren durchaus nicht immer und ausschließlich auf Verkaufszahlen, sondern wie wir in diesem Wikipedia-Artikel nachlesen können, evt. auch auf Publikumswahlen oder auf Sendehäufigkeiten im Radio. In Zeiten sinkender Plattenverkäufe und zunehmender illegaler Downloads aus dem Internet sind Verkaufszahlen allein auch kein ausreichendes Kriterium für die Beliebtheit einer Musik mehr. Der Billboard Hot 100, der aktuell wichtigste amerikanische Musik-Chart, basiert daher bereits seit Jahren auf einer Kombination aus Endverbraucher-Verkäufen und „Airplay“, also Sendehäufigkeit und -Reichweite (d.h. erreichte Hörer) im Radio. Hier wurde also bereits versucht, den „Erfolg“ einer Musik in beiden Kategorien durch einen gemeinsamen Index gegeneinander aufzurechnen und vergleichbar zu machen.

Dazu als Beispiel einmal wieder Clay Aiken – sorry, Jungs, aber er eignet sich so gut. Wie wir bereits wissen besteht die Fangemeinde von Mr. Aiken hauptsächlich aus anständigen, wohlsituierten Damen über 40. Dieses Publikum ist noch von alters her gewohnt, dass man Musik im Laden kauft und dafür bezahlt. Außerdem wollen sie ihr Idol unterstützen und auf den Verkaufscharts vorne sehen, und sie haben die finanziellen Mittel dazu. Veröffentlicht Mr. Aiken also ein neues Album, wie erst letzten Monat geschehen, dann stürmen die Claymates bereits am Tage der Veröffentlichung die Läden und kaufen nicht nur ein Exemplar, sondern gleich 3 oder 5 oder 10. Antwort einer Dame mittleren Alters, die interviewt wurde als sie mit einem ganzen Packen „Clay Aiken – On My Way Here“ in der Hand den Laden verließ, auf die Frage was sie mit all den CDs machen wolle: „Eine ist für daheim, eine fürs Auto, eine fürs Büro, und den Rest verschenke ich“.

So kommt es, dass Clay Aiken’s CD in der Woche ihres Erscheinens auf Platz 2 der Verkaufscharts lag (Dummerweise brachte er sein neues Album am gleichen Tag heraus wie Josh Groban und Neil Diamond – an Josh Groban kam er vorbei, an Mr. Diamond nicht. Das zeigt auch von welchen „Zufälligkeiten“ Chart-Platzierungen abhängen können. Hätte Mr. Diamond sein Album eine Woche später veröffentlicht…). Gleichzeitig führte der Titelsong seines Albums die Download-Charts an – ich möchte wetten, dass jede Menge Ladies, die das Album schon fünfmal erstanden hatten, sich zusätzlich auch den Song noch fünfmal heruntergeladen haben – Mr. Aiken lässt man sich gerne etwas kosten.Irgendeine Band, deren Fans hauptsächlich aus Teenies bestehen, hat dagegen keine Chance. Da kauft sich vielleicht Einer in der Clique die CD und die anderen 10 kopieren sie oder laden sie sich aus dem Web runter – natürlich ohne zu zahlen. Ein Auto und ein Büro hat da auch Keiner und Geld für 10 CDs auch nicht.

Schaut man sich dagegen die Radio-Charts an, dann sieht das ganz anders aus. In den Airplay-Charts der Top 40 amerikanischen Radiostationen taucht der Name Clay Aiken nicht auf. Hier bestimmen die Disc-Jockeys, was auf den Teller kommt, und die wählen das aus, was ihrer Meinung nach ihr Publikum hören will. Dieses Publikum ist vermutlich überwiegend jugendlich, und die DJs scheinen überwiegend der Meinung zu sein, dass man denen Clay Aiken nicht zumuten kann (worin ihnen Wilfried sicher lebhaft zustimmen wird). Hier haben jetzt die Favoriten der Teenies eine echte Chance – was allerdings die Qualität der Musik auch nicht unbedingt erhöht, wie wir gleich erleben werden.

Dazu noch einmal ein Beispiel, mit dem ich mich bei Wilfried wieder unbeliebt machen werde. Im letzten Sommer hatte sich Clay Aiken für seine Bühnenshow ein Medley aus 12 Titeln zusammengestellt, die alle zu dieser Zeit vordere Plätze in den Airplay-Charts der Top-40-Radiostations belegten – er wollte auch einmal etwas cooles singen, was im Radio gespielt wird. Ich habe dieses Medley erst vor ein paar Tagen Wilfried in einem Kommentar untergejubelt, aber für die, die es noch nicht kennen, hier das Gleiche noch einmal in einer anderen Version: The Classics Medley (wer nicht will, muss es ja nicht anklicken – also ich finde es herrlich albern).

Was mir daran auffiel: Abgesehen von jeder Menge Sex und Schwachsinn tauchen hier Titel auf wie Beat It (Michael Jackson), Like a Virgin (Madonna), Oops, I Did it Again (Britney Spears), 1999 (Prince) oder Bills, Bills, Bills (Destiny’s Child), die teilweise wahrscheinlich schon fast 10 Jahre alt sind. Aus den Verkaufs-Charts sind sie längst verschwunden, aber im Radio belegen sie immer noch erste Plätze. Wie vergleicht man den Erfolg von einem Titel, der eine Woche lang die Download-Charts angeführt hat (und an den sich in zwei Jahren vermutlich kaum noch ein Mensch erinnert) mit einem Song, der vielleicht nie einen ersten Platz belegt hat, der aber nach 10 Jahren immer noch regelmäßig im Radio gespielt wird?

Kommen wir vom Vergleich des Erfolgs von Musiktiteln zum Vergleich des Erfolgs von Musikern, und dafür werde ich 3 Absolventen von American Idol anführen. Nach offizieller Auffassung – nachzulesen in Wikipedia – sind die bislang erfolgreichsten Teilnehmer an American Idol Carrie Underwood (Gewinnerin AI4), Kelly Clarkson (Gewinnerin AI1) und Clay Aiken (Zweiter AI2) – in dieser Reihenfolge. Sie basiert allein auf der Anzahl verkaufter Tonträger. Bei einer Abstimmung im Jahr 2006, in der es darum ging das „beliebteste Idol“ zu küren, gewann Mr. Aiken. Geht es um die offizielle Anerkennung des „Musikschaffens“, dann konnten sich beide Damen bereits Grammies in die Vitrine stellen, bei Mr. Aiken war es bislang „nur“ ein Music Award Fanpreis aus dem Jahr 2003 und eine Music Award Nominierung. Beim „Airplay“ liegen die Ladies deutlich vorne, was die Präsenz im Fernsehen betrifft ist Mr. Aiken klarer Gewinner. Das liegt nicht zuletzt auch daran, dass er bereits in mehreren Fernsehserien Gastauftritte hatte, in Fernsehshows als Co-Host agierte oder in seiner Funktion als UNICEF-Botschafter gefilmt bzw. interviewt wurde – hat also nicht direkt etwas mit Musik zu tun. Ein ganz wichtiger Aspekt sind aber meiner Meinung nach die Konzerte. In Zeiten sinkender Verkaufszahlen von Tonträgern werden für Musiker die Konzerte als Einnahmequelle immer wichtiger. Bislang gibt es noch keinen Chart, der Konzerte irgendwie berücksichtigen würde, z.B. in Form von Anzahl verkaufter Tickets. Da Mr. Aiken in diesem Bereich sehr aktiv ist und meist zwei Tourneen im Jahr absolviert, würde ich vermuten, dass er in diesem Punkt die Nase vorn hat.

So, wer ist jetzt von den Dreien der oder die Erfolgreichste? Ich denke, das kann man so nicht sagen, das einzige halbwegs objektive Kriterium könnten hier noch die jährlichen Einnahmen sein. Und über die wird man wohl kaum zuverlässige Informationen bekommen. Ansonsten sollte man besser nicht global von „Erfolg“ sprechen, sondern konkret das Kriterium nennen, das man gerade vergleichen möchte.

Der langen Rede kurzer Sinn: Zurück zu Slade und ihrem Titel als „2. erfolgreichste Band“. Diese Aussage kann sich eigentlich nur auf ein ganz bestimmtes Kriterium beziehen (vermutlich eben Plattenverkäufe) in einem ganz bestimmten Jahr, und das vermutlich auch noch in einem ganz bestimmten Land. In der Liste der erfolgreichsten Musiker aller Zeiten (die natürlich sehr mit Vorsicht zu genießen ist) tauchen Slade nämlich garnicht erst auf. Allerdings tauchen z.B. Creedence Clearwater Revival auch nicht (mehr) auf, ich bin mir sicher sie in dieser Liste schon einmal gesehen zu haben. Vermutlich sind sie gelöscht worden, weil die Quelle als zu zweifelhaft galt. Ich habe eine Zahl von 125 Mio. Tonträgern in Erinnerung. Stattdessen sind jetzt auch Jethro Tull hier zu finden, die ich das letzte Mal noch vermisst hatte.

Aber Lockwood war in seiner letzten Mail schnell weitergeeilt, von der Frage des Erfolgs zur Frage der Qualität. Und das ist nun ein noch viel schwammigeres Gebiet. Qualität und Erfolg sind wohl schon irgendwie positiv miteinander korreliert, aber nach meinem Gefühl nicht besonders stark. Und was „gute Musik“ ist beruht auf rein subjektivem Empfinden, dafür kann es keine objektiv messbare Maßeinheit geben. Seinerzeit hatte ich auch in meinem Beitrag mit dem Titel Musik und Intelligenz schon einige Worte zu diesem Thema verloren. „Musik und Intelligenz“ oder „Musik und Qualität“- das läuft mehr oder minder auf’s Gleiche hinaus. Allein wir Drei bis Vier, die wir ja tendentiell musikalisch ähnlich veranlagt sind, können uns in diesem Punkt schon nicht einig werden – unsere teilweise weit auseinanderliegende Auswahl der „besten Songs aller Zeiten“ spricht da Bände. Und über Geschmack sollte man sich nicht streiten, das führt zu nichts.

So genug für heute, und ab morgen wird wieder philosophiert…

Seid herzlichst gegrüßt
Kretakatze

PS.: Entfällt heute wegen akuter Erschöpfungszustände

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WilliZ schrieb am 16.06.2008:

Ja, meine Lieben,

Sympathie und Erfolg … Wann ist Musik „gut“?! Ihr habt Probleme. Wenn ich eine bestimmte Musik gut finde, dann werde ich in der Regel auch den Interpreten gut und damit mehr oder weniger sympathisch finden. Ungeachtet all dessen, was wir inzwischen Negatives von Herrn Anderson wissen, wird er uns (auf jeden Fall mir) sympathisch bleiben. Das hat eben viel mit seiner Musik zu tun. Wenn wir seine Musik nicht mögen sollten, dann gäbe es kein Interesse an seiner Person – und die Frage nach Sympathie oder Aversion würde sich erst gar nicht stellen. Das gilt in meinem Fall bei Wolfgang Petry. Auch ich kenne ihn eigentlich nur dem Namen nach. Vielleicht habe ich schon das eine oder andere Lied von ihm gehört. Aber ich wüsste jetzt nicht, welches. Und so finde ich ihn weder sympathisch noch unsympathisch. Ich kenne ihn einfach nicht. Wahrscheinlich möchte ich ihn auch gar nicht kennen lernen, weil er musikalisch aus einer Ecke kommt, in der ich mich nicht aufhalte.

Bei Noddy Holder mag das etwas anders sein. An die Musik von Slade erinnere ich mich noch, sie entsprach zwar nicht meinen Geschmack, aber ich bin auf jeden Fall nicht zusammengebrochen, als auf früheren Parties das eine oder andere Lied von denen gespielt wurde.

Und Erfolg? Dazu hat sich Kretakatze ausführlich ausgelassen und ich kann ihr nur zustimmen. Erfolg ist nur messbar, wenn die benutzten Variablen die gleichen sind. Erfolg ist zudem eine quantitative Größe, die nur wenig mit Qualität zu tun hat. Mögen die Beatles auch mit „guter“ Musik Erfolge erzielt haben. Viele andere „erfolgreiche“ Musiker boten diese Qualität nicht. Erfolg hat heute auch viel mit Marketing zu tun. Daher auch der Erfolg von TV-Sendungen wie DSDS, American Idol und wie immer diese heißen. Aber das Thema hatten wir ja bereits.

Was ist nun „gute Musik“? Hierfür gibt es mindestens zwei Sichtweisen. Für viele ist Musik dann gut, wenn sie gefällt. Da spielt der individuelle Geschmack die Hauptrolle. Nicht jeder mag Currywurst mit Pommes. Aber es gibt durchaus einige, die sowohl Kaviar mögen als auch Currywurst (und einzelne, die Currywurst mit Kaviar mögen). Damit kommen wir zur 2. Sichtweise: Was macht die Qualität von Musik aus? Wolfgang Petry ist wie Currywurst von der Pommesbude nebenan: zu fett und ungesund. Noddy Holden und seine Slade sind vielleicht Fish and Chips, aber in einem Mittelklasserestaurant serviert. Die Zutaten sind frisch, der Fisch in Butter gedünstet statt in ranzigem Frittenfett. Und auch die Fritten kommen nicht aus dem Tiefkühlfach.

Nun Kaviar ist auch nicht unbedingt gesund. Nehmen wir eine Mahlzeit, die ausgewogen, also gesund ist. Es kommt zunächst auf die Zutaten an. Schon allein die Tatsache, das Ganze mit frischem Pfeffer (aus der Pfeffermühle) zu würzen, kann graduelle Unterschiede bewirken. Manchmal tut es ein einfacher Salat, aber eben raffiniert gewürzt. Das ist wie ein schlichtes Lied, das trotzdem qualitativ als gut bewertet werden kann. Und je aufwändiger ein Mahl zubereitet wird, um so mehr Geschick (Kompositionsgabe) muss der Koch besitzen. Dazu gehört Talent, meist aber auch eine gründliche Ausbildung.

Qualität ist also nicht allein ein Kriterium des Geschmacks. Aber zunächst sollte man auch Geschmack haben, um ein Qualitätsurteil bilden zu können. Wer Tag für Tag Fastfood in sich hineinstopft, schmeckt im Grunde nichts mehr. Hauptsache es macht satt. Wer bewusst isst (hört), wird auch eher ein richtiges Urteil fällen können.

Gehabt Euch wohl
Euer Wilfried

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Lockwood schrieb am 17.06.2008:

Hallo Kretakatze, Hallo Wilfried,

Wilfried zieht das Fazit „Qualität ist also nicht allein ein Kriterium des Geschmacks.“

Dieses Ergebnis beruhigt mich; daraus folgt, dass eine gut verkaufte Platte nicht unbedingt eine qualitativ hochwertige Platte sein muss. Damit bin ich einverstanden.

Aber Euren Ausführungen entnehme ich, dass es kein objektives Kriterium für musikalische Qualität gibt. Einfach zu wertende Ingredienzien wie altes Fett oder frische Butter – um in Wilfrieds Bild zu bleiben – gibt es in der Musik nicht.

Die Beurteilung eines Liedes wird immer von den eigenen Vorlieben gefärbt. Das wiederum bedeutet, dass man nicht mit Fug und Recht behaupten kann, G.G. Anderson mache schlechte und Ian Anderson mache gute Musik.

Habe ich damit Eure Ausführungen korrekt zusammengefasst ?

Mein Ergebnis gefällt mir überhaupt nicht. Ich bitte um Widerspruch.

So long
Lockwood

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Kretakatze schrieb am 18.06.2008:

Hallo meine Lieben,

da habe ich ja nicht schlecht gestaunt – Wilfried entpuppt sich als Meisterkoch und Experte für kulinarische Genüsse. „Butter bei die Fische“ und frischen Pfeffer an den Salat, hier gibt’s jetzt kostenlose Tipps für den Hobby-Koch! Und dass es nicht nur schmeckt sondern auch gesund ist, ist das Merkmal für Qualität. Habe ich das so richtig verstanden?

Also meiner Meinung nach ist Essen dazu da, Bedürfnisse zu befriedigen, genauso wie im Übrigen auch Musik. Da sind zunächst die Grundbedürfnisse: Es sollte nahrhaft sein und sättigen. Dann die Sekundärbedürfnisse: Es sollte schmecken. Und zuletzt der Luxus: Es ist schön, wenn es auch noch gesund ist. Wobei der „Gesundheitsaspekt“ schwer zu messen ist (außer es handelt sich um Diät). Butter und Pfeffer sind vielleicht nicht unbedingt dazu angetan, den Gesundheitseffekt zu erhöhen. Fisch und Salat schon eher, aber auch nur, solange sie nicht zu einseitig genossen werden.

Schluss jetzt bevor ich beginne Euch die Strukturformeln essentieller Aminosäuren aufzuzeichnen (wer schon einmal einen Blick auf meine Homepage geworfen hat weiß, dass ich ein verhinderter Ernährungswissenschaftler bin). Die Frage ist: Was hat das alles mit Musik zu tun, bzw. wo sind die Parallelen. Ich muss zugeben, lieber Wilfried, dass mir das aus Deinen Ausführungen nicht klar geworden ist. Deine Schlussfolgerung „Qualität ist also nicht allein ein Kriterium des Geschmacks“ kann ich so nicht nachvollziehen. Woran genau erkennst Du nun Qualität in einer Musik? Was ist denn nun „Geschmack“, vor allem derjenige, „den man haben sollte“? Hat nicht in unseren Augen immer derjenige „Geschmack“, der die gleichen Vorlieben hat wie man selbst? Gibt es überhaupt etwas Subjektiveres als „Geschmack“?

Schon vor Jahren (ich glaube es waren sogar Jahrzehnte) hatte ich mir einmal Gedanken gemacht zu der Frage: Was ist eigentlich Qualität? Ich kam damals zu folgender Definition: Qualität ist ein Maßstab für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Oft wird der neutrale Ausdruck „Qualität“ gleichgesetzt mit dem Ausdruck „hohe Qualität“, d.h. ein hoher Grad der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse.

Ich würde heute, aus einer anderen Perspektive betrachtet, noch eins obendrauf setzen: „Gute Musik“ ist Musik, die dem Sinn des Lebens dient, oder simpler ausgedrückt, die die Welt besser macht.

Weltverbesserische Grüße
Kretakatze

PS: Simples Lied, das die Welt verbessert (keine Angst, das könnt Ihr ruhig anklicken, es kommt ausnahmsweise kein Clay Aiken darin vor)

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WilliZ schrieb am 18.06.2008:

Seid gegrüßt,

also den Hobbykoch mache ich hier nicht. „Was hat das alles mit Musik zu tun, bzw. wo sind die Parallelen“, fragt Kretakatze an. Nun es geht bei der Frage nach „guter Musik“ auch um Geschmack. Ursprünglich bezieht sich das Wort auf etwas, was eng mit der Nahrungsaufnahme zu tun hat. Vielleicht von daher die Parallele. Aber lassen wir die Currywurst in der Pfanne.

Natürlich ist Geschmack etwas sehr Subjektives. Das habe ich nie bestritten. Daneben gibt es aber begrifflich etwas, nämlich den „guten Geschmack“, den ich bei „Geschmack haben“ zugeordnet sehen wollte. Es geht also darum, einen „guten Geschmack zu haben“ (so wie wir eigentlich von guter Qualität sprechen müssen, wenn wir Qualität meinen). Natürlich haftet auch diesem Begriff etwas Subjektives an. So wie ich es sehe, hat „guter Geschmack“ etwas mit der bewussten Auseinandersetzung mit etwas zu tun, z.B. Musik hören. Ich setze mich damit auseinander, ich werde davon berührt. „Guter Geschmack“ wird entwickelt, indem über einen langen Zeitraum geschmeckt wird. Erst nach und nach werden mir viele Details bewusst, die ich als Kriterium für weiteres Schmecken benutzen kann. Und nur mit der Zeit kann ich (muss aber nicht) ein gewisses Gespür für Qualität entwickeln.

„Qualität ist ein Maßstab für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse“. Das deckt sich durchaus mit dem von mir eben Gesagtem. Sind meine Bedürfnisse nicht besonders hoch, dann gebe ich mich auch mit Einheitskost zufrieden. Je mehr ich aber meinen Geschmack kultiviere (bewusst schmecke), desto anspruchsvoller werde ich und damit mein Geschmack.

„Gute Musik“ ist Musik, die dem Sinn des Lebens dient, oder simpler ausgedrückt, die die Welt besser macht, schreibt Kretakatze. Dem stimme ich gern zu. Aber gut = Güte = Qualität definiert diese Aussage nur zum Teil (die Frage nach dem Sinn des Lebens lasse ich hier außer Acht, das Thema diskutieren wir ja an anderer Stelle).

Ich will mich hier nicht mit Musiktheorie beschäftigen (Harmonielehre usw.). Aber es gibt Lehrsätze, die sich über viele Jahrhunderte gebildet haben und die zu Kriterien auch über die Bestimmung, was gute Musik ist, entscheiden können. Auch dies ist nur ein Punkt, der uns hilft, gute von schlechter Musik zu trennen. Die Herkunft spielt natürlich auch eine Rolle. Arabische Musik werden wir als disharmonisches Gejaule empfinden (und umgekehrt).

Wenn wir versuchen, „gute Musik“ zu definieren, dann meinen wir sicherlich auch die Texte (z.B. eines Liedes). Ohne jetzt auch noch „gute Literatur“ definieren zu wollen, aber bestimmte Schlagertexte wird jedes Kind (natürlich nicht wirklich jedes) als bescheiden einstufen können. „Ich bin verliebt in die Liebe“, „Tränen sind nicht nur zum Weinen“ (um Herrn G.G. Anderson zu zitieren), „Der Colt steckt immer im Pyjama“. Das könnte ich endlich fortsetzen. Aber lasse ich das. Auch der andere Herrn Anderson hat sicherlich manch krauses Zeug getextet. Ich selbst schließe mich da gar nicht aus.

Um es kurz zu machen (ich erhebe in meinen Erläuterungen keinen Anspruch auf Vollständigkeit; es gibt auch noch etwas anderes, als hier seitenlang über die Güte von Musik zu diskutieren, z.B. gute Musik zu hören): Was ‚gut’ ist, hängt von vielen Faktoren ab. Daher bleibe ich bei meiner Aussage: Qualität ist nicht allein ein Kriterium des Geschmacks!

Zuletzt: Da wir alle gern unser bescheidenes Wissen bei Wikipedia erweitern, hier die Definition für Qualität gemäß DIN EN ISO 9000:2005, der gültigen Norm zum Qualitätsmanagement: Danach ist Qualität der „Grad, in dem ein Satz inhärenter Merkmale Anforderungen erfüllt“. Es geht also um Anforderungen, die bei jedem Menschen unterschiedlich sein können. Aber da wäre ich wieder bei dem, was ich oben schon geschrieben habe.

Ich wünsch Euch ’was
Euer Willi

P.S. Vielleicht lässt sich Lockwoods Frage am besten beantworten, wenn man sich selbst fragt, warum man das eine oder andere Lied für gut befindet (natürlich ist die Antwort eine rein subjektive).

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Lockwood schrieb am 19.06.2008:

Meine Lieben,

wenn ich Wilfrieds Ausführungen über die Bewertung musikalischer Qulität zusammenfasse, besteht diese Bewertung in der Hauptsache aus zwei Faktoren:

1. persönlicher Geschmack
2. objektive Kriterien aus der Musiktheorie (Harmonielehre etc.)

Das bedeutet: Wenn Musikwissenschaftler mit akademischen Methoden ein Lied analysieren und für schlecht befinden, so kann es mir immer noch gefallen. Es kann Freude in meinem Kopf auslösen und damit hat dieses Lied seine Daseinsberechtigung.

Ich gestehe an dieser Stelle, dass mir der subjektive Eindruck eines Liedes wichtiger ist als das Ergebnis wissenschaftlicher Untersuchungen.

Es wäre interessant zu erfahren, wieviel gute Musik es auf diesem Globus gibt, die ich einfach noch nicht gehört habe, weil sie in den Medien nicht so repräsentiert wird wie z.B. aktuelle Popmusik.

Vielleicht wäre ich ein Fan von Brahms oder Mahler, wenn ich mich mit ihrer Musik auseinander setzen würde.

In mir klingt ein Lied
Lockwood

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Alex schrieb am 19.06.2008:

Hallo Leute,

Ich stimme mit Wilfried überein. Ein Lied muss schon Kunst in sich haben (Harmonie, Struktur, eine nette Melodie…), aber es kann erst dann gut sein, wenn es etwas im Inneren bewegt. Da spielt die Leidenschaft des Künstlers eine wichtige Rolle. Nicht nur die Virtuosität mit der das Stück interpretiert wird.

„Yesterday“, zum Beispiel, ist ein schönes Lied, aber es gibt eben Musiker, die sich (und hauptsätzlich uns, dem Publikum) die Cover-Version sparen könnten.

Ein interessantes Beispiel sehe ich in diesem Sinne bei dem Lied „All your love“ (W. Dixon & O. Rush), das schon beide, Eric Clapton (damals noch mit John Mayall) und Gary Moore oft gespielt haben. Beide sind zwar technisch außerordentlich gut, allerdings fehlt es bei der Fassung von Herrn Moore – meiner Meinung nach – an Seele.

Noch ein wichtiger Faktor ist nach meiner Meinung, wie oft ein Lied gespielt wird. Manchmal braucht es an Zeit, bis man ein Lied mag. Ab und zu findet man dies oder jenes Lied nichts Besonderes, aber wenn man es noch ein Paar mal hört, gefällt es einem allmählich (z.B. klassische Werke). Oder auch umgekehrt, wenn man satt ist andauernd dasselbe Lied im Radio zu hören (z.B. einfache Pop-Lieder).

Liebe Grüsse an Wilfried, Kretakatze und Lockwood!
-Alex-

Kretakatzes Top 12 (Musiker/Bands) & Mark Knopfer live

Hallo Wilfried, Hallo Lockwood,
und jetzt wohl auch Hallo Alex,

Wilfried hatte uns schon vor längerer Zeit Hausaufgaben aufgegeben – jeder sollte seine 10 Lieblingstitel vorstellen – und ich bin nun wohl die Einzige, die sie noch nicht abgeliefert hat. Wie ich allerdings schon angedeutet hatte – bei 10 Titeln wird es kaum bleiben. Sehen wir mal wieviele am Ende herauskommen werden.

Da fange ich am besten mit Cat Stevens an. Seine Musik hat meine Jugend geprägt und mit seiner „Philosophie“ hat er mein Denken bis zum heutigen Tag vielleicht mehr beeinflusst als irgendein Anderer. Einen Lieblingstitel zu bestimmen ist unmöglich. In den 70ern hätte ich wohl Moonshadow an die erste Stelle gestellt, heute würde ich vielleicht eher zu The Wind tendieren. Aber z.B. auch Changes IV und Sitting sind Songs, denen ein erster Platz gebühren würde. Und es gibt da noch so viele andere…

Auch bei Al Stewart ist es für mich unmöglich einen Lieblingssong zu bestimmen, bestenfalls würde ich eine Top-10-Liste zusammenbekommen. Deshalb hier nur als Beispiel der Titel Life In Dark Water von seinem 1977er Album „Time Passages“, der wohl auf diese Liste kommen würde. Was mir allerdings heute im Vergleich zu den 70ern immer deutlicher wird – auch dieser Song müsste ganz anders gesungen werden, hier könnten eine andere Stimme und ein rockiger Gesangsstil noch Wunder wirken.

Von Uriah Heep habe ich 3 „favorites“, und ich werde mir erlauben sie alle zu verlinken: July Morning, The Wizard und Stealing. Und da gibt es noch zahlreiche andere Top-Titel, in jüngster Zeit ist Sunrise in die Führungsgruppe aufgestiegen (wenn ich auch den Sänger optisch furchtbar finde – da fühle ich mich an einen Ausspruch erinnert, den Simon Cowell wohl erstmals bei Clay Aiken zur Anwendung brachte: „I prefer you with my eyes shut!“).

Warum sind eigentlich Deep Purple fast in Vergessenheit geraten. Anfang der 70er waren sie die Größten. Nachdem CCR den Bach runter gegangen waren, wurden sie von den Bravo-Lesern zur beliebstesten Band gekürt, das muss wohl 1972 gewesen sein. Hier fällt mir die Wahl des Lieblingstitels nicht schwer: Child In Time.

Dann komme natürlich auch ich nicht an Led Zeppelin vorbei: Stairway To Heaven ist für mich unverzichtbar.

Und auch Janis Joplin ist für mich noch nicht vergessen – Piece Of My Heart hat auch in meinem Herzen seinen Platz.

Creedence Clearwater Revival dürfen nicht fehlen. Obwohl der Titel nicht original von CCR stammt sondern ein Cover ist, würde ich doch I Heard It Through The Grapevine an die erste Stelle setzen. In diesem Zusammenhang darf ich sicher auch einmal wieder John Fogerty erwähnen (den ich übrigens erst am 6.Juni in Stuttgart gesehen und gehört habe – dazu vielleicht noch ein andermal mehr). Seit ein paar Monaten habe ich von ihm einen neuen Lieblingssong (der eigentlich schon aus dem Jahre 1976 stammt – ist damals völlig an mir vorbeigegangen…): You’ve Got The Magic (leider miserable Sound-Qualität).

Auch Elton John gehört zu den Musikern, von denen ich ein paar Platten besitze. Da gibt es eine ganze Reihe Titel, die ich hier nennen könnte – ich entscheide mich jetzt einfach einmal für Rocket Man.

Zwei Klassiker aus dem Jahre 1967 höre ich immer wieder gerne: Procol Harum – A Whiter Shade Of Pale (Version, an der auch ein uns bekannter Flötist beteiligt ist) und The Moody Blues – Nights In White Satin (auch hier betätigt sich ein Flötist – da war unser Meister wohl doch nicht der „Allererste“…).

Nun wird es Zeit, dass ich zu den Dire Straits komme. Hier fällt mir die Wahl des Lieblingstitels wieder wirklich schwer. Nach Abwägen aller für und wider habe ich mich für Brothers In Arms entschieden.

Last but not Least – Jethro Tull. Unmöglich, hier einen einzelnen Song herauszugreifen. Da es die Songs From The Wood waren, die mich zu Jethro Tull gebracht haben, darf dieser Titel in der Liste nicht fehlen. Aber auch Locomotive Breath reisst mich noch heute aus dem Sessel (Danke, lieber Wilfried, für dieses süße Video, das inzwischen ein Plätzchen in meinen Favorites gefunden hat). Auch die weiße Ente (One White Duck) hat einen Dauerplatz in meinem Herzen. Genauso wie Velvet Green, The Whistler, Weathercock, Moths, Black Satin Dancer, Slipstream … Ich könnte noch eine Weile so weitermachen. Aber ich denke das reicht.

Jetzt sind es doch nicht so sehr viel mehr als 10 Songs oder zumindest nicht viel mehr als 10 Musiker geworden – 12 um es genau zu nehmen. Ich denke das ist genug Stoff. Ich habe mich durch Eure Hitlisten auch noch nicht vollständig durchgearbeitet, von Lockwood’s Liste fehlen mir noch ein paar Songs. Dann werde ich auch noch einen Kommentar dazu abliefern. Aber lassen wir es erst einmal gut sein für heute.

Hochmusikalische Grüße von Eurer
Kretakatze

PS.: Heute fällt mein Nachtrag etwas umfangreicher aus, denn ich möchte Euch doch einen kurzen Stimmungsbericht vom Mark Knopfler Konzert am 07.05.2008 in Stuttgart nicht vorenthalten:

Der Abend war für mich leider eher eine Enttäuschung. Ich hatte Mark Knopfler das erste und letzte Mal 1979 in irgendeiner alten Fabrikhalle in Sindelfingen gesehen, damals natürlich noch als Dire Straits – Stehplätze, proppenvoll und Mordstimmung. Das war diesmal alles ein bißchen anders.

Das lag weniger an Mark Knopfler, als an dem „Drumherum“. Da ist erst einmal die unübersichtliche, schlecht ausgeschilderte Halle. Ich irrte treppauf-treppab durch zahlreiche Gänge, bis ich endlich meinen Block und Platz gefunden hatte, und da schien ich nicht die Einzige zu sein. Dazu erklang eine grauenhafte, jazzig-primitivrockige Vormusik. Trotzdem wirkte es verfrüht als 10 nach 8 Uhr Mr. Knopfler auf der Bühne erschien, denn noch immer suchte zahlreiches desorientiertes Publikum verzweifelt nach den richtigen Sitzen. Und so musste auch ich zu den Klängen von Why Aye Man – das war bereits der zweite Song – mit irgendwelchen Leuten darüber diskutieren, wer auf diesem Platz sitzen darf. So etwas nervt!

Ich saß schräg neben der Bühne in ca. 10 m Abstand vom Bühnenrand – das ist für eine Halle mit 100 m Länge nicht viel. Trotzdem hatte ich das Gefühl zu weit vom Geschehen entfernt zu sein, und der Blick auf das unruhige Publikum, in dem ständig irgendwelche Leute hin- und herliefen, sorgte für weitere Ablenkung. Auf eine Videoleinwand, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und mehr Nähe zu den Akteuren auf der Bühne hätte vermitteln können, war leider verzichtet worden.

Obwohl ich praktisch schräg unter riesigen Lautsprecherboxen saß, hatte ich von Anfang an das Gefühl der Sound ist zu leise, und ich gehöre wirklich nicht zu denen, die sich beim Musikgenuss gerne eine Gehirnerschütterung holen. Mark Knopfler spielte zahlreiche ruhigere, langsame (ich möchte fast sagen „langweilige“) Titel, die ich nicht kannte, vermutlich von seinem letzten Album, und bei manchen der akustischen Intrumentalpassagen musste ich schon die Ohren spitzen um noch etwas mitzubekommen. Wenn nur Einer der um die 10.000 Zuschauer meinte, er muss jetzt pfeifen oder kreischen, dann war das teilweise lauter als die Musik.

Das heißt nicht, dass es nicht auch rockige Passagen mit sattem Sound gegeben hätte, wie etwa bei Sultans Of Swing, einem Highlight des Abends. Aber wenn Mr. Knopfler so richtig in die Saiten seiner Stratocaster griff, dann klang der Ton für meine Begriffe wieder zu schrill. Der weiche, singende Klang seiner Gitarre, den ich so liebe, kam an meinem Sitzplatz jedenfalls nicht wirklich so an.

Und so kam es, dass ich es kaum glauben konnte, als Herr Knopfler nach Telegraph Road die Bühne verließ – war der Auftritt etwa schon zu Ende? Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass bereits mehr als anderthalb Stunden vergangen waren, ich hatte das Gefühl das Konzert hat noch garnicht richtig begonnen – jedenfalls war noch keine entsprechende Stimmung bei mir aufgekommen. Meine Lieblingsstücke aus alten Zeiten – Tunnel Of Love, Once Upon A Time In The West, Ride Across The River, Water Of Love (um nur ein paar zu nennen) – hatte ich nicht zu hören bekommen, auch Walk Of Life und Money For Nothing waren nicht erklungen.

Die Zugaben konnten den insgesamt enttäuschenden Gesamteindruck ein wenig mildern. Inzwischen war das Publikum zum Bühnenrand geströmt, unten im Saal stand nun alles, und zu den Klängen von Brothers In Arms schien die steril wirkende Stahlträger-Halle doch noch lebendig zu werden. Die Jungs auf der Bühne ließen sich auch nicht lumpen, hängten an die ersten zwei Zugaben auf Publikumswunsch noch zwei weitere dran und spielten gutgelaunt und flott noch einmal über 20 Minuten. Hätten sie nur mal schon eine Stunde früher damit begonnen…

Fazit: Mark Knopfler und seine Band bekommen trotz der für meinen Geschmack nicht sehr geglückten Songauswahl noch ein „gut“, für Halle, Organisation, Technik und Sound gibt’s „mangelhaft“. Ich werde versuchen diese Location in Zukunft zu meiden.

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Hierzu schrieb Lockwood am 18.06.2008:

Meine lieben Freunde der Vielfalt,
zunächst vielen Dank an Kretakatze für ihre Favoritenliste !

Diese Liste kommt sehr rockig daher; das ist nicht unbedingt das, was ich vom schönen Geschlecht erwartet hätte.

Cat Stevens und Al Stewart hier zu finden stellt keine Überraschung dar. Wohl aber Namen wie Uriah Heep, Deep Purple und Led Zeppelin. Über Kretakatzes Faible für CCR und Jethro Tull war ich bereits informiert.

Ganz im Ernst: Bisher war ich der Meinung, dass sich die Fans der Rockbands vorwiegend aus Männern rekrutieren.

Ich habe heute dazu gelernt; anscheinend denke ich zu sehr in Schubladen.
Also, liebe Kretakatze, noch einmal vielen Dank für die Liste !

Rock on !
Lockwood

Warum ist eigentlich ETWAS und warum ist nicht NICHTS?

Hallo Wilfried, Hallo Lockwood,
und Hallo an Alle, die es sonst noch interessiert,

auf besonderen Wunsch von Lockwood werde ich mich heute bemühen Euch die bisher noch unveröffentlichten philosphischen Theorien einer gewissen Kretakatze näherzubringen. Sie wurden von ihr an einem schönen Sonntagmorgen des Jahres 1971 während eines Aufenthaltes in der Badewanne entwickelt und beschäftigen sich mit dem Thema „Was ist der Sinn des Lebens?“.

Am Anfang zahlreicher philosophischer Betrachtungen steht die Frage: „Warum ist eigentlich ETWAS und warum ist nicht NICHTS?“. Diese Frage ist sinnlos, denn es ist eine Tatsache, dass ETWAS ist, und ich würde davon ausgehen, dass dies unvermeidlich ist. Die Existenz von ETWAS hat unter anderem zur Folge, dass es einen Sinn geben kann. Nur wenn NICHTS ist, gibt es mit Sicherheit auch keinen Sinn. Soweit zum grundlegenden Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen.

Dieses ETWAS besteht nach unserem heutigen Kenntnisstand aus Energie und Materie, die nach der allgemein bekannten Formel e = m . c² ineinander überführt werden können. Dazu benötigt man allerdings noch eine dritte Komponente, die Zeit. Zeit ermöglicht Veränderung. Es gibt Vermutungen, nach denen es auch noch etwas geben könnte, das „Gott“ genannt wird, und das denkt, plant und steuert, oder zumindest beeinflusst, jenseits der rein physikalischen Gesetzmäßigkeiten von Materie, Energie und Zeit. Für derartige Theorien gibt es allerdings keinerlei Beweise.

Trotzdem kann die Existenz von „Gott“ nicht ausgeschlossen werden. Sollte es sich bei „Gott“ um etwas handeln, das überall zu aller Zeit in gleicher Form und Intensität existiert, dann ist es nicht wahrnehmbar und nicht messbar, denn jede Art von Wahrnehmung beruht auf dem Erkennen von Unterschieden. Darüber hinaus gibt es Indizien, die auf eine Existenz von „Gott“ hindeuten. Immer wieder gibt es Ereignisse bzw. Folgen von Ereignissen, die nicht auf reinem Zufall zu beruhen scheinen, manches wirkt „geplant“ oder „koordiniert“. Letztendlich ist die Existenz von „Gott“ aber eine reine Glaubensfrage. Für die Beantwortung der Frage nach dem Sinn des Lebens ist die Klärung der Frage nach der Existenz Gottes auch nicht unbedingt erforderlich.

Kommen wir zurück zum real existierenden ETWAS (ggf. einschließlich Gott). Wie wir täglich erleben, ist es voller Fehler, Mängel und Schwächen – es ist im Ungleichgewicht. Jedes Ungleichgewicht hat ein natürliches Bestreben, sich ins Gleichgewicht zu bringen. Im Verlauf dieser Entwicklung, auch Evolution genannt, entstand eine selbstgesteuerte Funktionseinheit aus Materie und Energie, die man mit Leben bezeichnet. Leben ermöglicht die mehr oder minder zielgerichtete Veränderung von ETWAS, denn es ist (zumindest in seinen höheren Entwicklungsformen) ausgestattet mit Bewußtsein, Erinnerungsvermögen und Willen. Das sind die Voraussetzungen für zielorientiertes Entscheiden und Handeln, und genau diese Eigenschaften muss „Gott“ auch haben, falls ES existiert. Das legt die Vermutung nahe, dass Leben nicht nur aus Materie und Energie sondern zusätzlich aus Gott besteht. Und alles, aus dem es besteht, das kann es verändern und von dem kann es auch verändert werden.

Damit kommen wir jetzt allmählich zum Sinn. Der besteht darin, das Gleichgewicht von ETWAS herzustellen, oder anders ausgedrückt, sich selbst und die Welt zu verbessern und der Vollkommenheit näher zu bringen. Sollte diese Vollkommenheit eines Tages tatsächlich erreicht werden, dann wird alles Leben schlagartig überflüssig, denn Leben heißt Veränderung, und jede Veränderung könnte dann nur wieder eine Verschlechterung darstellen. Aber ich denke, meine lieben Freunde, dass wir uns keine Sorgen zu machen brauchen, dass dieses Ereignis zu unseren Lebzeiten noch eintritt.

Nun muss ich zugeben, dass diese Sinndeutung etwas dürftig ist, wenn man davon ausgeht, dass „Gott“ nicht existiert. Materie und Energie würden im Laufe der Zeit vermutlich auch allein aufgrund physikalischer Gesetzmäßigkeiten in einen stabilen, unveränderlichen, wertneutralen Gleichgewichtszustand verfallen. Das einzige wirklich schrecklich Unvollkommene auf dieser Welt ist Gott, und Leben ist der einzige Weg, auf dem man Gott verändern kann.

Tja, so sehe ich das, es ist unser Job Gott zu verbessern, wobei man das auch schon erreicht, indem man sich selbst verbessert. Aber allein das erscheint mir schon fast unmöglich. Und damit will ich nicht sagen, dass es an mir nichts zu verbessern gäbe…

Nun hoffe ich, ich habe Euch nicht zu sehr ins Grübeln gebracht.

Sinnreiche Grüße
Kretakatze

PS.: Meine heutigen Ausführungen waren hochgeistig und tiefschürfend und wurden von keinem einzigen Video illustriert. Das kann ich so nicht stehen lassen. Deshalb gibt es hier im Nachtrag – passend zum Thema und völlig kommentarlos – doch noch ein wenig Musik: Tell Me Why.

11.06.2008

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Hallo alle zusammen,

Kretakatze ist bekanntlich immer für eine Überraschung gut. Ihre philosophischen Theorien zeugen von einer Einfachheit, die geradezu genial sind. Zudem bezieht sie ein heute allgemein gültiges Weltbild mit ein. Hut ab, Kretakatze!

Natürlich tun sich beim Lesen Fragen auf und der (logische) Schluss, dass es unser Job wäre, „Gott zu verbessern“, weil Gott „das einzige wirklich schrecklich Unvollkommene auf dieser Welt ist“, klingt zunächst äußerst anmaßend. Aber gegen diese Argumentation muss man erst etwas Besseres finden. Also ich muss das erst einmal ruhig auf mich wirken lassen, was Kretakatze da geschrieben hat.

Hier nur einige erste Eindrücke von mir: Im Stile von Siegmund Freud (ES, ICH und ÜBERICH) gelingt es Kretakatze, komplexe Gefüge auf wenige Begriffe zu reduzieren (das ETWAS und in einer Neudefinition Gott als das ES). Das ETWAS bedarf natürlich einer genauen Beschreibung, soweit das überhaupt möglich ist: Ist ETWAS nur etwas mehr als NICHTS oder ist ETWAS ALLES?

Warum ist eigentlich ETWAS und warum ist nicht NICHTS?

Du mutmaßt, „dass Leben nicht nur aus Materie und Energie sondern zusätzlich aus Gott besteht“ (wenn es denn Gott gibt). Die Zeit sollte nicht vergessen werden. Es gibt bekanntlich Materie und Energie außerhalb des Lebens (ich denke da an den berühmten Stein, der allen Philosophen irgendwann einmal auf den Fuß gefallen sein muss). Wie sieht es mit Gott aus? Besteht er als Teil des Lebens oder besteht er auch außerhalb dessen (so wie Materie und Energie außerdem des Lebens bestehen können, z.B. als Stein)? Vermutlich ja …Aus den Aussagen von Kretakatze schließe ich, dass Gott etwas anderes ist als Materie und Energie (und Zeit). Allerdings hat Gott Eigenschaft, die auch beim Leben zu finden sind (Bewusstsein, Erinnerungsvermögen und Willen). Hat evtl. das Leben diese Eigenschaften, weil Gott ein Teil des Lebens ist (und damit die Eigenschaften göttlich sind), oder hat das Leben diese Eigenschaften auch ohne Gott?

Zuletzt noch eine Frage: Wenn wir es geschafft haben, Gott zu optimieren, also das ETWAS einschließlich ES (Gott) ins völlige Gleichgewicht zu bringen, würde dann an diesem „Tag der Vollkommenheit“ nicht nur das Leben, sondern auch ES überflüssig werden? Und was wäre dann am Tag darauf: NICHTS?

Ich sehe, das wird so langsam ein Philosophie-Blog (Anderson ade?!). Aber das hat ja auch ETWAS, oder?

Ich bin gespannt, was Lockwood zu Kretakatzes Theorien eingefallen ist.

Bis später
Wilfried

12.06.2008

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Liebe Freunde der Philosophie,

wenn drei Köpfe wie wir uns daran machen, den Sinn des Lebens zu entschlüsseln, dann steht er kurz vor seiner Entdeckung. Soviel ist mir bei Euren ersten Schreiben zu diesem Thema schon klar geworden.

Wenn ich Kretakatze richtig verstanden habe, ist das Leben deshalb erschaffen worden (hier wird ein Schöpferwesen vorausgesetzt !), um die Schöpfung zu vervollkommnen. Das leuchtet mir aber nicht ein, denn warum hat Gott (bleiben wir der Einfachheit halber bei dieser Bezeichnung für das Schöpferwesen) die Schöpfung nicht direkt perfekt erschaffen ? Wieso braucht er dazu solch primitive Handlanger wie Viren oder Menschen ? Auch habe ich ein Problem mit der Kausalitätenkette: Gott schafft eine suboptimale Schöpfung. Warum suboptimal ? Konnte er es nicht besser ? Ist ein solcher Gott jetzt in der Lage, etwas zu erschaffen, das diese unvollkommene Schöpfung optimiert ? Die Frage nach Gottes Allmacht hat schon Einstein beschäftigt. Spitzbübig, wie er war, formulierte er folgende Frage: „Kann Gott einen Stein erschaffen, der so schwer ist, dass er ihn selber nicht heben kann ?“ Die Antwort darauf bringt den Christenmenschen ins Schwitzen; kann er einen solchen Stein erschaffen, so kann er ihn nicht heben. Kann er ihn nicht erschaffen, ist er deshalb nicht allmächtig.

Ich freue mich aufrichtig für Kretakatze, dass sie den Sinn des Daseins für sich gefunden hat. Das ist eine sehr wertvolle Erfahrung. Leider kann ich mir ihre Antwort nicht zu eigen machen. Meine Problemstellung ist eine Stufe höher angesiedelt: Warum gibt es überhaupt eine Schöpfung ? Wer hat etwas von unserem Planeten, unserer Galaxie, unserer Milchstraße ? Wer gibt sich eine solche Mühe damit und warum ? Solange mir diese Frage nicht beantwortet wird, erschließt sich mir der Sinn des Lebens nicht.

Sollte der gesamte Kosmos durch puren „Zufall“ entstanden sein (eine Theorie, die u.a. von hochintelligenten Menschen vertreten wird), macht das einen Lebenssinn sehr unwahrscheinlich. Leben und die ganze Evolution als Zufallsprodukt, damit können wir uns die ganzen Vorstellungen vom Jenseits abschminken.

Die entgegengesetzte Theorie – die Vorstellung von einem Schöpferwesen – wird nicht minder von hochintelligenten Menschen unterstützt. Und das nicht nur von Gläubigen oder dem Klerus. Es sind die Physiker, die erkannt haben, dass das herrschende Gleichgewicht im Universum eine derart komplexe und sensible Angelegenheit ist, dass es unmöglich auf Zufällen basieren kann. Hier sei eindeutig ein „intelligent Designer“ am Werk gewesen.

Ob ihr Recht habt oder nicht, das sagt euch jetzt das Licht. Schön wär’s. Möglicherweise wird die Menschheit nicht lange genug existieren, um diese Frage zu beantworten.

Ich halte es mit den Agnostikern: Weder die Existenz noch die Nichtexistenz Gottes sind zu beweisen.

Vielleicht mache ich einen Denkfehler, aber der Sinn des Lebens ist für mich untrennbar mit einer göttlichen Existenz verbunden. Ohne die Aussicht auf einen höheren Plan und ein jenseitiges Dasein ist das irdische Leben für mich nur ein Gärungsprozess zwischen Geburt und Tod.

Ich erwarte von niemandem, dass er das Unmögliche möglich macht und eine göttliche Existenz oder Nichtexistenz beweist. Aber ich bin dankbar für Hinweise in die eine oder andere Richtung. Welche Hinweise habt Ihr gefunden ?

Die Beantwortung dieser wohl schwersten aller Fragen bietet (so sie denn möglich wäre) lediglich eine Teillösung. Hätten wir Gottes Existenz bewiesen, wüssten wir immer noch nicht, warum er seine Geschöpfe in dieses Jammertal setzt. Anders als in der christlichen Lehrmeinung ist es in meinen Augen kein Zeichen von großer Liebe, wenn der Schöpfer seine Geschöpfe Krankheiten, Schmerz, Krieg und allen erdenklichen Formen von Leid aussetzt.

Eines machen diese Zeilen ganz deutlich: Den Philosophen und Wissenschaftlern wird nicht so bald der Stoff ausgehen.

Gott mit Euch
Lockwood

12.06.2008

Kumpelschaften (Noddy & Ian)

Liebe Freunde,

zum Thema Musiker muss ich noch einen Gedanken loswerden, sonst wären meine bisherigen Ausführungen nicht komplett.

Das Schwergewicht unserer Betrachtungen der letzten Monate und Jahre lag eindeutig bei Mr. Ian Anderson und seinem Schaffen. Und das völlig zu Recht; was seine Kompositionen, seine Bühnenshows betrifft, ist er für mich einfach der Größte. Von allen Musikern, die ich in den letzten 30 Jahren wahrgenommen habe, ist er der Beste. Punkt.

Der Beste. Aber nicht der Sympathischste. Er ist zwar kein unsympathischer Mensch, aber ein König der Herzen ist er für mich nie gewesen. Dazu wirkt er oft zu unnahbar, blasiert und arrogant. Innerhalb des Rock-Circus ist er etwas Besseres und dafür hält er sich auch. Mr. Anderson ist kein Kumpeltyp.

Es gibt Kumpeltypen in der Rockwelt. Oder zumindest solche, die dieses Image pflegen. Die Rede ist von Noddy Holder von Slade, wir kennen ihn alle. Ich will an dieser Stelle gar nicht auf sein musikalisches Wirken eingehen, so viel Aufwand möchte ich im Moment nicht betreiben. Die Musik von Slade ist für mich okay, manche Songs sind nett, es sind einige Ohrwürmer dabei.

Mehr möchte ich dazu im Moment nicht sagen.

In diesen Zeilen soll nur die Rede davon sein, wie Mr. Holder auf mich wirkt. Nämlich bodenständig, handfest, britisch, kameradschaftlich, ein Typ zum Pferdestehlen. Lt. Wikipedia ist Slade nach den Beatles die erfolgreichste englische Band. Trotzdem habe ich von Frontmann Holder nie irgendwelche beifallheischende oder selbstgefällige Kommentare gehört. Die Mannen von Slade wurden nie müde, auf ihre Herkunft aus der Arbeiterklasse und aus einer Malocherstadt hinzuweisen. Während andere Größen der Rockmusik in ihren Texten ihre Bildung und literarische Brillanz unterstreichen, bringen Slade in ihren Titeln oft ihren heimatlichen Dialekt ins Spiel („Coz I Luv You“). Dieses Selbstverständnis manifestierte sich auch – von einigen Auswüchsen während des Glitter-Rocks abgesehen – im Bühnenoutfit des Mr. Holder. Und damit wirkt er absolut glaubwürdig: Niemand trägt die Hosenträger mit soviel Stolz wie er, bei niemand anderem scheint die Ballonmütze derart mit dem Schädel verwachsen wie bei ihm. Und seit den 70er Jahren trägt Mr. Holder seine Haare, wie man es von einem Engländer erwartet: rotblonde Mähne, gigantische Koteletten. Als stolzer Brite, der er ist, gehörte auch ein Outfit aus der Dickens-Aera zu seinem Fundus. Nie sah ich jemanden, der einen Zylinder mit mehr Würde tragen kann als Mr. Holder (na ja, vielleicht Abraham Lincoln, aber der spielt hier nicht mit).

Noddy Holder ist nicht unbedingt das, was ich einen schönen Mann nennen würde. Sein Gesicht, seine Augen liegen irgendwo zwischen Michael Caine und Marty Feldman. Aber stets strahlt dieses Gesicht Offenheit und Freude aus. Ich habe mir etliche Sladevideos auf youtube angesehen; es ist kaum eines dabei, wo Mr. Holder nicht lächelt.

Er ist der Kumpeltyp, der dem Rockbusiness etwas von seiner Verbissenheit genommen hat. Ich kann mir nicht helfen, ich mag ihn.

So, das musste gesagt werden.

Gehabt Euch wohl und auf bald
Lockwood

07.06.2008

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Hi Ihr Lieben,

Lockwood hat uns mit Noddy Holder beglückt. Ich muss gestehen, dass ich Slade zwar aus alten TV-Sendungen her kenne, aber musikalisch nicht allzu berauschend fand. Darum geht es Lockwood ja auch nicht. Es geht um das Kumpelhafte, das typisch Britische des Mannes, der sich als musikalischer Vertreter der Arbeiterklasse ausweist. Zum ziemlich stark ausgeprägten Klassenbewusstsein der Briten haben wir uns ja bereits an anderen Stellen unterhalten. Die Arbeiterklasse (lower class) findet in Noddy Holder gewissermaßen ein Aushängeschild: optisch durch seine Kleidung, sprachlich durch seinen Akzent und auch musikalisch. Irgendwie erinnere ich mich auch an Reggae-Einflüsse der Musik von Slade (und eine Zeitlang kleideten sich die Slade-Mannen ja als Skinheads).

Ich stimme Lockwood zu: Mr. Holder wirkt sehr sympathisch und ist es mit Sicherheit auch. Ein Typ mit dem man durchaus einmal ein Bierchen zusammen trinken gehen könnte. Und da ich mich dieser Tage durchaus auch über Fußball unterhalte, hätten wir ein für einen Engländer wohl weniger erfreuliches Thema, da England sich ja nicht für die EM 2008 qualifiziert hat.

Wenn ich das richtig sehe, so waren Slade in den USA nicht allzu erfolgreich. In Deutschland allerdings kannte man sie damals ganz gut. Vielleicht, weil viele Deutsche ein Faible für alles Britische haben. So ist ja auch Jethro Tull mit Herrn Anderson gerade in Deutschland immer sehr beliebt gewesen.

Nun Herrn Anderson haben wir tiefenpsychologisch bereits in seine Einzelteile zerlegt. Ein Freund (oder Arbeitskollege oder beides) meines Bruders hat in frühen Jahren während einer Deutschland-Tournee für Jethro Tull als Roadie gearbeitet. Dieser bezeichnete Herrn Anderson als arroganten „Kotzbrocken“. Muss also schon etwas dran sein, wenn viele den Flötenkobold nicht allzu sehr mögen.

Nun kann man das sehen wie man will. Sicherlich ist Ian Anderson kein kumpelhafter Typ. Aber er hat wenigstens keinen Hehl daraus gemacht, eine Abneigung dagegen zu haben, sich von jedem die Schulter klopfen zu lassen. Ich bin auch eher unnahbar. Bin ich deshalb arrogant? Kommt eben auf die Sichtweite drauf an.

So wie ich mir vorstellen könnte, mit Mr. Holder ein Bier zu trinken, könnte es auch sein, mit Mr. Anderson etwas Frischgezapftes zu mir zu nehmen. Über Fußball würden wir uns aber sicherlich nicht unterhalten wollen.

Man hört (bzw. liest) weiterhin voneinander.

Viele Grüße und bis bald
Euer Wilfried

12.06.2008

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Seid gegrüßt, Kretakatze und Wilfried,

nachdem ich Wilfrieds Antwort auf mein Empfehlungsschreiben für Mr. Holder gelesen hatte, war ich darüber erfreut, dass er mit mir einer Meinung ist.

Wirklich ein netter Kerl, dieser Noddy.

Aber in meine Freude mischte sich bald ein Wermutstropfen. Es tat sich nämlich eine Frage auf: Warum ist uns Mr. Holder sympathisch ? Wegen seiner plakativen Herkunft aus der Arbeiterklasse ? Seinem Akzent ? Seinem kumpelhaften Auftreten ? Diese Attribute treffen auch alle auf Wolfgang Petry zu. Und der ist mir überhaupt nicht sympathisch. Freiwillige Hausaufgabe: Was unterscheidet Noddy Holder von Wolfgang Petry ?

Ist doch klasse, wenn man die eigenen Ansichten in Frage stellt. Das bringt uns menschlich rasant weiter.

Tschüss
Lockwood

12.06.2008

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Hallo Leute,

über Herrn Holder muss ich mich noch erkundigen, um mir eine Meinung bilden zu können. Im Übrigen stimme ich mit Lockwood absolut überein: der Petry ist furchtbar. Musikalisch grauenvoll, und vom Charakter her kann ich ihn auch nicht leiden. Die längst verfärbten und zerrupften Armbänder die er Jahrzehnte lang trägt… Pfui! Das sieht aus, als würde er nicht gerne unter die Dusche stehen.

Viele Grüsse!
Alex

13.06.2008

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Meine lieben Freunde,

wieviele Mails verschickt Ihr eigentlich so am Tag? Heute sind 7 Stück bei mir eingetrudelt, da komme ich doch nicht mehr mit!

Jetzt nur kurz zu Noddy Holder von Slade, den uns Lockwood vorgestellt hatte. Ich muss zugeben, dass ich Slade im Laufe der Jahrzehnte völlig verdrängt hatte, mir war kein Name und kein Gesicht mehr in Erinnerung. Titel wie „Mama, Weer All Crazy Now“ und „Coz I Luv You“ kamen mir allerdings durchaus noch bekannt vor.

Tatsächlich hat mich Mr. Holder vom Äußeren her sofort an Mr. Anderson erinnert, für mich besteht da eine frappierende Ähnlichkeit. Unbelastet von jeglicher weitergehenden Kenntnis seiner Person habe ich ihn wohl auch deshalb intuitiv in die gleiche Sympathie-Klasse eingeordnet. Mr. Anderson ist mir ja auch nicht unsympathisch. In seinen jungen Jahren so ungefähr bis Mitte der 80er ist mir seine – wenn auch immer unterschwellig vorhandene – Arroganz nie negativ aufgefallen. Die eine oder andere leicht größenwahnsinnige Äußerung seinerseits aus dieser Zeit kann man problemlos in die Rubrik „jugendlicher Überschwang“ einordnen. Und ein strahlendes Lächeln hatte er bei seinen Auftritten auch immer auf den Lippen. Zu Wolfgang Petry kann ich dagegen nichts sagen, ich kenne ihn nur dem Namen nach.

Eine Bemerkung möchte ich aber doch noch loswerden zu Lockwood’s Ausdruck von der „erfolgreichsten Band“. Wie wird eigentlich Erfolg gemessen, um ihn vergleichbar zu machen? Wie rechnet man verkaufte Singles und Alben, Chartplatzierungen in den verschiedensten Ländern, verkaufte Konzert-Tickets, Anzahl Fernseh- und Filmauftritte, gewonnene Preise oder Titel etc. gegeneinander auf, um einen „Erfolgsindex“ zu ermitteln? Was genau ist überhaupt Erfolg? Ich denke ein derart schwammiger Titel – vermutlich von einem Fan erfunden – hat keinerlei Aussagekraft.

Soviel für heute – zu den anderen 6 Mails dann ein andermal…

Liebe Grüße
Kretakatze

13.06.2008

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Hallo erstmal,

die Hitliste, auf deren 2. Stelle Slade zu finden ist, basiert wohl auf Chartplatzierungen, also auf Verkaufszahlen.

Wenn eine Band das Ziel hat, ein möglichst großes Publikum anzusprechen (welche Band hat das nicht ?), so eignen sich die Verkaufszahlen in meinen Augen doch als Erfolgs-Indikator. Aber, liebe Kretakatze, hier gebe ich Dir Recht, so 100% korrekt ist diese Maßeinheit für Erfolg nicht.
Warum z.B. haben die Beatles mehr Platten verkauft als Slade ? War ihre Musik besser ? War ihr Publikum zahlungskräftiger ?

Keine Ahnung.

Wann ist Musik „gut“ ? Wenn sie vom Zuhörer als „gut“ empfunden wird.

Wenn viele Zuhörer eine bestimmte Musik als „gut“ empfinden und in den Plattenläden entsprechend nachfragen, ist diese Musik dann besser als andere ?

Falls dem so wäre, würde das bedeuten, dass Michael Jackson und Diedä Bohlen bedeutende zeitgenössische Musiker sind.

Und mit dieser Aussage habe ich ein Problem.

Neben unseren philosophischen Baustellen ergibt sich hier eine zusätzliche Fragestellung: Wann ist Musik „gut“ ?

In freudiger Erwartung Eurer Antworten grüßt Euch
Lockwood

13.06.2008

Lockwoods Top 22 & Zugabe

Nachdem bereits Alex uns seine persönlichen 10 besten Lieder präsentiert hat, und auch ich meine Top 10 bzw. Top 20 abgeliefert habe, hat sich nun auch Lockwood die Mühe gemacht, uns seine Lieblingslieder zu ‚beichten’. Abba, Psalm von Roxy Music (wenn hier auch als Exot vorgestellt) sind keine Überraschung mehr. Aber einige andere schon (Mort Shuman und Vicky Leandros). Nicht zu übersehen ist dabei auch die ungewöhnlich starke Präsenz holder Weiblichkeit, was mich natürlich durchaus erfreut. Ohne ein endgültiges Urteil abgeben zu wollen, aber Lockwood hat eine Vorliebe für dunkelhaarige Frauen …:-)

Was Sonny & Cher betrifft, so würde ich die beiden (oder die eine) nicht unbedingt zu meinen Lieblinge zählen, trotzdem hat das genannte Lied „I’ve got You Babe“ für mich in so weit eine gewisse Bedeutung, weil es eine nicht unerhebliche Rolle in meinem Lieblingsfilm „Und täglich grüßt das Murmeltier …“ spielt.

Aber lassen wir Lockwood zu Wort kommen (ich habe mir erlaubt, bei youtube zu den ausgewählten Liedern ein hoffentlich passendes Video herauszusuchen) – und der großen Mühe wegen auch in einem eigenen Beitrag:

Grüß Euch Gott alle miteinander,

es ist still geworden in unserer kleinen Schreiberrunde.
Ich habe die schöpferische Pause u.a. dazu genutzt, über die Liste meiner zehn Lieblingslieder nachzudenken. Das Ergebnis ist erschütternd: Ich bekomme sie nicht zusammen. Allein für meine Lieblingskünstler Jethro Tull, Kate Bush und die Pogues müsste ich mindestens je zehn Plätze belegen. Das wäre nicht im Sinne des Erfinders. Also muss ich tricksen. Unten findet Ihr eine Liste ohne meine Lieblinge, die ohnehin einen festen Stammplatz in meinem Herzen, meinem Hirn und meinem Trommelfell haben. Aber selbst diese abgespeckte Liste ist nicht vollständig. Bei dieser Aufgabenstellung merkt man erst, wie wenig „zehn“ sein kann. However, los geht’s (die Reihenfolge der Lieder sagt nichts über ihren Stellenwert aus):

Led Zeppelin: Kashmir (dramatischer Song in epischer Breite; begleitet mich seit frühester Jugend)
Led Zeppelin: The Battle Of Evermore (hätte auch von JT sein können; nicht aufgepasst, Mr. Anderson!)
Peter Gabriel: Solisbury Hill (schon seit 30 Jahren einer meiner absoluten Favoriten)
Fleetwood Mac: Never Going Back Again (tolle akustische Gitarren)
Roger Chapman: Run Like The Wind (schöne schnulzige Mike Batt – Produktion)
Rolling Stones: Paint It Black (die frühen Stones hatten einige schöne Melodien)
Mort Shuman: Le lac majeur (für die sentimentalen Momente im Leben)
BJH (Barclay James Harvest): Hymn (Neues Testament für Popfans)
Depeche Mode: Personal Jesus (wieder Thema Religion – diesmal kritisch)
B.Springsteen: Jersey Girl (Tom Waits – Cover; klingt am besten, wenn man frisch verliebt ist)
Sex Pistols: Holiday In The Sun (nicht gerade ein Opus, aber frische Gitarren und glaubwürdig vorgetragen)
Big Country: The Seer (mit Kate Bush im Backing Vocal – besser kann Rockmusik kaum sein)
Boston: More Than A Feeling (wurde für dieses Lied die Gibsongitarre erfunden?)
David Bowie: Sound And Vision (wie so oft: Die frühen Werke sind die Besten)
L. McKennit: Dante’s Prayer (zum Heulen schön)
Abba: Like An Angel Passing Through My Room (leise Töne von den Asen der Popmusik)
Abba: Slipping Through My Fingers (der Text treibt mir das Wasser in die Augen)
Stevie Nix: Stand Back (bin ich evtl. doch ein Popfan ???)
The Verve: Bitter Sweet Symphony (synthetische Geigen, eingängige Harmonien)
Liquido: Narcotic (deutsche Krachgitarre, aber nett)
Pink Floyd: Comfortably Numb (ich kann es selber kaum glauben, aber The Wall fehlt in meinem Schrank)
Elvis Presley: Always On My Mind (schönes Liebeslied, schöner Bariton)

Wenn ich die Liste durchzähle, stelle ich fest, dass es fast genau zehn Stücke sind. Sorry, weniger ging wirklich nicht. Neben meinen o.g. Lieblingen fehlen noch die Werke von Queen, Mike Oldfield, einigen Liedermachern und noch vieles mehr.

Außerhalb jeder Konkurenz möchte ich noch einige Exoten auflisten, für die sich garantiert niemand interessiert:

Don Kosaken: Legende von den zwölf Räubern; Der rote Sarafan (nur für Freunde von Männerchören)
Ehel. Ofarim: Cinderella Rockefella (Esther hat eine bemerkenswerte Stimme)
Vicky Leandros: Apres Toi (die Mutter aller Schnulzen, aber was für eine Stimme !)
Mikis Theodarakis: Sorba’s Dance (hellenistische Pseudofolklore mit Eignung zum Ohrwurm)
Sonny and Cher: I’ve got You Babe (mir gefallen die Blasinstrumente in dem Lied – Fagotte ?)
Roxy Music: Psalm (Schönling Ferry als inspirierter Prediger mit tuntigem Pianisten und Passion Play-Saxophon)

So, nach dieser Beichte fühle ich mich wohler.
Vielleicht liest man nochmal etwas voneinander.

Ich wünsche Euch den inneren Frieden
Lockwood

22.05.2008

Profaner Jesus und profaner Teufel

Hallo Kretakatze, (und natürlich auch: Hallo, Lockwood)

Mein Blog ist kein reines Jethro Tull-Blog. Und bisschen Wind aus anderen Richtungen wird nicht schaden. Sicherlich „klinge ich etwas gereizt“, denn DSDS und all die Idol-Sachen finde ich schlechtweg „unter aller Sau“. Es ist einfach nicht meine Welt, nicht nur, weil es nicht meine Musik ist. Hier versucht die Musikindustrie billig an Talente zu kommen, schlachtet die dann aus – und lässt sie schnell wieder fallen, wenn ein Talent wie eine Zitrone ausgepresst ist. Das Du nicht noch zusätzlich auf DSDS zu sprechen kommst, war mir schon klar. Wie solltest Du das auch wagen :-).

Zu Clay Aiken: Natürlich kann der gute Mann singen, sonst hätte er nicht diesen Erfolg. Aber was Du schreibst, unterstützt nur noch mehr meinen Verdacht, hier ein typisch amerikanisches Phänomen zu betrachten. Der religiöse Bezug ist mir natürlich nicht entgangen. Auch ohne die Hinweise bei Wikipedia hatte ich einen entsprechenden „Verdacht“. Das er sich für geistig behinderte Kinder einsetzt, ehrt ihn ungemein. Aber alles andere sieht für mich doch sehr nach Sektierertum aus. Das, was Dich, Kretakatze, an dem Mann vielleicht fasziniert, stößt mich eher ab. Ich reagiere leicht allergisch auf religiös-verbrämte Lebensansichten. Natürlich muss jeder selbst wissen, was er aus seinem Leben macht. Ich bemühe mich zumindest, ein „guter Mensch“ zu sein und meinen Kindern ein halbwegs akzeptables Vorbild zu sein.

Clay Aiken, wenn er so „pure“, so rein und „sauber“ ist, wie die Jurorin meint, also ein Heiliger (oder?), dann bekomme ich eher Schüttelfrost. Wenn sich ein so Heiliger mit dem Teufel einlässt (Musikbranche), dann ist da doch etwas faul.

Clay Aiken ein Idol? Wer so rein ist, der ist wahrscheinlich mit dem Schmutz noch nicht in Berührung gekommen. Nicht, dass er nicht die Schattenseiten dieses Lebens kennen gelernt hat. Aber hat er diese auch wirklich wahrgenommen? Ich will hier nicht den Stab über Herrn Aiken brechen. Dazu kenne ich ihn viel zu wenig (ich kenne ihn nicht). Es gibt aber einiges, was ihn mir und seine „Bewegung“ („kirchenähnlich“ schreibst Du – ähnlich wie eine Sekte?) suspekt erscheinen lässt.

Wahrscheinlich ist er aber nur ein „armer Teufel“, der es gut meint, der sich freut, Geld für seine Kinder zu sammeln und der keiner Fliege etwas zu Leide tun kann.

Gruß
Wilfried

02.04.2008

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Hallo Wilfried, Hallo Lockwood,

Inzwischen wünsche ich mir, ich hätte Euch den Namen Clay Aiken für alle Zeiten verheimlicht. Es scheint wie verhext, je mehr ich über ihn schreibe desto mehr Missverständnisse gibt es. Und die muss ich dann natürlich wieder aufklären. Hoffentlich bekomme ich das jetzt dieses Mal auf die Reihe…

Ich muss zugeben, lieber Wilfried, dass mich Deine Mail vom 02.04. ziemlich ratlos hinterlassen hat. Vieles von dem, was Du schreibst, verstehe ich nicht, es erscheint mir schwammig oder abstrakt, ich weiß einfach nicht wovon Du sprichst. Was sind z.B. „religiös-verbrämte Lebensansichten“, hat Mr. Aiken solche, und wenn ja, welche? Könntest Du ein Beispiel nennen? Was meinst Du mit „Sektierertum“, was sieht für Dich danach aus? Mit welchem „Schmutz“ ist er „noch nicht in Berührung gekommen“, welche „Schattenseiten“ hat er „nicht wirklich wahrgenommen“? Dann vergleichst Du die Musikbranche mit dem Teufel – geht das nicht doch ein bißchen weit? Nur deshalb weil Mr. Aiken gern ein bißchen singt und ein paar CDs verkauft hat, ist er doch nicht gleich mit dem Teufel im Bunde, oder? Das sind ja fast radikal-islamistische Ansichten… Manche Worte haben mich geradezu erschaudern lassen – da sprichst Du von seiner „Bewegung“, „kirchenähnlich?“, eine „Sekte“? Hilfe, was habe ich da nur angerichtet!?!

Also fangen wird noch mal von vorne an. Hier noch einmal das Video zu Somewhere Out There mit der Prophezeiung, in der die von uns noch nicht identifizierte Dame in der Jury Mr. Aiken als „mystery“ und „pure“ bezeichnet. Das englische Wort „pure“ hast Du gleich einmal mit „heilig“ übersetzt – ich glaube da schießt Du übers Ziel hinaus, ich würde da nicht soviel hineininterpretieren wollen. „Pure“ bedeutet für mich erst einmal „rein“, „klar“, „ohne überflüssiges Beiwerk“, „die Essenz von etwas“. Paula bezeichnet ihn zuvor in ihrem Kommentar als „natural“, und ich glaube da meint sie praktisch das Gleiche. Es ist dies vermutlich auch das erste Mal, dass im Zusammenhang mit Mr. Aiken der Begriff „sexy“ fällt. Und das ist genau der springende Punkt. Mystery – natural/pure – sexy – diese Worte gehören zusammen. Man könnte das auch so schreiben: mystery + pure = sexy, oder anders ausgedrückt: Jesus ist sexy. Es ist natürlich verständlich, dass Dir als Mann das entgangen ist, und es hat Dich wohl auf die völlig falsche Fährte gesetzt. Es geht hier nicht um eine „Sekte“, es geht um einen „Sexiest Singer“.

Die „Bewegung“ des Mr. Aiken hat mit Religiosität nichts zu tun. Ich weiß, ich habe Worte wie „kirchenähnlich?“ und „Jünger“ gebraucht – das war grob fahrlässig und ich bereue es zutiefst. Natürlich war das ironisch gemeint um eine entfernte Parallele zu Jesus herzustellen. Auch meine Erwähnung von „Aktionen“, zu denen er im Fernsehen aufruft, hat vielleicht einen falschen Eindruck erweckt. Soweit ich das bisher mitbekommen habe, handelte es sich dabei immer um Interviews im Rahmen seiner Tätigkeit als UNICEF-Botschafter, und in dieser Funktion ist das auch schlicht und einfach seine Aufgabe.

Tatsächlich sind seine „Claymates“ oder „Clay Nations“ einfach gut organisierte Fanclubs, und ihre Qualität beruht vor allem auf der Qualität der Fans. Wenn man bei seinen Auftritten in die Zuschauerräume sieht, dann sitzen da weit überwiegend Frauen, nicht wenige davon über vierzig, Teenager sind kaum dabei. Da Mr. Aiken von klein auf verlacht und verspottet wurde, abgelehnt und ausgegrenzt, es nun aber trotzdem zu sagenhaftem Ruhm, Erfolg und Beliebtheit gebracht hat, ist er natürlich eine Identifikationsfigur und strahlendes Leitbild für jeden, der sich nicht ernst genommen, ausgegrenzt oder unverstanden fühlt (auch das übrigens eine Parallele zu Jesus) – und das sind in unserer Gesellschaft nicht wenige. Dieses Publikum ist zuverlässig, diszipliniert, anhänglich und einsatzwillig.

Überhaupt war mein ganzer Vergleich mit Jesus viel profaner gemeint, als Du das offensichtlich aufgefasst hast. Auch Jesus war ein Lehrer und Entertainer. Er ist von Ort zu Ort gezogen und hat die Menschen unterhalten, so wie Mr. Aiken das heute auf seinen Konzerttourneen auch tut (vielleicht nicht ganz genauso, aber so ähnlich). Er hat Geschichten erzählt und mit den Menschen diskutiert, das war bestimmt eine unterhaltsame Abwechslung in Zeiten, als das Leben fast ausschließlich aus Arbeit bestand und es auf dem Lande weder Kino noch Disco gab. Und er hat Wunder vollbracht, so etwas hat einen unerhörten Unterhaltungswert.

Wunder vollbringt Mr. Aiken natürlich nicht. Aber er unterhält sein Publikum, und er unterhält sich mit seinem Publikum. Wenn man sich Videos von seinen Konzerten anschaut, gewinnt man den Eindruck, dass er mehr redet als er singt. Hier ein kurzes Beispiel dafür, wie christlich-besinnlich es auf seiner Weihnachtstournee zugeht, und dann noch der Lehrer-Entertainer in Aktion mit seiner Mega-Schulkasse – man merkt, das sind alles seine Kinder.

So ungefähr, stelle ich mir vor, muss das bei Jesus vor 2000 Jahren auch gewesen sein, abgesehen davon, dass er etwas tiefgründigere Dinge von sich gegeben hat. Aber zwischendurch hat er vielleicht auch einmal geblödelt. Man muss sein Publikum dort abholen, wo es steht, da kann man nicht ständig nur hochgeistig sein, sonst läuft es davon. Wenn man heutzutage eine Botschaft an den Mann (oder die Frau) bringen will, dann muss man sie schon ziemlich gut verpacken, sonst wird sie nicht geschluckt. Deshalb ist der moderne Jesus ein Verpackungskünstler. Er verpackt seine Botschaft so gut, dass man sie schon kaum noch bemerkt, sie besteht eigentlich nur noch aus seiner Person und ihrer Biographie und wird daher mehr durch die Medien transportiert als durch ihn selbst.

Was ist denn nun eigentlich der wesentliche Unterschied zwischen einem modernen Jesus und irgendeinem x-beliebigen (meist selbst ernannten) Propheten oder Erweckungsprediger? Der Erweckungsprediger erreicht nur die, die sowieso bereits „bekehrt“ sind, oder die bereit sind sich „bekehren“ zu lassen. Jesus erreicht alle und sammelt auch die noch ein, die gegen jegliche Art von Missionierung resistent sind und den bloßen Versuch bereits als Belästigung empfinden, die Kritischen, die Zweifler, diejenigen, die in allem und jedem sofort die Fehler, Mängel und Schwächen erkennen, diejeningen, die alles bereits wissen, und das besser, die immer recht haben und sich von niemandem etwas sagen lassen – also mich zum Beispiel. Er überzeugt nämlich vor allem dadurch, dass er nicht predigt. Und mit Religion hat das auch alles nichts zu tun.

Übrigens hat Mr. Aiken schon früh verkündet, wie er seinen Einfluss in der Öffentlichkeit zu nutzen gedenkt, lange bevor er irgendwelchen Einfluss hatte und als es noch in den Sternen stand, ob er jemals irgendwelchen Einfluss haben würde, nämlich bei einer seiner Auditions in Hollywood im Vorfeld von AI2. Als Randbemerkung zu diesem Video: Hier meint Mr. Aiken scherzhaft, er klänge als wäre er bei Miss America, ein Dreivierteljahr später war er tatsächlich bei Miss America. Ich finde solche „Zufälle“ faszinierend, besonders wenn sie sich häufen. Dir, lieber Wilfried, ist das suspekt?

Kommen wir von Jesus zum „armen Teufel“ – so hat Wilfried Mr. Aiken bezeichnet, und der Ausdruck passt meiner Meinung nach überhaupt nicht. Er klingt nach einem Opfer, nach jemandem, „mit dem man es machen kann“, und das ist Mr. Aiken bestimmt nicht. Schon für sein erstes Album nach AI mussten z.B. Songtexte eigens für ihn umgeschrieben werden, denn „er singt nicht von Sex, und er singt das sonst nicht“ (und seine Auslegung ist da ziemlich kleinlich). Das hätte nicht jeder in seiner Position gewagt, er war nicht der Gewinner der Show und hatte keinen Anspruch darauf, dass man überhaupt eine CD mit ihm produziert, er hatte Anspruch auf garnichts. Auch seine häufig wiederholte Aussage, über sein Aussehen würden Andere entscheiden, kaufe ich ihm schon lange nicht mehr ab – das hat vielleicht für seine Anfangszeit bei AI gegolten. Wenn er dann mal anfängt zu erzählen, merkt man schnell, dass das doch alles ein bißchen anders ist. Da wollte ER bei einem Überraschungs-Auftritt in American Idol 5 nicht genauso aussehen wie sein Double, das bei dieser Gelegenheit mit einem Scherz-Preis für die „Best Impersonation“ ausgezeichnet wurde. Also berief ER seine Stylisten ein, es wurde „verschiedenes ausprobiert“, bis der Herr mit seinem neuen Look zufrieden war. Es war dies sein erstes Erscheinen in der Öffentlichkeit mit langen dunklen Haaren.

Für sein letztes Album „A 1000 Different Ways“ hatte seine Plattenfirma zunächst lauter neue Songs schreiben lassen. „Aber dann kamen WIR zu dem Schluss, dass die meisten der neuen Songs von der Qualität her mit den Klassikern nicht mithalten konnten.“ Ich glaube eher, dass ER zu diesem Schluss gekommen ist, seine Produzenten legen ihm doch nicht Songs vor und bemerken dann erst, dass sie nicht gut genug für ihn sind. Es wurden dann überwiegend Covers von Klassikern aufgenommen (vermutlich nach Auswahl von Mr. Aiken). Ich habe inzwischen den Eindruck gewonnen, dass er es letztlich immer schafft, dass alle das machen, was er will, nur stellt er das so geschickt an, dass es kaum auffällt. Ein „armer Teufel“ sieht jedenfalls anders aus.

Was fasziniert mich nun also an Mr. Aiken? Du meinst es wäre das Gleiche, das Dich abstösst. Das kann ich nicht beurteilen, zumal ich nicht behaupten wollte, dass ich schon restlos verstanden hätte, was mich an ihm fasziniert. Zunächst einmal bin ich natürlich an ihm hängengeblieben, weil ich einige Ähnlichkeiten mit mir selbst entdecken konnte. Da Ihr mich bereits bestens kennt, könnt Ihr Euch vielleicht denken, was das ist (und wenn nicht, ist es auch nicht schlimm). Dann bewundert man üblicherweise Menschen, die Eigenschaften oder Fähigkeiten besitzen, die man an sich selbst vermisst. Ich persönlich bin z.B. obercool, wie Euch sicher schon aufgefallen ist, und das hauptsächlich deshalb, weil ich viel zu feige bin zu riskieren eine Angriffsfläche zu bieten. Menschen, die das nicht nötig haben, imponieren mir irgendwie.

Darüber hinaus bin ich auch noch Analytiker, und ich bin erst zufrieden, wenn ich alles bis ins Detail zerlegt und verstanden habe. Mit Mr. Aiken ist mir das bislang noch nicht gelungen. Insbesondere irritiert mich seine chamäleonartige Wandlungsfähigkeit, und das nicht nur äußerlich. Oder bilde ich mir das nur ein? Wenn ich mich mal an jemanden gewöhnt habe, dann möchte ich mich gerne jedesmal, wenn ich ihn sehe, in ihm wiederfinden. Ihr erinnert Euch sicher noch an John Fogerty und das karierte Hemd… Da ist Mr. Aiken eine echte Herausforderung. Das eine Mal denke ich, den kenne ich, beim nächsten Video frage ich mich „Wer ist denn das nun schon wieder?“. Das macht mich ganz kirre! Soweit zu meiner nicht immer restlos ungetrübten Beziehung zu Mr. Aiken.

Zusammenfassend könnte ich vielleicht sagen: Mir scheint Mr. Aiken ein Mensch zu sein, der sehr genau weiß, was er will. Das bin ich im Prinzip auch. Nur bin ich nicht sehr geschickt darin, es auch zu bekommen. Er scheint da wesentlich erfolgreicher zu sein als ich. Und ich wüßte gern, wie er das macht.

Nun doch noch einmal zu DSDS und AI. Von Wilfried stammt folgendes Zitat: „Hier versucht die Musikindustrie billig an Talente zu kommen, schlachtet die dann aus – und lässt sie schnell wieder fallen, wenn ein Talent wie eine Zitrone ausgepresst ist.“ Zu DSDS kann und möchte ich in dieser Beziehung eigentlich nichts sagen – ich habe mich nicht näher damit beschäftigt und möchte das auch nicht, es ist zu deprimierend. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass Deutschland in der derzeitigen Musiklandschaft eine Sonderstellung einnimmt, wir sind durch einflussreiche Musikproduzenten auf qualitativ unterstem Niveau zur musikalischen Bananenrepublik verkommen. Talente mit Persönlichkeit und Niveau haben zurzeit in Deutschland keine Chance. Der deutsche Markt saugt Musik aus dem Ausland an wie ein Vakuum. Dazu vielleicht ein andermal ein paar Beispiele.

Was z.B. American Idol und die amerikanische Musikindustrie betrifft, habe ich inzwschen in mancher Hinsicht meine früheren Ansichten revidiert. Wenn man 100.000 Bewerber durchsieben muss, um letztlich ein oder zwei Talente zu finden, mit denen man Geld verdienen kann, dann ist dieser Aufwand immens, da kann man nicht mehr von „billig“ sprechen. Da ist es bestimmt billiger im Plattenstudio zu sitzen und darauf zu warten, dass junge Musiker ihre auf eigene Kosten erstellten Demo-Aufnahmen einreichen.

Und es ist ja auch nicht so, dass man einfach die Leute von der Strasse holt und auf die Bühne stellt. AI ist spätestens ab der Runde der letzten 12 ein 7-Tage-die-Woche-10-Stunden-am-Tag Crash-Kurs in Showbiz. Die Kandidaten bekommen Stimmtrainer und Gesangslehrer zur Seite, die Performance wird geübt. Jede AI-Show steht unter einem anderen Motto, bei der „Movie Night“ muss z.B. jeder eine Filmmusik singen, worum es bei „Country Night“, Rock Night“, „Musical Night“ etc. geht, könnt Ihr Euch sicher denken – die Bewerber werden durch alle Stilrichtungen der Musik gejagt. Jede Woche wird ein anderer Star aus der entsprechenden Musikrichtung eingeladen um die Kandidaten zu coachen und ihnen Tipps für den Auftritt zu geben. Für die „Bon Jovi Night“ ist das natürlich kein anderer als Jon Bon Jovi selbst, und der macht das sicher auch nicht für umsonst. Hier ein Beispiel dafür, wie man dabei aus einem schüchternen kleinen Mäuschen eine neue Tina Tuner macht. Melinda wurde übrigens in diesem Wettbewerb die Dritte und hat jetzt auch einen Plattenvertrag. Zu ihrer Audition kam sie noch zitternd herein.

Ich will jetzt nicht diese American Idol Show glorifizieren. Sie produziert eine völlig andere Art von Musikern, als wir das aus der guten alten Zeit mit „handgemachten“ Bands wie Jethro Tull gewöhnt sind. Es sind fast ausschließlich reine Interpreten, es ist ein Wettbewerb für Pop-Sänger, nicht für Rock-Bands, und nur gelegentlich ist mal ein Musiker dabei, der auch ein Instrument spielt oder selbst Songs schreibt. Taylor Hicks war einer von dieser Sorte, er hat AI 2005 gewonnen, mich aber weder durch seinen Gesang noch durch seine Songs vom Hocker gerissen. (Übrigens: In den letzten Runden, wenn die Kandidaten mehr als einen Song pro Abend darzubieten haben, ist auch Gelegenheit dafür die eigenen Kompositionen vorzutragen – Mr. Hicks hat das getan.) Was ich eigentlich sagen will – hier wird keine neue Musik geschaffen, aber diese Show ist trotzdem ein Fortschritt gegenüber der Zeit, als ausschließlich Musikproduzenten darüber entschieden haben, wer vor ein Mikrophon darf, denn jetzt haben auch Talente eine Chance, die sonst nie das Licht eines Fernsehscheinwerfers erblickt hätte. Norwegen hat einen neuen Nationalhelden, Amerika hat einen neuen Jesus – das ist doch was. (Und was haben wir? Dieter Bohlen – es ist zum Ko…!)

Zu Wilfried’s Problem mit den Song-Lizensen – ich glaube, da brauchst Du Dir keine Sorgen zu machen. Wie wir schon gesehen haben – zur „Bon Jovi Night“ betätigt sich Mr. Bon Jovi selbst als Coach, bei der „Neil Sedaka Night“ (Solitaire) sitzt Mr. Sedaka mit in der Jury, bei der „Bee Gees Night“ (To Love Somebody) ist es Robin Gibb. Da werden die Herren bestimmt ihr Scherflein abbekommen. Das kann heutzutage niemand machen, dass im Fernsehen vor Millionen von Zuschauern Songs dargeboten werden, und die Rechteinhaber bekommen kein Geld – das würde Klagen hageln. Für die paar gekrächzten Takte, die die „skurrilen Nichtskönner“ bei den Castings vortragen, wird es allerdings wohl kaum was geben, lieber Wilfried. Das wirst Du aber auch nicht ernsthaft erwartet haben – oder?

Soweit ausführlich dazu, wie die heutige Musikindustrie „billig“ an Talente kommt. Beschäftigen wir uns nun noch kurz mit dem „Ausschlachten“, „Auspressen“ und „Fallenlassen“. Das ist sicher alles schon vorgekommen, aber ich würde bezweifeln, dass es die Regel ist. Die Musikproduzenten haben kein Interesse daran ihre Stars zu verheizen, sie haben Geld in sie investiert und möchten möglichst lange an ihnen verdienen. Natürlich werden sie einen Musiker fallenlassen, wenn er beim Publikum nicht (mehr) ankommt, sie sind keine Wohltätigkeitsunternehmen. Aber das „Ausschlachten“ besorgen Andere – die Medien. Auf der ständigen Suche nach Schlagzeilen und Stories durchwühlt die Boulevard-Presse das Privatleben der Stars (das betrifft natürlich nicht nur die Musiker sondern genauso auch Schauspieler) bis sie eigentlich kein Privatleben mehr haben – es wird öffentlich – und jede kleine Ungeschicklichkeit oder Peinlichkeit wird aufgegriffen, aufgebauscht und breitgewalzt.

Zu diesem Thema vielleicht eine harmlose kleine Episode aus dem Leben des Mr. Aiken. In oben verlinktem Video sagt er zu der Dame, der er gerade das Fernglas abgenommen hat: „You’re close enough to smell the … I ate earlier.“ (leider verstehe ich nicht, was er da gegessen hat). Das ist bestimmt eine Anspielung darauf, dass sich wenige Wochen zuvor irgendjemand öffentlich darüber beschwert hatte, dass er bei irgend einer Gelegenheit nach irgendetwas gestunken hätte (vermutlich gerade dieses von mir nicht identifizierbare Lebensmittel oder Gericht). Es gab tatsächlich eine Schlagzeile nach dem Motto „X sagt: Clay Aiken stinkt!“. Das ist so doof, dass es eigentlich jeder Beschreibung spottet, aber das Thema beschäftigte Presse und Fernsehen auf sämtlichen Kanälen. Nach so einem „Skandal“ kann er sicher davon ausgehen, dass er in den nächsten 10 Interviews gefragt wird, ob er wirklich gestunken hat, nach was er gestunken hat und warum er gestunken hat usw.. Das nur als Beispiel dafür, auf welchem Niveau da geschossen wird.

Früher oder später wird jeder, der einem solchen Leben ausgesetzt ist, zum Nervenbündel. Dadurch macht er nur noch mehr Fehler und die „Skandale“ häufen sich. Nach und nach wird das Ansehen dieser Person in der Öffentlichkeit demontiert – wer möchte schon eine CD kaufen von jemandem, der stinkt? Und so geht es mit der Karriere darnieder, wenn der Betreffende nicht schon vorzeitig wegen Nervenzusammenbruch, Alkohol- oder Drogenkonsum ausscheidet. Das liegt aber nicht an der Musikbranche.

Du meine Güte, jetzt bin ich schon wieder ausgeufert. Und dabei habe ich noch nicht einmal auf Wilfried’s neue Themen reagiert oder auf Lockwoods Vorstellung von Tom Waits. Das wird jetzt wohl erst noch warten müssen…

Seid ganz lieb gegrüßt bis demnächst
Kretakatze

PS.:So, lieber Wilfried, nun habe ich Deine letzte Mail wieder einmal restlos zerpflückt und in den Boden gestampft, ich hoffe Du bist nicht allzu deprimiert. Deshalb zum Schluss nun noch ein Video, das Dich hoffentlich wieder aufbaut. Es beweist, dass Du zumindest in einem Punkt absolut recht hast: Mr. Aiken ist sehr amerikanisch (wenn ich auch noch nicht so ganz verstanden habe, was Du damit eigentlich meinst).

07.04.2008

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Hallo Kretakatze, Hallo Wilfried,

in Euren letzten mails tauchen häufiger die Begriffe Jesus, Hölle, heilig auf. Ich denke, hier erhebt Ihr die Musikindustrie und ihre Protagonisten auf ein Level, das ihnen eine Nummer zu groß ist.

Auch wenn Mr. Aiken eine charismatische Ausstrahlung besitzt und durch seine Wohltätigkeiten ein gottgefälliges Leben führt, so kann ich doch nichts Messianisches an ihm entdecken. Darüber hinaus erscheint sich sein Sendungsbewusstsein auf die Staaten zu reduzieren; ohne Eure Beiträge hätte ich noch von ihm gehört.

Auch der Begriff Hölle für die Widrigkeiten des Showbiz scheint mir etwas übertrieben. Wir wissen alle, dass es im modernen Arbeitsleben nicht immer leicht ist, im Schweiße seines Angesichtes sein Brot zu verdienen. Das gilt nicht nur für die Musikbranche. Ein Superstar ist in meinen Augen ebenso ein Werktätiger wie ein Bäcker oder Buchhalter. Alle stellen ihre Fähigkeiten zur Verfügung und werden dafür entlohnt.

Weit mehr kann ich mich mit Kretakatzes Ausführungen über die Wandlungsfähigkeit einiger Künstler identifizieren. Jaaa, das Karohemd von Mr. Fogerty steht für einen hohen Wiedererkennungswert, ebenso die Bärte von ZZ Top, der Pferdeschwanz von Status Quo oder die blonde Mähne von Led Zeppelin. Da weiß man, woran man ist.

Mit einem wandlungsfähigen Künstler habe ich auch so meine Probleme. Im Zusammenhang mit Ian Anderson habe ich darüber schon geschrieben. Die Grenzen zwischen künstlerischem Fortschritt und wirtschaftlichem Opportunismus sind in vielen Fällen verwischt. Ich fordere nicht, dass ein füllig gewordener Künstler in seinen 50ern die gleichen engen Klamotten trägt wie in Zeiten seiner schlanken Jugend. Aber die abrupten Stilwechsel eines Mr. Anderson haben mir schon zu schaffen gemacht. Genau wie Kretakatze bei Mr. Aiken habe ich mich gefragt, wer das denn jetzt sei. Möglicherweise gefällt einigen Fans die Vielseitigkeit ihres Künstlers; mehr fehlt dazu die geistige Flexibilität.

Das war es auch schon von meiner Seite für heute.
Lasst es Euch gut gehen.
Lockwood

08.04.2007

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Hallo Ihr Lieben,

es ist schon erstaunlich, wie viel Kretakatze immer wieder zu schreiben weiß. Nicht das ich denke, Du, Kretakatze, hättest nichts Besseres zu tun. Aber es erstaunt schon, wie sehr Du Dich z.B. an diesen Clay Aiken ‚hängst’. So ausführlich werde ich Dir, zumindest in dieser Sache, natürlich nicht antworten wollen.

Also zunächst zu Deinem Vorwurf, ich äußere ‚fast’ radikal-islamische Anschichten! Wieso ‚fast’, es sind radikal-islamische Ansichten. Zumindest verstehe ich immer besser, wenn islamische Radikale nicht gut auf Amerika zu sprechen sind. Aber im Ernst:

Ich möchte nicht so sehr auf den Herrn Aiken eingehen, sondern mich eher zu der Frage äußern, was ich als typisch amerikanisch ansehe. Und ich möchte nur ein Detail aufgreifen, denn sonst wird das hier einfach zu lang.

Etwa wie Israel sehen viele Amerikaner ihr Land als das ‚gelobte Land’ an. Gott ist besonders ihrem Land wohlgesonnen. Das ist der reinste Calvinismus, nachdem nur bestimmte Menschen (hier ‚fast’ ein ganzes Land) dazu prädestiniert sind, den Weg zur Seligkeit zu gehen. Der Rest (wir Europäer eingeschlossen) kommt in die Hölle. Da kann er machen, was er will.

Natürlich hat das Ganze öfter einen Knacks bekommen; z.B. als Kennedy ermordet wurde, war das für viele Amerikaner geradezu unfassbar. Unfassbar allein deshalb, weil Gott den Amerikanern doch so etwas nicht antun kann. Und ähnlich ist es jetzt mit dem weltweiten Terror, dessen Hauptziel Amerika ist. Allein der Begriff „Achse des Bösen“ zeigt für mich die religiöse „Verbrämtheit“ auf, die das Ganze gewonnen hat.

Und so ist nach meiner Sicht vieles in Amerika religiös verbrämt (bemäntelt, ‚verziert’, ausgeschmückt). Ist Gott mit dir, dann wird sich das auch in deiner steilen beruflichen bzw. geschäftlichen Karriere zeigen. Daraus lässt sich eine Selbstherrlichkeit vieler Amerikaner ableiten, die sicherlich nicht nur mich abstößt.

Ein Aspekt nur, aber ein wesentlicher. Natürlich kann das nicht für alle Amerikaner gelten. Aber es ist eine ‚Grundhaltung’, die durch viele Alltäglichkeiten fundamentalisiert wird (z.B. das ständige Bekenntnis zur Nation schon in der Schule hat diesen halbreligiösen Charakter und ‚schult’ dieses Gefühl, zu etwas ‚Großem’ zu gehören).

Wenn Du, Kretakatze, Deinen Vergleich Clay A. mit Jesus C. auch „viel profaner gemeint hast“, so denke ich doch, dass einige Amerikaner (wahrscheinlich eher unbewusst) das Auftreten des Clay A. in einem religiösen Sinne ‚begreifen’. Und: Ich weiß, ich bin manchmal sehr abstrakt. Aber wie soll ich das in wenigen Worten sagen. Genug.

Noch einen Satz (oder zwei) zu dem Vergleich Musikbranche und Teufel. Natürlich meine ich das nicht wortwörtlich, eher auch im Sinne von profan, materialistisch ausgerichtet (Geld und noch einmal Geld): Ein profaner Jesus gerät in profane Versuchung (Plattenvertrag) durch den profanen Teufel (Musikindustrie).

Natürlich hat Kretakatze Recht: Das Aussieben von ein, zwei Talenten aus einer Masse von 100.000 Kandidaten ist immens aufwändig. Anderseits ist die entsprechende Präsentation im Fernsehen sehr publikumswirksam. American Idol, Pop Idol, DSDS und wie diese Sendungen noch heißen werden von einer breiten Öffentlichkeit angeschaut (auch wenn viele das nicht zugeben). Selbst Lockwood wirft öfter einen Blick hinein. Das Ausschlachten der wenigen Talente ist dann nur noch ein ‚Abfallprodukt’, dem sich die Musikindustrie dann aber um so lieber widmet. Das Ganze (TV-Show und Musikproduktion) stellt einen großen Markt da. Wäre das nicht so gewinnbringend, würden sowohl TV-Sender als auch Musikindustrie schnell ihre Finger davon lassen. Überhaupt TV- und Musikbranche – sind diese beiden in den USA nicht besonders eng verwoben (und die Filmindustrie kommt da auch noch hinzu)?

Kretakatze sieht hier eine unaufhaltsame Tendenz zu Einzelkünstlern. Diese Tendenz wird aus meiner Sicht von der Musikbranche beeinflusst, ja ich behaupte: gesteuert (eben durch solche Sendungen). Musikgruppen, eben Bands, müssen zusehen, wo sie bleiben. Denen bleiben meist nur noch ‚unabhängige’ Labels oder (zunehmend) der Eigenvertrieb. Eine Ausnahme davon bilden vielleicht die „etablierten“ Bands, also die mit großen Namen. Ein Grund mehr für mich, Sony & Co. nur der Geldschneiderei zu bezichtigen.

Und es gibt noch einen Trend: Vieles wird zum x-ten Mal wiedergekäut und bis zum letzten Exzess ausgeschlachtet. Single-Auskopplungen gab es schon immer. Aber heute sind viele Alben nur noch Vorab-Samplers von Single-Scheiben ohne Ende. Dann die x-te Version eines Liedes (Langfassung, Single-Fasssung, Disco- und sonst wie-Fassung). Alles muss sich mehrfach verwerten lassen. Die Filmindustrie ist hier vielleicht noch etwas erfolgreicher: Nach dem Kinofilm kommt die DVD, dann verdient man mit TV-Rechten (und zunehmend mit Rechten für Online-Film-Dienste), und bei besonders erfolgreichen Filmen kommt dann später noch der Director’s Cut als Doppel- und Dreifach-DVD auf den Markt. Und wenn sich die Technik wandelt, dann kommt ein solcher Film auch noch auf den neuen Medien (z.B. Blu-Ray) heraus. Da will und kann sich die Musikindustrie nicht hintanstellen: alles noch einmal in Super-Technik als Musik-DVD (5.1 Dolby Digital oder Surround DTS). So viele Ohren hat man nicht, um zu hören.

Da z.B. Sony nicht nur die Software liefert (sprich: Musik) sondern auch die Hardware (Player aller Art), ist der Verdienst ein doppelter. Früher wurden Plattenfirmen von Idealisten gegründet und geleitet. Heute sind das bei den großen Firmen nur noch Kaufleute. So rückte auch zunehmend der Geschmack der breiten Massen in den Vordergrund. Und wenn diese keinen Geschmack haben, dann wird denen schon etwas schmackhaft gemacht.

Auch wenn wir hier vom Thema Ian Anderson und Jethro Tull weit entfernt sind (so weit nun auch wieder nicht – auch Herr Anderson hat neben seinem Musikschaffen regen Geschäftssinn bewiesen – und um Musik geht es letztendlich ja auch immer noch), so lautet die Beschreibung zur Rubrik „Was ist bloß mit Ian los?“ immerhin doch „Jethro Tull & vieles mehr“ (siehe Quickinfo – mit der Maus auf den Rubrikentitel zeigen).

Damit wir für heute den Faden zu Jethro Tull nicht völlig verlieren, hier einige Infos, die ich beim Surfen im weltweiten Netz aufgegabelt habe. Entgegen der Meinung, das Thema Jethro Tull wäre erschöpft, denke ich nach wie vor, dass sich immer noch etwas finden lässt, was lohnenswert ist, hier angemerkt zu werden.

Was mich immer schon interessierte ist, welche „Schnittstellen“ es zu anderen Gruppen gab und gibt. Zum einen kommen solche Schnittstellen dadurch zu Stande, dass Gruppenmitglieder ausgetauscht wurden. Die bringen gewissermaßen eine Vorgeschichte mit. Dazu gibt es z.B. einen Stammbaum (Family Tree) bei collecting-tull.com. Und bereits im Beitrag Was ist bloß mit Ian los? Teil 29: Sexy Ian schreibt Noten verwies ich auf die interessante Website bandtoband.com, die die Verzweigungen der Bands untereinander anschaulich darstellt. Ich habe außerdem ein großformatiges Buch zu Hause: Pete Frame ’s Rock Family Tree aus dem Jahre 1979 (also schon bisschen alt, es gibt aber wohl auch neuere Auflagen), da ist in grafischer Übersicht der Stammbaum z.B. von Fleetwood Mac, Fairport Convention (u.a. durch Dave Pegg zu einer JT-Schnittstelle geworden) und Eric Clapton zu finden. Jethro Tull selbst findet sich da noch nicht. Ich habe aber einen entsprechenden Stammbaum irgendwo im Internet gesehen (nur wo?). Soviel zu Vorgeschichte:

Ian Anderson hatte öfter Frank Zappa als einen der Musiker erwähnt, die er mag. Oft weiß man zwar nicht, ob der Meister das wirklich ernst meint. Ich glaube aber: ja. Und zwischen Jethro Tull und Zappa gibt es bekanntlich das Bindeglied Eddie Jobson, wie ebenso in einem früheren Beitrag in diesem Blog festgestellt wurde (Was ist bloß mit Ian los? Teil 39: Widmungen und mehr). Das bestätigt natürlich nicht unbedingt die Aussage von Herrn Anderson (Jobson war ja nicht der typische Tull-Musiker). Vor einiger Zeit las ich aber, dass Ian Anderson in den 70-er Jahren ein Plattenprojekt einer Gruppe aus dem Umfeld von Captain Beefheart finanziell unterstützt hätte. Captain Beefheart steht ähnlich wie Zappa für avantgardistische Musik und beide haben auch öfter gemeinsam musiziert. Ich habe also nachgeforscht, weil mir das doch sehr kurios vorkam. Und tatsächlich. Im April 1972 tourte Jethro Tull durch die USA, abwechselnd mit der Gruppe Wild Turkey (mit Ex-Tull Bassist Glenn Cornick) und Captain Beefheart als Vorgruppe. Am Rande: u.a. wurde „Thick as a Brick“ dabei mehrmals vollständig aufgeführt. Hier lernte Anderson also Don Van Vliet und seine Jungs kennen.

Als Begleitband von Captain Beefheart spielten u.a. Bill Harkleroad (Zoot Horn Rollo) und Mark Boston (Rockette Morton) von 1968 bis 1974 in der so genannten Magic Band. 1974 kamen die beiden mit dem Schlagzeuger Artie Tripp III (Ed Marimba) nach England, um dort als MALLARD ein Album aufzunehmen. Die Gruppe nahm dann 1975 und 1976 insgesamt zwei LPs auf. Und die erste hat tatsächlich Ian Anderson finanziert. Angeblich soll Anderson den Jungs auch einen Song geschrieben haben. Was daraus wurde, ist aber wohl nicht ganz klar (immerhin soll das Lied aufgenommen worden sein und das Band sich dazu im Besitz von Bill Harkleroad befinden). Nachzulesen ist alles in einem Interview mit Bill Harkleroad (Zoot Horn Rollo); u.a. steht dort:

didn’t ian anderson initially back the mallard project?

totally. he set up a situation where we got signed to virgin records. through being the opening act and making the connection early on, he got hold of bill shumow, our manager at the time, and said: ‚hey, where are these guys and what are they doin‘?‘ he got us into the studio and wrote a song for us. a bizarre song. i’ve got the tape of it (laughs). real ian anderson-sounding! anyway, he says: ‚hey, here you go. i’ll give you the money. here’s a tune.‘

so ian anderson wrote a song for mallard?

one song. it never showed up anywhere. he was in town and the way i thought of it is: here’s this guy who works twenty hours a day and needs to be busy [laughs]. he had a day off, so he wrote us a song. anyway, he was very nice and i appreciated what he did. we went to england and recorded the first album in his studio with his engineer.

Ian Anderson also als Sponsor. Man glaubt es kaum. Die CD ist sogar käuflich zu erwerben: Mallard – in a Different Climate.

Noch einige Worte zum Thema „Wandlungsfähigkeit und Wiedererkennungswert“. Letzteres hat sicherlich auch etwas mit dem Erfolg eines Musikers bzw. eine Band zu tun. Trotz der vielen Verwandlungen (optisch wie musikalisch) hat auch Ian Anderson einen hohen Wiedererkennungswert: Klar, durch sein Flötenspiel auf einem Bein. Kein Wunder also, wenn er dann mit Bezeichnungen wie Hans Huckebein, der Bluesrabe oder Der Rattenfänger der Rockmusik benannt wird. Wer selbst die Namen Anderson oder Jethro Tull und deren Musik nicht kennt (oder nur am Rande), wird zumindest wissen, wo er den Mann mit Flöte auf einem Bein unterzubringen hat. Da spielt es keine Rolle, in welcher Kostümierung er sich zeigt.

Komme ich zum Schluss für heute: In einem anderen Zusammenhang bin ich auf die Frage (besser: Antwort) gestoßen, welchen Hintergrund das Plattencover zu “War Child” bildet. Hinter Ian Anderson im „Minstrel“-Outfit ist die Skyline einer Großstadt zu sehen. Die Frage lautet, ist klar, um welche Stadt es sich dabei handelt. Mit dieser Frage verabschiede ich mich für heute und wünsche Euch nicht zu stressige Arbeitstage.

Cheerio und Tschüss
Euer Willi

09.04.2008

English Translation for Ian Anderson

Was ist bloß mit Ian los? Teil 94: Superstars & Idole Teil 2

Hi, Kretakatze & Lockwood – und allen Besuchern ein fröhliches Hi-ho,

Lockwood lebt noch, wie schön – und willkommen zurück im Club.

Heute möchte ich zwei Fäden vom letzten Mal wieder aufnehmen und miteinander verknüpfen. Zunächst der 1. Faden: Lockwood beschrieb die Endkandidaten aus DSDS der aktuellen Staffel als kompatibel, wohl im Sinne von austauschbar. Dagegen wären Musiker z.B. wie Tom Waits „Typen“, die sicherlich nirgends einen Schönheitspreis gewinnen werden (so übel sah er früher aber gar nicht aus), auch für ihren Gesang nicht, die aber durch ihre Musik als solches zu überzeugen wissen. Ich denke, Lockwood trifft hier den Nagel auf dem Kopf. Selbst der schönste Singsang sagt mir nur wenig zu, wenn so etwas wie Authentizität fehlt. Waits singt Waits, Ian Anderson singt Ian Anderson. Ein Clay Aiken singt in erster Linie nur ein Lied eines anderen. Natürlich gibt es Sängerinnen und Sänger, die vornehmlich Lieder anderer Interpreten vortragen (z.B. Joe Cocker, auf den ich noch kurz zu sprechen kommen werde) und dabei doch ganz „typisch“, echt, also authentisch sind. Diesen Grad hat Clay Aiken für mich nicht erreicht (und wird ihn wahrscheinlich auch nie erreichen).

So nebenbei: Als Nachtrag hier die von Lockwood angesprochenen Versionen des Tom Waits’ Liedes „Jersey Girl“:


Bruce Springsteen Jersey Girl


Tom Waits – Jersey Girl

Das bringt mich zu einem schon früher diskutierten Thema zurück: Coverversionen. Ian Anderson und seine Mannen haben selbst schon gecovert und wurden es. Hier eine längst nicht vollständige Liste der Stücke.

Tom Waits selbst hat ebenfalls Lieder anderer Autoren gecovert – und ist selbst reichlich gecovert worden (nicht nur vom „Boss“ Bruce Springsteen): auch hier eine Liste der Stücke. Und neulich las ich, dass selbst die Schauspielerin Scarlett Johansson (u.a. bekannt aus „Lost in Translation“) ein ganzes Album mit Waits-Liedern auf den Markt bringen will. Interessant vielleicht in diesem Zusammenhang die „Kontroverse“ Rod Stewart vs. Tom Waits.

Meist sind die Originale besser als die nachgespielten bzw. nachgesungenen Lieder. Aber einige Stücke haben dem Original den Rang abgelaufen, haben nicht nur höhere Verkaufszahlen erzielt, sondern das Original ‚förmlich’ in den Schatten gestellt. Mir fällt da z.B. „Black Magic Woman“ von Santana ein, ein Lied aus der Feder von Peter Green, der das Lied damals mit Fleetwood Mac veröffentlichte. Und ich denke da an Richie Havens, wenn einer von Euch den kennt, der besonders durch Versionen von Beatles-Liedern bekannt wurde (Joe Cockers Version von With a Little Help From My Friends werdet Ihr aber kennen). Die gecoverten Versionen waren wohl deshalb „besser“ (wenn man das so überhaupt sagen kann), weil diese die Authentizität haben, von der ich eben sprach.

Nun, was ist mit dem 2. Fädchen? Bei dem ganzen „DSDS“-, „Amercan Idol“-, „Pop Idol“- und sonstigen Kram wird doch auch nur gecovert. Ich kenne mich zwar mit diesen Sendungen nicht aus, aber ich denke, dass es geradezu nicht erwünscht ist, mit eigenen Stücken dort aufzutreten, oder? Also werden Lieder aus der großen Grabbelkiste hervorgeholt. So fällt es dem Zuschauern in der Regel leicht, sein Votum abzugeben, da die vorgetragenen Lieder oft bekannt sind oder zumindest einen entsprechenden Wiedererkennungswert besitzen. Nun habe ich die beiden Fäden am Wickel und knüpfe daraus einen Galgenstrick, denn ich komme zu einem meiner Lieblingsthemen in diesem Zusammenhang: Urheberrechte! Denn wie sieht es mit den Urheberrechten der Autoren dieser Lieder aus? Bekommen die einen müden Euro (Pfund, US-Dollar) dafür, dass ihre Lieder u.a. von skurrilen Nichtskönnern dargeboten werden, wie Kretakatze sagt? Oder geht alles „aufs Haus“, d.h. Sony & Co. schauen zu und lassen hier einmal Urheberrechte Urheberrechte sein.

Wenn ich richtig informiert bin, so haben ja auch nicht die Künstler, die eigentlichen Urheber, die Urheberrechte, sondern treten diese gezwungenermaßen an die Firmen ab (in Form von Nutzungsrechten in Deutschland, da Urheberrechte bei uns nicht übertragbar sind). Dafür bekommen sie dann 9,009 % des Verkauferlöses (wenn ich mich nicht täusche). Also von einer CD für 12,99 € sind das dann 1,17 €. Kein Wunder also, wenn manche Künstler den Vertrieb ihrer Musik selbst in die Hand nehmen wollen (wofür sich das Internet natürlich bestens eignet). Ansonsten dürfen sich auch Nichtskönner an geborgtem Liedergut vergehen, ohne dafür Gebühren zu zahlen (wie gesagt: es geht „aufs Haus“!).

Und damit ich noch mehr vom Kurs abkomme, an dieser Stelle einen kleinen Exkurs: Was die GEMA in etwa ist, solltet Ihr wissen. Die kassiert im Namen der bei ihr vertretenen Künstler für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte; u.a. gehen mehrere Cent pro CD/DVD-Rohling an die GEMA. Und so kassiert die GEMA auch, wenn z.B. die evangelische Kirche bei uns so genannte Bandabende veranstaltet. Und zwar nicht gerade wenig (etwa 200 €). Kassiert wird auch dann, wenn die Bands, die übrigens kostenlos auftreten, keine Titel covern, sondern nur Eigenkompositionen vortragen. Ich nenne so etwas hanebüchen.

Ich gerate in Schlingern. Komme ich so noch einmal kurz auf Tom Waits zurück: So singt Wolfgang Ambros auf seinem Album „Nach mir die Sintflut“ wienerische Versionen von Tom-Waits-Songs, u.a. wird aus Tom Waits‘ „In the Neighborhood“ „Durt bin i daham“. Klingt durchaus interessant.

„In the Neighborhood“ würde ich übrigens zu meinen Lieblingsliedern zählen. Es ist schlicht und trotzdem durch die Bläser sehr schön arrangiert. So komme ich auch gleich zum nächsten Thema des Abends (bei Kretakatze müsste es wohl „des Morgens“ heißen): Lieblingslieder. Es ist gar nicht so einfach, aus der langen Liste der Lieder, die man im Laufe seines Lebens vernommen hat, die Lieder herauszusuchen, die man – immer wieder – am liebsten hört. Einige kann ich natürlich gleich auf Anhieb nennen. Und von Herrn Anderson und seiner Combo ist natürlich auch eines dabei. Aber da fängt das Problem schon an, denn es sollte immer nur ein Lied sein – pro Gruppe bzw. Interpret. Und was sollte da das mir liebste Stück von Jethro Tull sein? Welche Lieder sind denn Eure Lieblinge? Nur frei heraus damit und ohne falsche Scham.

Mit dieser kleinen Hausaufgabe entlasse ich Euch heute. Wir bleiben am Ball bzw. an der Tastatur und hören voneinander.

Bis dahin
Euer Wilfried

01.04.2008

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Kretakatzes Beitrag hat sich mit dem meinen überschnitten. Von daher schreiben wir etwas aneinander vorbei.

Wilfried

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Hallo Ihr Lieben,

„Wellcome Back“ Lockwood – da hattest Du ja wohl in letzter Zeit einigen Stress an der Backe. Auch von mir noch herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Hauptsache, Du hast alles gut überstanden.

Lieber Wilfried, es tut mir leid, wenn ich Dich mit meinem „American Idol“-Kram auf’s Glatteis geführt habe, wie Du schreibst. Das war nicht meine Absicht. Deine Reaktion klang ein wenig gereizt. (Immerhin hat es Mr. Aiken damit wohl geschafft wieder etwas Feuer und Schwung in unsere fast eingeschlafene Diskussion zu bringen – wer hätte ihm das nun wieder zugetraut?) Ich hatte auch bereits den Verdacht, dass ich mich mit meinem Beitrag über Clay Aiken zu weit vom eigentlichen Thema Deines Weblogs entfernt habe, deshalb auch mein Kommentar in der zugehörigen Mail. Veröffentliche ihn einfach nicht. Ich könnte mir vorstellen, dass Jethro Tull Fans, die in Dein Weblog surfen, noch genervter sind als Du, wenn sie dort mit Clay Aiken konfrontiert werden. Jethro Tull Fans sind, glaube ich, überhaupt recht schnell genervt. Und aus Deiner Reaktion auf meine Geschichte schließe ich, dass einmal wieder vieles von dem, was ich eigentlich deutlich machen wollte, überhaupt nicht angekommen ist. Da habe ich also mal wieder mein Ziel verfehlt – sechs – setzen!

Vorneweg – Du brauchst nicht zu befürchten, dass ich bei DSDS lande. Ist Dir tatsächlich entgangen, dass ich dieses Thema bereits behandelt hatte, und zwar abschließend? Zur Erinnerung: Es war dies mein Beitrag, in dem ich Judith Lefeber vorgestellt hatte.

Jetzt sind also wohl doch noch ein paar Erläuterungen angebracht… Es war nicht meine Absicht Euch Clay Aiken als neue musikalische Offenbarung zu präsentieren. Seine Musik ist nicht mein Stil. Ein paar der Klassiker, die er im Programm hat – z.B. Without You, Everything I Do (I Do It For You) oder die Elton John Titel – höre ich ganz gerne, aber die Originale sind für mich völlig ausreichend, zumal sich seine Covers von den Originalen kaum unterscheiden. (Über Sinn und Unsinn von Covers könnte ich auch noch einiges schreiben, aber das wäre ein eigenes Thema). Die meisten seiner sonstigen Songs oder Hits würde ich in die Kategorie „seichte Schlager“ einordnen, Vieles klingt für mich einfach langweilig. Dazu kommen einige Titel, die deutlich jenseits meiner Toleranzgrenze für Sentimentalität liegen (wie z.B. „Mary Did You Know“, und es gibt da noch Krasseres). Und dann finde ich es auf die Dauer ziemlich anödend, wenn jemand ausschließlich Liebeslieder singt (und das dann gar noch in Kombination mit Weihnachtsliedern). Ich höre gerne Mal Titel mit einem geistreichen Text.

Jetzt fragt Ihr Euch sicher, was ich dann eigentlich mit Mr. Aiken am Hut habe. Genau das habe ich mich auch gefragt, und ich habe versucht dieser Frage nachzugehen. Sie ist mehr oder minder identisch mit der Frage, was halb Amerika mit Mr. Aiken am Hut hat. Allein durch seine Musik ist seine Popularität nicht zu erklären. Leider ist die Frage garnicht so leicht zu beantworten, ich möchte nicht behaupten, dass ich das Phänomen Clay Aiken – und als solches würde ich ihn bezeichnen – schon restlos verstanden hätte. Und vor allem – es hat mit Musik und erst recht mit Jethro Tull nichts zu tun und gehört daher nicht in Dein Weblog. Aber bleiben wir erst einmal noch bei der Aufklärung weiterer Missverständnisse.

Wilfried schrieb: „Die Brille wich schon früh einem Satz Kontaktlinsen.“ Genau das tat sie eben nicht (waren die verlinkten Photos vielleicht doch teilweise so klein, dass man die Brille nicht mehr erkennen konnte?). Für American Idol musste Mr. Aiken natürlich auf Kontaktlinsen umstellen, sonst hätte man ihn nicht auf die Bühne gelassen. Aber kaum war AI vorbei, da kramte er seine Brille wieder raus (vielleicht nicht genau das gleiche Modell). Seither hat er sie in schöner Regelmäßigkeit immer wieder aufgesetzt, die Abstände werden eher kürzer. Besonders Interviews gibt er gerne bebrillt, und bei seiner letzten Konzerttournee stand er wohl mindestens bei der Hälfte seiner Auftritte mit Brille auf der Bühne. Zur Information: Brille ist im Gegensatz zu Kontaktlinsen teurer, unpraktischer, lästiger und man sieht damit auch noch schlechter (eingeschränktes Gesichtsfeld, verzerrte Linien). Das sage ich als Kontaktlinsenträgerin, die über 25 Jahre lang ausschließlich Brille getragen hat. Wer trotzdem Brille trägt, noch dazu als „Künstler“ auf der Bühne, der hat dafür einen bestimmten Grund. Zum einen verleiht eine Brille natürlich Autorität und einen intellektuellen Anstrich. Für Mr. Aiken dient sie nach meiner Einschätzung vor allem dazu sein altes „Nerd“-Image zu pflegen, so als wollte er sagen: „Ich habe mich nicht wirklich verändert, ich bin immer noch der Gleiche.“

Dann hat mich einmal mehr verwundert, lieber Wilfried, dass Du die Frage, ob jemand ein „Superstar“ ist, an der Höhe seines Kontostands festmachst. Wenn das wirklich das Kriterium ist, dann ist mit Sicherheit Mr. Anderson der zigfach, wenn nicht hundertfach, größere Superstar, und das nicht nur, weil er bereits ein paar Jahre länger Zeit hatte Geld zu verdienen. Mr. Aiken investiert sein Geld nämlich nicht in Lachsfarmen, er steckt es in die von ihm selbst gegründete Stiftung für geistig behinderte Kinder und wird daher im Vergleich zu Mr. Anderson wohl immer ein armer Schlucker bleiben. Er ist im Übrigen auch kein Superstar, der Ausdruck passt für ihn nicht, und er sieht sich selbst auch ganz sicher nicht als solchen.

Überhaupt zum Begriff „Superstar“ – nach meiner Erinnerung ist er keineswegs so neu, wie Du das zu empfinden scheinst. Auch wenn ich 1970 noch ein „Jungspund“ war, wie Du das zu formulieren beliebtest, kann ich mich an dieses Jahr doch noch sehr gut erinnern. Seit 1970 war ich regelmäßige Leserin der Bravo (und damit natürlich bestens informiert), habe die Charts beobachtet und regelmäßig die Disco besucht (ja, ich war ziemlich früh dran). Neben CCR waren Elton John und Uriah Heep meine Favoriten („Easy Living“ war der erste Song, auf den ich je in einer Disco getanzt habe). Um’s kurz zu machen – den Begriff Superstar gab es damals schon, die Bravo war voll davon. Die Beatles und die Stones gehörten dazu, aber auch für Neil Diamond wurde nach meiner Erinnerung dieser Begriff gebraucht. Ob er amerikanisch ist, weiß ich nicht, Pop- und Rockmusik waren damals überwiegend britisch. Auf jeden Fall liegen auch meine musikalischen Wurzeln in der ersten Hälfte der siebziger Jahre, allerdings waren sie weniger von Progressive Rock geprägt als Deine. Zu Jethro Tull bin ich, wie ich ja bereits erwähnt habe, erst 1978, also in meiner musikalischen Spätzeit gestossen, als ich eigentlich schon erwachsen war (na ja, wie Ihr wisst bin ich niemals wirklich erwachsen geworden…). Aber das nur am Rande.

Dann hat Dich interessiert, lieber Wilfried, wie bekannt Mr. Aiken wohl in Europa (bzw. in Deutschland) ist. Das weiß ich auch nicht, aber ich würde vermuten, dass ihn kaum Einer kennt. Ich glaube nicht, dass er hier schon einmal aufgetreten ist oder im Fernsehen zu sehen war – so etwas ist für den Bekannheitsgrad entscheidend. Der Austausch von „Stars“ über den Atlantik hinweg funktioniert auch nicht mehr so wie noch vor 30 Jahren. Abgesehen von den „wirklichen Superstars“, zu denen ich Mr. Aiken eben nicht zähle, sind die USA und Europa weitgehend getrennte Märkte (auch das ist übrigens ein interessantes Thema). Außerdem ist das Interessante an Mr. Aiken’s nicht seine Musik, sondern so ziemlich alles andere – und davon ist in Europa vermutlich nie etwas angekommen. Der Verkaufsrang für Mr. Aiken’s letztes Werk bei Amazon wundert mich daher nicht. Man sollte dabei auch bedenken, dass das Album bereits anderthalb Jahre alt ist, da kann man die Chart-Position schlecht mit etwas vergleichen, das erst vor ein oder zwei Monaten herausgekommen ist.

Dann möchte ich doch noch betonen, dass man meiner Meinung nach Mr. Anderson und Mr. Aiken in ihrer Eigenschaft als Musiker nun wirklich nicht miteinander vergleichen kann, das ist als vergleiche man Äpfel mit Kartoffeln – beide sind pflanzlich und man kann sie essen, zweitere allerdings erst nach vorheriger Garung. Scherz beiseite – die Herren spielen nicht die gleiche Sportart. Mr. Anderson ist ein Musiker, der seine Songs selbst schreibt und er ist allein dadurch einzigartig und unersetzlich – ohne ihn würde es diese Musik nicht geben. Mr. Aiken ist ein reiner Interpret, der singt was andere geschrieben haben, und damit ist er prinzipiell austauschbar. Singen können Viele, und die auf Hochtouren laufende Idol-Industrie (es gibt da ja auch noch x-factor, America’s Got Talent und andere) spuckt neue Talente in immer kürzeren Abständen aus, und die werden immer unglaublicher und immer jünger (auch zu diesem Thema habe ich in letzter Zeit einiges Material gefunden). Da wird es immer wieder einen Anderen geben, der besser ist, jünger oder auch einfach nur neuer, und den Favoriten vom letzten Jahr verdrängt, wenn dieser nicht neben seinen gesanglichen Fähigkeiten noch andere aufweisen kann oder durch seine Persönlichkeit einzigartig und unersetzlich ist.

Vor diesem Hintergrund meinst Du, Mr. Aiken wäre ein „Sänger, der sich schnell verbraucht“. Nun, auf 40 Jahre Musikerdasein kann er noch nicht zurückblicken, er ist halt auch noch nicht einmal 30, da hat er schlechte Karten… Dafür, dass er 31 Jahre jünger ist als Mr. Anderson, kann er nichts. Aber ich wäre bereit, lieber Wilfried, mit Dir darum zu wetten, dass in 31 Jahren, wenn wir beide bereits als Tattergreise im Altersheim sitzen und selbst Mr. Aiken nicht mehr ganz jung ist, der Name Clay Aiken in den USA immernoch ein Begriff sein wird. Und das selbst dann, wenn er morgen seine Stimme verlieren und nicht mehr besser klingen sollte als der Mr. Anderson der heutigen Tage. Clay Aiken ist nämlich nicht einfach irgendein amerikanischer Schnulzensänger, er ist eine Symbolfigur, ein „echtes Idol“ im deutschen Sinn des Wortes. Dass das so ist, und warum das so ist, konnte allerdings zugegebenermaßen aus meinem letzten Beitrag über ihn nicht hervorgehen.

Das liegt daran, dass das alles mit Musik nichts zu tun hat, ein Idol hat mit Musik überhaupt nichts zu tun. Mr. Anderson war nie Dein Idol, hast Du geschrieben, lieber Wilfried – meins auch nicht. Ein Idol braucht nämlich einen Vorbild-Charakter und eine Botschaft, und das kann Mr. Anderson nicht bieten – Mr. Aiken schon. Im Fall von Mr. Aiken war die Musik nur das Medium, das ihn an die Öffentlichkeit katapultiert hat, damit sie ihn kennenlernen konnte. Gut, natürlich singt er und verkauft auch CDs, aber ich könnte mir vorstellen, dass in seinem Fall manche die CD mehr wegen ihm als wegen der Musik darauf kaufen. Um das zu verstehen, muss man seine Vorgeschichte kennen und alles, was seither über ihn durch die Presse gegangen ist (oder zumindest einen Teil davon, denn ich habe mit Sicherheit auch nicht alles mitbekommen), auch seine Aktivitäten außerhalb der Popmusik (die schon erwähnte Stiftung, die Tätigkeit als UNICEF-Botschafter usw.) gehören dazu.

In meinem letzten Beitrag hatte ich Mr. Aiken mit Superman verglichen – das war mehr als Gag und scherzhafte Annäherung an die Wahrheit gedacht. Tatsächlich hat er nämlich viel mehr Ähnlichkeit mit einem ganz anderen Helden der Weltgeschichte. Dazu zwei Bilder aus dem Claymania-Video:

Ich glaube man braucht keine besondere Phantasie, damit einem das wie eine moderne Illustration zum Neuen Testament erscheint. Da war Zachäus in einen Baum gestiegen, von dem er wußte, dass Jesus an ihm vorbeikommen würde, denn er wollte zumindest einmal einen Blick auf den Messias werfen. Hier sind gleich mehrere Zachäus auf’s Sims gestiegen, damit sie ihrem Idol wenigstens einmal die Hand schütteln können. Und das sind keine ausgeflippten Teenies, die heute für den Einen kreischen und morgen für einen Anderen. Die sehen aus wie gestandene Männer, älter als der Messias, der eingerahmt von seinen Sicherheitsleuten an ihnen vorüberschreitet.

Die Symbolik in der Geschichte des Mr. Aiken und die Zahl der Parallelen zu Jesus ist wirklich frappierend. Da gibt es z.B die Weissagung nach seinem Vortrag von „Somewhere Out There“ bei American Idol (das Video hatte ich verlinkt), sie kommt von der farbigen Dame in der Jury (ich weiß nicht einmal, wer das ist, aber sie muss wohl hellseherische Fähigkeiten haben). Sie erklärt Mr. Aiken zum Mysterium und prophezeit ihm eine außergewöhnliche Zukunft, denn „You are pure“. Sie hat den Nagel auf den Kopf getroffen.

Kaum ist seine Idol-Zeit vorbei, der bekehrt er auch schon Saulus zum Paulus. Es ist dies Jimmy Kimmel, der Talkshow-Gastgeber, der sich im Claymania-Video als „Leader of the Claymates“ outet und Mr. Aiken anschließend in seiner Show als „My best friend in the whole world“ ankündigt. Das war nicht immer so. Dazu muss man wissen, dass Mr. Aiken zu Zeiten seiner Idol-Auftritte nicht nur mit Euphorie gefeiert, sondern auch mit jeder Menge Spott von Seiten der Medien bedacht wurde, so wie er überhaupt in seinem ganzen Leben noch nie über Mangel an Spott hat klagen müssen. Insbesondere wurde schon früh vermutet er müsse wohl schwul sein, denn er sähe so „gay“ aus und würde sich so „gay“ benehmen. Von den Spöttern war Mr. Kimmel einer der Vorderen. Unter diesem Gesichtspunkt gewinnen Bemerkungen Kimmel’s in der Show von 2006 wie „…the man whose poster adorns my bedroom“, „This is why there are rumors about you and me together.“ und „I would never have imagined, when you where a young man on American Idol…“ eine ganz neue Bedeutsamkeit. Es klingt als läge diese AI-Zeit Jahrzehnte zurück, es ist gerade einmal 3 Jahre her.

In diesem Video, das den ersten Auftritt Mr. Aikens in Kimmels Show nach American Idol zeigt, kann man sehen, wie der inzwischen geläuterte 40-Jährige Kimmel den Kniefall vor seinem (fast) 25-Jährigen Meister macht, dem er fortan freudig dienen wird. Das Video ist noch aus anderem Grund interessant, denn Mr. Aiken kommt hier neben Britney Spears zu sitzen. Britney war zu diesem Zeitpunkt bereits seit etwa 5 Jahren im Geschäft, und ich finde sie sieht schon ziemlich fertig aus. Jedenfalls ist sie so angemalt, dass man von ihrem Gesicht kaum noch etwas sieht. Sie ist 3 Jahre jünger als Mr. Aiken und auf mich wirkt sie kindisch und naiv. Mr. Aiken sieht zwar aus als wäre er höchstens 16, aber man merkt ziemlich schnell, dass er weder auf den Kopf noch auf den Mund gefallen ist. Die beiden sollten in den nächsten Jahren zu Haupt-Zielscheiben der Boulevard-Presse werden, und da zeigt sich, dass man nicht intelligent sein muss um Popstar zu werden, aber es ist sicher hilfreich, wenn man im Haifischbecken Hollywood ein paar Jahre ohne Nervenzusammenbruch überleben will. Britney Spears war diesen Anforderungen nicht gewachsen.

Inzwischen sind bereits 5 Jahre vergangen und es ist immer noch nicht geklärt, ob Mr. Aiken nun eigentlich schwul ist oder nicht und wie sich sein nicht existentes (oder doch nur im Geheimen verborgenes?) Liebesleben im Detail gestaltet – und die Bemühungen der Boulevardpresse Licht in dieses Dunkel zu bringen und diese ganz Amerika bewegende Frage zu beantworten könnten sich noch einige Jahre hinziehen. Nein, so jemand wird nicht langweilig, er wird „Sexiest Singer“. Aber das nur am Rande.

Habe ich hier schon einmal den Satz „Zeige mir Deine Fans, und ich sage Dir, wer Du bist“ gebraucht? Kein anderer mir bekannter Star kann auf eine vergleichbare Fangemeinde herabschauen – sie ist auch in Amerika bereits sprichwörtlich. Seine Fans haben sich in durchstrukturierten (soll ich sagen „kirchenähnlichen“) Gruppen zusammengeschlossen und sind bestens organisiert. Da wird nicht nur dafür gesorgt, dass, wo immer der Meister erscheint, eine ausreichend große Abordnung zur Stelle ist, um für den ihm gebührenden Geräuschpegel zu sorgen. Tritt Mr. Aiken bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung im Fernsehen auf, dann werden schon im Vorfeld 30.000 $ an Spenden gesammelt und zu seinen Ehren in seinem Namen überwiesen. Ruft er im Fernsehen zur Beteiligung an einer Aktion auf, kann er sicher sein, dass schon am nächsten Tag seine Jünger zahlreich ausströmen werden, um seiner Bitte Folge zu leisten.

Selbst Präsident Bush hat schon erkannt, dass Mr. Aiken eine nicht zu unterschätzende Größe darstellt. Auf einem seiner Popularitätstiefs (bestand seine Amtszeit nicht eigentlich nur aus Populariätstiefs?) hielt er es für vorteilhaft, Mr. Aiken in eine eigens gegründete Kommission zur Ausarbeitung von Verbesserungsvorschlägen für die Förderung und Integration von geistig Behinderten zu berufen – das war natürlich ein PR-Gag, um ein bißchen von der Popularität Clay Aikens zu profitieren. Wie wir in dem von mir im letzten Beitrag verlinkten Interview bei Jimmy Kimmel gehört haben, hat es Mr. Bush nicht einmal für nötig gehalten Mr. Aiken zum Dank dafür, dass er sich mit seinem Namen schmücken darf, zumindest einmal persönlich die Hand zu schütteln. So wird in den USA Politik gemacht. Aber Politik ist ja auch nicht unser Thema.

Ich könnte noch eine Weile so weiter erzählen, aber ich denke es reicht, Ihr werdet mich sowieso schon für total übergeschnappt erklärt haben. Fassen wir also zusammen: Der moderne amerikanische Jesus ist von Hause aus Lehrer für geistig behinderte Kinder (seelig sind die geistig Armen) und verdient sein Geld als Entertainer. Predigen tut er nicht, das ist total out und würde in der heutigen Zeit nicht gut ankommen. Hin und wieder ein Spendenaufruf oder die Bitte, sich an einer caritativen Aktion zu beteiligen – das reicht – und seine Fangemeinde kommt diesen Bitten freudig nach. Ansonsten tut er lieber selber etwas, z.B. für seine Stiftung oder als UNICEF-Botschafter. Er ist bekennender Christ, steht der Kirche allerdings kritisch gegenüber. Seit er 2004 das sich am schnellsten verkaufende Weihnachtsalbum der Neuzeit herausgebracht hat, ist er außerdem der all-amerikanische, singende Weihnachtsengel, der alljährlich eine spezielle Weihnachtstournee ausschließlich mit Weihnachtsliedern absolviert (davon habt Ihr ja auch bereits ein Kostprobe abbekommen). Er hatte noch nie eine Freundin und hält nichts von vorehelichem Sex, lebt also in völliger Enthaltsamkeit. Seit 5 Jahren bemüht sich die Boulevardpresse ihm irgendetwas anzuhängen – man hat sogar schon seine Stiftung wegen angeblicher Verschwendung von Spendengeldern durchleuchten lassen – es konnte noch kein Makel an ihm gefunden werden. Spott und Häme aus den Medien perlen inzwischen an ihm ab wie Regen auf einem frischgewachsten Rolls Royce und lassen seinen Heiligenschein nur noch heller erstrahlen. Soweit zu Mr. Aiken.

Also wie Ihr seht, hat das alles höchstens noch am Rande mit Musik zu tun, es würde eher in eine Rubrik „Dies und das“ oder „Leute von heute“ passen. Eigentlich ist das schon länger mein Thema. Seit nunmehr einem Jahr durchstreife ich diesen Menschenzoo, den man YouTube nennt, und stoße dabei auf Persönlichkeiten, an denen ich aus irgendeinem Grund hängen bleibe. Der Erste dieser Art war Mr. Anderson, und so bin ich im letzten April schließlich in Deinem Weblog gelandet, lieber Wilfried. Aber Jethro Tull und Mr. Anderson können mich nicht auf ewig fesseln, so ziemlich alle Aspekte seiner Person haben wir inzwischen durchgekaut, und viel Neues ist von seiner Seite nicht mehr zu erwarten. So bin ich denn weiter gesurft und über John Fogerty, k.d. Lang und Andere inzwischen zu Clay Aiken gelangt. Kein Mensch weiß, wie lange er mich noch beschäftigen wird und auf wen ich danach stoßen werde.

Tatsächlich interessiert mich zurzeit wie sich die Musikbranche seit den 70ern verändert hat und wie sie heute funktioniert, und da spielen nun einmal Talentshows eine große Rolle. Die Entwicklung ist allgemein von den Bands weg hin zu Einzelmusikern und Interpreten gegangen. Irgendetwas mit Jethro Tull Vergleichbares gibt es nicht mehr (jedenfalls bin ich bisher noch nicht darauf gestoßen). Wenn mich die Person oder die Story interessiert, dann habe ich auch keine Probleme damit, wenn die zugehörige Musik nicht hundertprozentig meinem Geschmack entspricht.

So lebt denn nun wohl, meine lieben Freunde
Kretakatze

PS.:Zum Lebewohl kann ich mir dann aber doch nicht verkneifen Euch noch ein kleines Video mit auf den Weg zu geben. Es ist ein Kuriosum, denn in ihm ist Musik von Jethro Tull (ca. ab 0:30) und danach auch noch Clay Aiken zu hören (da könnt Ihr ja dann abschalten). Der Hintergrund: Zum letztjährigen Weihnachtsfest wurde im amerikanischen Fernsehen eine „Holiday On Ice“-Show gesendet, zu der Clay Aiken live gesungen hat. Hier werden Bilder vom Training der amerikanischen Meisterin im Eiskunstlauf gezeigt, die zu Clay Aiken’s Version von „Winter Wonderland“ (darauf könnt Ihr sicher gut verzichten) auf dem Eis ihre Vorführung übt. Mr. Aiken singt zu ihrem Training natürlich nicht live sondern kommt aus der Konserve. Zuvor werden – passend zum Thema Eiskunstlauf – ein paar Takte von „Skating Away (On The Thin Ice Of A New Day)“ angespielt. Der alte Tull-Klassiker ist in den USA also auch noch nicht ganz in Vergessenheit geraten.

01.04.2008

English Translation for Ian Anderson

Was ist bloß mit Ian los? Teil 93: Superstars & Idole

Hallo Wilfried, Hallo Lockwood,

nun ist es mir doch nicht mehr gelungen diesen Beitrag rechtzeitig zu Ostern fertigzustellen, und daher kann ich Euch jetzt nur noch nachträglich wünschen frohe Ostern verbracht zu haben. Im Schnee waren die bunten Eier ja sicher auch für Euch leicht zu finden…

Wilfried hat sich in letzter Zeit verdient gemacht, indem er zu Ehren des 40-jährigen Jubiläums von Jethro Tull zahlreiche neue Videos erstellt und auf YouTube geladen hat – einen Überblick über die gesamte Schaffenszeit von 1968 bis heute und Raritäten aus den frühen Jahren (z.B. die Aufnahmen aus dem Chateau D’Herouville). Vielen Dank für diese Kostbarkeiten! Und in seinem letzten Beitrag hat er wieder viele neue Details und Links zu Jethro Tull Seiten geboten. Da kann ich leider nicht mithalten.

Ich hatte Euch letztes Mal versprochen noch ein paar Einblicke in die internationale Superstar-Suche zu geben, und so kommt hier also heute die Folge „American Idol“ (wenn ich auch eher bezweifle, dass Ihr darauf großen Wert legt…). Simon Cowells Bemerkung über die teilweise bescheidene Qualität der Teilnehmer an World Idol hat mich dazu veranlasst einmal einen Blick über den großen Teich zu werfen, was denn die Amerikaner diesbezüglich so zu bieten haben. Und ich muss zugeben – wer bei American Idol in die Endausscheidung unter die Top 12 kommen will, der muss schon wirklich singen können.

Natürlich hat so ein großes Land auch ein großes Reservoir an Talenten, und die Konkurrenz ist hier besonders hart. Jedes Jahr werden zwischen 70.000 und 100.000 Bewerber für die Show gecastet – zurzeit läuft gerade die 7. Staffel. Ich habe einmal überschlagen, dass eine Jury bei 100.000 Bewerbern und 3 Minuten Dauer je Casting bei 10 Stunden Arbeitszeit am Tag ziemlich genau 2 Jahre (500 Arbeitstage) benötigt, um sich alle Kandidaten anzuhören. Das wäre natürlich so nicht machbar, die Castings müssen innerhalb von ein paar Wochen abgewickelt werden. Die Kandidaten müssen daher schon zwei Hürden bei örtlichen Musikproduzenten o.ä. genommen haben, damit sie vor der Jury aus Simon Cowell und Co. vorsingen dürfen.

Da aus diesen zeitaufwändigen und teuren Castings wenigstens ein bißchen Geld wieder hereinkommen soll, werden die Auftritte vor der Star-Jury gefilmt. So können die ersten Anfänge der späteren Popstars dokumentiert werden, aber auch die Darbietungen skurriler Nichtskönner werden festgehalten und zur Belustigung im Fernsehen gesendet. Teilweise habe ich da ja fast Mitleid mit Mr. Cowell bekommen – es muss schon hart sein, wenn man sich tagelang von morgens bis abends solche Aufführungen ansehen und anhören muss.

Und da ich nun einmal so gerne Geschichten erzähle – hier jetzt ein Beispiel dafür, wie man dieser Tage in den USA ein Pop-Star wird. Diese Geschichte wird Euch wahrscheinlich ein wenig an Kurt Nilsen erinnern, und tatsächlich haben sich beide Geschichten im gleichen Jahr zugetragen und auch die Hauptdarsteller sind gleich alt.

Ende 2002 erscheint in Charlotte, North Carolina, ein junger Mann mit Namen Clay Aiken zu den Castings (die auf englisch übrigens Audition heißen) für die zweite Staffel von American Idol. Er singt Somewhere Over The Rainbow (meiner Meinung nach keine sehr glückliche Wahl), und da kann er seine „Startnummer“ 88 drehen und wenden, wie er will, er wird nicht einmal bis zu den Juroren vorgelassen. Er ist halt auch Einer von denen, die nie einen Plattenvertrag bekommen werden, weil bei ihrem Aussehen sowieso niemals jemand eine Platte von ihnen kaufen würde. Unvorstellbar, dass sich dieser Mr. Aiken schon bald kaum noch vor den Scharen seiner kreischenden, weiblichen Fans würde retten können. Kein Mensch würde vermuten, dass er hier einen künftigen Gewinner der Wahl zu „America’s sexiest Singer“ vor sich hat. Aber machen wir erst einmal der Reihe nach…

Von seiner Absage in Charlotte lässt sich Mr. Aiken nicht entmutigen. Er nimmt den Flieger nach Atlanta, Georgia, wo die nächsten Castings stattfinden, wartet dort 36 Stunden in der Schlange und campiert auf der Strasse. Diesmal schafft er es tatsächlich bis zu Simon und Randy vorzudringen, und was er zu hören bekommt, nachdem er Always And Forever vorgetragen hat, kommt uns bekannt vor: „Großartige Stimme, aber Du siehst nicht aus wie ein Pop Star“. Bemerkenswerterweise sagt Mr. Cowell den Satz allerdings genau anders herum: „Du siehst nicht aus wie ein Pop Star, aber großartige Stimme“. Und bekanntermaßen bringt man das schlagende Argument immer zum Schluss. Das Video zeigt nicht die komplette Audition, da wurde einiges herausgeschnitten, aber trotzdem scheinen mir doch die Amerikaner weniger zögerlich als die Norweger, den unkonventionell aussehenden Kandidaten durchzulassen. Am Aussehen kann man was machen, meint Randy, und tatsächlich wird Mr. Aiken im Laufe seiner Karriere sein Aussehen noch ganz erheblich verändern.

Jetzt hat er erst einmal eines der heißbegehrten goldenen Tickets nach Hollywood ergattert, aber damit ist er natürlich noch lange nicht im Fernsehen. Zusammen mit über zweihundert anderen Kandidaten muss er über Tage hin in endlosen Vor-, Zwischen- und Endrunden vorsingen, es wird gesichtet und gesiebt. Letztlich gelangt er in die Runde der 32 Kandidaten, die live im Fernsehen vorsingen dürfen, doch er kann die Zuschauer zunächst nicht überzeugen – er fällt durch. Allerdings bekommt er noch eine letzte Chance, er darf zusammen mit 5 weiteren Kandidaten um eine Publikums-Wildcard antreten (wurde die eigentlich extra für ihn erfunden?). Er singt Don’t Let The Sun Go Down On Me, und keine Sorge, das haben sie auch nicht getan. Ganz im Gegenteil, seine Sonne hatte gerade erst angefangen aufzugehen. Und so betritt Pumuckl, Markenzeichen abstehende Ohren, die Bühne von American Idol: Somewhere Out There.

Ja, Pumuckl hat etwas Magisches, man könnte auch sagen etwas Charismatisches. Und er lernt schnell. Nur wenige Wochen später, bei To Love Somebody, sieht er zwar immernoch aus wie Pumuckl, aber der Auftritt erinnert bereits mehr an Frank Sinatra. Ich will’s kurz machen – diese Musik ist ja wahrscheinlich auch nicht so ganz Euer Stil. Überraschenderweise gewinnt Mr. Aiken den Titel NICHT. Er wird mit einem denkbar knappen Rückstand von 0,5% Zweiter. Hinterher wurde von verschiedener Seite angezweifelt, ob das Ergebnis korrekt war. Tatsächlich waren wohl zum Zeitpunkt der Abstimmung die Telefonleitungen und der Wahlcomputer überlastet, viele Clay Fans beschwerten sich darüber, dass sie mit ihrem Anruf nicht durchgekommen seien. Die Produzenten der Sendung gaben später auch an, dass Clay Aiken in allen vorangegangenen Abstimmungen vor dem späteren Sieger Ruben Studdard gelegen habe. Aber letztlich kann das Mr. Aiken auch gleichgültig sein. Er war nach American Idol 2 ein gemachter Mann. Der Gewinner Ruben Studdard hatte dagegen eher bescheidenen Erfolg.

Clay Aiken gilt heute nach Kelly Clarkson und Carrie Underwood als der dritterfolgreichste Teilnehmer an American Idol. Wen es interessiert, der kann sämtliche von ihm gehaltenen Verkaufsrekorde und gewonnenen Preise bei Wikipedia nachlesen. Was mich an der Geschichte des Mr. Aiken so fasziniert hat, ist zweierlei. Zum Einen die unglaubliche Ironie des Schicksals, die sich durch sie hindurchzieht wie ein roter Faden und alle Erwartungen auf den Kopf stellt. Da kommt Mr. Aiken zu seiner Audition herein und antwortet auf die Frage, warum er da sei, achselzuckend und lachend mit den Worten „Well, I am the American Idol“. Das war sicher selbstironisch gemeint, und die Juroren können über diesen Scherz nicht einmal müde lächeln, aber es sollte sich als eine nackte Tatsache entpuppen. Im weiteren Verlauf des Gesprächs erklärt er dann noch im Rückblick auf American Idol 1, er hätte in dieser Konkurrenz gut der Erste oder mindestens der Zweite sein können (das wurde bei obigem Video herausgeschnitten). Präziser hätte er seine spätere Platzierung nicht voraussagen können.

Und so geht es gerade weiter: Mehr als einmal hat Mr. Aiken in frühen Interviews betont, dass ihm schon klar sei, dass er nicht auf einen Schönheitwettbewerb gehöre. Wo fand einer seiner ersten großen Auftritte nach American Idol statt? Auf einem Schönheitswettbewerb. Natürlich ging es dabei (This Is The Night) nicht um seine eigene Schönheit, aber offensichtlich fanden es die Veranstalter von „Miss America“ nicht unpassend, diesen „hottest guest star ever“ mitten zwischen die geballte „American Beauty“ zu stellen. So furchtbar „hot“ sieht er für meine Begriffe hier ja noch nicht gerade aus, aber das sollte sich auch noch ändern. Anfänglich wirkte es auf mich eher rührend, wie dieser Junge, der eigentlich noch aussieht wie ein halbes Kind, auf der Bühne steht und schmettert, dass die Halle bebt. Schon ein Jahr später wirkt er allerdings merklich gereift, und noch einmal drei Jahre später ist er nicht mehr wiederzuerkennen: Drei Versionen von Solitaire (2003 – 2004 – 2007).

Das Bemerkenswerteste an der Geschichte des Mr. Aiken ist aber wahrscheinlich seine geradezu unglaubliche Transformation vom kopflastigen, spießig-ungelenken Außenseiter (amerikanisch Nerd) zum witzig-unterhaltsamen Frauenschwarm mit Sex-Appeal. Eigentlich sollte man das für unüberbrückbare Gegensätze halten, Mr. Aiken schaffte die komplette Verwandlung innerhalb von etwa drei Jahren. Und hier das Ergebnis: Claymania Anno 2006 mit anschließendem Talkshow-Auftritt. Das hat mich ein wenig an die Metamorphosen des Mr. Anderson erinnert, wobei es da ein paar wesentliche Unterschiede gibt, und das nicht nur, weil die äußerliche Entwicklung der beiden Herren in umgekehrte Richtung verlaufen ist – bei Mr. Aiken spiegelt sie den Effekt von Erfolg und zunehmender Reife wider, bei Mr. Anderson sind die Ursachen wohl eher nachlassender Erfolg und zunehmendes Alter.

Dazu kommt, dass Mr. Aiken nach eigener Aussage kaum Einfluss darauf hat, wie er aussieht. Seine Aufgabe sei es zu singen, um sein Aussehen kümmern sich Andere. Und so kommt es, dass er inzwischen so ziemlich alle Haarfarben, Haarlängen und Frisuren durch hat, da haben sich seine Stylisten nicht lumpen lassen. Hier eine kleine (unvollständige!) Auswahl der Erscheinungsbilder des Mr. Aiken aus den letzten 5 Jahren in etwa chronologischer Reihenfolge. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass er wohl einer der meistphotographierten Männer der letzten Jahre sein muss, und das ist auch nicht weiter verwunderlich. Er ist einfach so ergiebig, denn er sieht ständig anders aus.

Jetzt fehlt aber noch ein wichtiger Aspekt. Oben habe ich geschrieben, Mr. Aiken habe sich vom „Nerd“ (mir fehlt irgendwie das passende deutsche Wort, so eine Art spießiger, zurückgezogener, intellektueller Bücherwurm…) zum „Hottie“ (braucht, glaube ich, keine Übersetzung…) entwickelt. Das stimmt so nicht ganz. Eigentlich ist es eher so, dass er gelernt hat, wie man sich jederzeit bedarfsgerecht vom Einen ins Andere verwandelt. Als ich neulich auf YouTube auf ein Video mit der Überschrift „Clay Aiken = Superman“ gestossen bin, habe ich zuerst gedacht, jetzt sind seine Fans völlig übergeschnappt. Bis mir aufgefallen ist, dass das garnicht so abwegig ist. Es ist vor allem diese rasend schnelle Verwandlung von Clark Kent in Superman, die auch er inzwischen perfekt beherrscht. Dazu kommt die verblüffende Ähnlichkeit der Namen Clark Kent und Clay Aiken. Das hat mir zu denken gegeben. Hier zum Vergleich:

Clark Kent

Superman

Clay Aiken

Superclay

Ist also Mr. Aiken der Superman unserer Tage? Oder geht hier einmal wieder meine überschwängliche Phantasie mit mir durch? Und mit dieser uns alle bewegenden Frage verabschiede ich mich für heute.

Es grüßt Euch ganz herzlich bis zum nächsten Mal Eure Kretakatze

PS.: Passend zu weißen Ostern möchte ich Euch nun doch zum Schluss noch ein kleines Weihnachtslied kredenzen. Natürlich wird es von niemand anderem gesungen als unserem wandlungsfähigen Mr. Aiken. Es heißt Mary, Did You Know, und wenn Ihr Euch noch an John Fogerty und „Mary, Don’t You Weep“ erinnert, dann ahnt Ihr schon, was Euch erwartet. Bleibt mir nur noch Euch einen guten Rutsch in die Sommerzeit zu wünschen…

27.03.2008

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Hallo Ihr beiden Hübchen,

so langsam werde ich wohl die Handbremse betätigen, sonst landet unsere gute Kretakatze auch noch bei der deutschen Variante von „American Idol“, DSDS mit Dieda Bohlen. Also Mark Madlook, oder wie der heißt, kommt mir nicht in mein Blog.

Okay, ich finde Deine „Geschichte“, wie Du es selbst nennst, liebe Kretakatze, rund um diesen Clay Aiken ganz witzig. Sie zeigt, dass so etwas wie der „amerikanische Traum“ durchaus noch möglich ist. Und nicht nur die Karriere von Clay Aiken, er selbst, ist sehr amerikanisch – für mich etwas zu sehr amerikanisch. Ich bestätige gern, dass er eine außergewöhnliche Stimme hat – trotz seiner Schmalbrüstigkeit. Aber alles klingt für mich sehr nach Gospelchor oder Musical. Wobei mir Gospel als solche besser gefallen als der Singsang von Herrn Aiken. Wem das gefällt, okay. Wenn es Dir, Kretakatze, gefällt, so ist das auch okay. Aber da höre ich doch lieber die leicht nasale Stimme von Herrn Anderson (aus alten Tagen, versteht sich).

Superstar? Für viele ist er sicherlich ein Superstar. Und wenn man das Bankkonto von Herrn Aiken einsehen könnte, dann dürfte dieses der Höhe nach das eines Superstars sein. Aber schon allein mit dem Begriff Superstar habe ich meine Probleme (wie vor allem mit dem Begriff Idol). Ian Anderson war und ist nie mein Idol gewesen. Und er selbst wird sich nie als Superstar gefühlt haben. Ich denke, dass das ganze Superstar-Gerede auch ziemlich typisch amerikanisch ist, das sich leider mit den Jahren auch bei uns eingebürgert hat (z.B. DSDSuperstar). Um in Deutschland ein Superstar nach amerikanischem Vorbild zu werden, dann müsste schon jeder zweite Deutsche die Scheiben von einem kaufen.

Natürlich hat uns Kretakatze Clay Aiken auch deshalb präsentiert, weil das anfängliche Äußere des guten Mannes bestimmt nicht die spätere Karriere erahnen ließ. Nun wurde uns durch Dich, Kretakatze, Herr Aiken gewissermaßen in Zeitraffer vorgestellt. Die Bilder aber stammen aus einem Zeitraum von fünf bis sechs Jahren. Da ist der anfangs recht junge Mann schon allein äußerlich gereift (fülliger geworden mit leichtem Bartwuchs). Die Brille wich schon früh einem Satz Kontaktlinsen. Und die großen Ohren wurden dann von längeren Haaren kaschiert. Den Rest besorgten Stylisten. Nein, so verwunderlich findet ich den Wandel gar nicht. Und ein halbwegs forsches Auftreten war schon am Anfang vorhanden, wenn auch noch etwas ungelenk. Aber auch das lässt sich mit der Zeit ‚korrigieren’. – Was mich interessiert: Wie bekannt ist Clay Aiken eigentlich in Deutschland? (Lt. Amazon.de ist der Verkaufsrang von der CD „A 1000 Different Ways“ bei 145205 – da schneidet ja Jethro Tulls „Live in Montreux“ auf Platz 29874 besser ab, die CD, nicht die DVD, die sich weit besser platziert hat – und Medlock/Bohlens Machwerk „Dreamcatcher“ ist z.B. auf Platz 276 bei den CDs) Bisher habe ich von ihm nichts gehört, aber das ist nicht verwunderlich, weil mich diese Art von Musik (samt dem ganzen Klimborium) nicht sonderlich interessiert. Und wenn ich das richtig sehe, so gehen die Verkaufszahlen selbst in den USA doch gewaltig zurück, wenn sie auch noch sehr hoch sind. Clay Aiken ist, so denke ich mir, ein Typ Sänger, der sich schnell ‚verbraucht’. Und ich sage (schreibe) es noch einmal: Da ist mir ein Ian Anderson lieber, der es immerhin auf 40 Jahre Musikerdasein gebracht hat.

Ich selbst, wie in diesem Blog der letzten Tage ablesbar ist, bin musikalisch in die 70-er Jahre abgetaucht. Da ward Ihr beiden noch junge Spunde, wie man bei uns sagt. Das waren natürlich auch die besten Jahre von Jethro Tull. Überhaupt boten besonders die ersten Jahre der 70-er viel erstklassische Musik. Flowerpower und Psychedelische Musik wurden ad acta gelegt. Es wurde experimentiert, Stile gemischt (besonders Jazz und Rock) und viele auch technisch hervorragende Musiker betraten die Bühne. Es wurde – einfach gesagt – wieder Musik gemacht. Der Großteil meiner Plattensammlung stammt aus dieser Zeit. Sicherlich werdet Ihr nicht an allem Gefallen finden, was mich damals begeistern konnte (und was ich heute noch gern höre, wenn vieles auch den etwas indiskreten Charme jener Jahre hat). Da aber viele alte Scheiben technisch aufpoliert den Weg zurück in die Verkaufregale gefunden haben, deutet doch einiges darauf hin, dass diese Musik auch heute noch ihr Publikum findet (und nicht nur bei den alten Hasen).

Ach, Kretakatze hat mich mit ihrem „American Idol“-Kram irgendwie aufs Glatteis gebracht. Und da finde ich den Weg nicht mehr zurück. So soll es für heute genügen.

Und: Kretakatze beginnt sich langsam Sorgen um Lockwood zu machen. Ich weiß nur, dass er vor einigen Tagen seinen 45. Geburtstag gefeiert hat: Und ich habe das glatt vergessen. Tut mir Leid: Von dieser Seite also alles Gute für Dein neues Lebensjahr, Lockwood.

Heute keine Links und keine Bildchen (damit hat uns Kretakatze ja reichlich eingedeckt). Nein, so kann ich mich nicht verabschieden. Hier also ein Video mit einem uralten Micky Maus-Cartoon und … mit Locomotive Breath unterlegt (nun ja, so ganz passt das eigentlich nicht, wenn ich mir auch Herrn Anderson durchaus in der Rolle von Donald Duck vorstellen könnte):


Locomotive Breath – Jethro Tull

Man liest voneinander
Viele Grüße aus der norddeutschen Tiefebene
Euer Willi

P.S. Lockwood – ein Lebenszeichen, bitte! Nur ein kurzes Lebenszeichen!

28.03.2008

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Meine lieben Freunde,

ich schäme mich. Ich schäme mich dafür, dass ich mich so lange nicht mehr gemeldet habe. Das ist wirklich kein guter Stil. Eure Sorge um mich rührt mich, sie ist aber Gottseidank unbegründet; es geht mir ganz gut. Zwar hatte ich wie wir alle mit den Tücken des Alltags zu kämpfen, aber eigentlich bin ich ok.

Zu Eurem aktuellen Thema „DSDS“ möchte ich auch noch meinen Senf zugeben:
Ich habe die letzten Sendungen der laufenden Staffel in Ausschnitten gesehen. Und ich muss sagen: Die Kandidaten, die jetzt noch im Rennen sind (zurzeit acht) sind alle jung, attraktiv und sehr gut bei Stimme. Besonders die Mädels. Trotzdem oder gerade deswegen kann ich mich nicht für sie erwärmen. Sie sind sich alle zu ähnlich, zu kompatibel. Es sind keine „Typen“ darunter. Sie scheinen alle aus der selben Form gegossen. Wer aussieht wie Tom Waits oder Shane MacGowan und es trotzdem schafft, der ist ein Superstar. Und wenn man schon das Pech hat, gut auszusehen, sollte man sich durch besondere Fähigkeiten unverwechselbar machen, wie z.B. Kate Bush.

Tom Waits (von dem ich durch Wilfried zum ersten Mal hörte) ist wirklich ein interessanter Typ, weit weg von jedem Mainstream, äußerlich wie inhaltlich. Nach Mr. MacGowan ist er vielleicht der häßlichste Mann, der sich je dem Rampenlicht ausgesetzt hat. Diesem Neandertaler-Schädel sind aber einige schöne Melodien entsprungen. So entstammt z.B. Springsteens „Jersey Girl“ Waits’ Feder. Mir als agnostischem Pseudo-Katholiken gefällt auch sein Chocolate Jesus .

Ansonsten hat sich bei mir in Sachen Musik nicht viel getan. In einem bekannten Internet-Auktionshaus habe ich für eine Handvoll Euros ein CD-Album der Don Kosaken ersteigert. Dieses Album habe ich seit ca. 25 Jahren auf Vinyl, aber deren Qualität wird im Laufe der Jahrzehnte nicht besser. CDs sind halt auch praktischer. Es packt mich jedesmal, wenn ich diesen Chor höre. Hier könnten die Superstars dieser Welt lernen, wozu die menschliche Stimme in der Lage ist.

Lieber Wilfried, vielen Dank für Deine guten Wünsche zu meinem Geburtstag ! Der Zahl nach bin ich der Jüngste von uns Dreien, aber nachdem ich heute vier Fahrräder und zwei Autos geputzt habe, schmerzt mein Rücken wie bei einem Greis. Na ja, das vergeht auch wieder.

Ich beende mein Schreiben mit einem Gefühl der Erleichterung. Das schlechte Gewissen ob meiner langen Abwesenheit ist erst einmal wieder besänftigt. Habt Dank für Eure Treue !

Es grüßt Euch herzlichst
Lockwood

29.03.2008

English Translation for Ian Anderson

Was ist bloß mit Ian los? Teil 82: Selbsterkenntnis & Selbstfindung

Liebe Kretakatze, lieber Wilfried,

ich hätte da den ein oder anderen Gedanken zum Thema Ian Anderson:

Ich frage mich bereits seit einiger Zeit, worauf die Ansprüche des Mr. Anderson , ein Intellektueller aus der Upperclass zu sein, basieren. Die Wikipedia-Aufzählung der von ihm besuchten Schulen ist in der Tat sehr übersichtlich. Eines wollen wir ihm aber zu Gute halten: Man kann sich auch jenseits der Schule noch Einiges an Bildung aneignen. Ich wage zu behaupten, dass ich (von den Grunddisziplinen Lesen, Schreiben, Rechnen abgesehen) abseits der Schulen mehr gelernt habe als in diversen Klassenzimmern. So sollte es auch sein, das geht wohl den meisten Menschen so. Den Intellektuellen können wir also so gerade noch gelten lassen. Daraus ergibt sich aber die Frage: Wie äußert sich sein Intellekt, wie nutzt er ihn, was stellt er damit an ?

Nun, die erste Antwort darauf liegt für mich auf der Hand: Die Songs, die Melodien der frühen Jahre, die ihn für mich zum „Meister“ machen, können nur schwerlich dem Hirn eines Dummkopfes entsprungen sein. Intelligenz und Genius bedingen einander zwar nicht, gehen aber oft Hand in Hand. Nur so als Beispiel: Vor vielen Jahren las ich (in einem MAD – Heft), dass W.A. Mozart im Alter von drei Jahren seine erste Symphonie schrieb und mit fünf Jahren zum ersten Mal auf dem Topf saß. Zum zweiten kann ihm niemand abstreiten, dass er in Interviews einen sehr souveränen Eindruck macht. Auch das spricht nicht unbedingt für einen Hohlkopf. Damit kommen wir zur dritten und kritischsten Antwort: Seine Texte. Nach seiner eigenen Aussage macht er keine Texte für Fußballfans. Was er damit ausdrücken will, ist klar: Er hält Fußballfans für intellektuell limitiert, sodass sie seine Texte nicht verstehen können. Nun, ich bin kein Fußballfan, verstehe seine Texte aber auch nicht immer. Natürlich, es gibt auch Dumme außerhalb der Fußballszene. Kretakatze hat in einer ihrer letzten mails die Frage aufgeworfen, ob ich zwangsläufig als klug zu gelten habe, wenn ich mich so ausdrücke, dass die Mehrheit mich nicht versteht. Ich denke, diese Frage trägt die Antwort bereits in sich. Natürlich braucht man ein gewisses Niveau, um seine Sprachintention in Metaphern, Allegorien oder sonstwie bildlich an den Mann zu bringen. Ebenso selbstverständlich muss der Leser oder Hörer sich auf einem vergleichbaren Level befinden, um begreifen zu können, welche Information gerade transportiert werden soll. Mr. Anderson könnte also in seinen Texten ein hohes sprachliches Niveau einnehmen, um die Schar seiner Anhänger zu polarisieren. Er will damit die Spreu vom Weizen trennen. Mögliche Gründe hierfür kann ich nicht benennen. Vielleicht liegt Kretakatze richtig mit ihrer Annahme, dass er sich dadurch einen intellektuellen Anstrich geben will.

In diesem Zusammenhang muss ich an meine Deutschlehrerin aus der Fachoberschule denken: Bei ihr mussten wir u.a. Texte von Hans Magnus Enzensberger lesen. Je weniger wir die Texte verstanden, desto lauter lobte sie das Genie des Künstlers. Dabei bin ich jeden Tag, der seitdem vergeht, mehr davon überzeugt, dass sie das Geschreibsel selbst nicht durchschaute. Aber sie dachte wohl, sie gelte deswegen als klug. Wenn die wüsste…

Wie dem auch sei, mir gefällt die Anderson’sche Musik der frühen Jahre auch trotz der oft kryptischen Texte.

Soviel zum Intellekt des Meisters. Hier hat er die Kurve so gerade noch bekommen. Wenden wir uns seiner Herkunft aus der Upperclass zu.

Irgendwo (vielleicht Wikipedia) stand zu lesen, sein Vater sei Hotelmanager gewesen. Hotelmanager. Klingt irgendwie nach Hilton oder Walldorf-Astoria. Aber, dank Wilfried wissen wir, dass das Hotel der Familie Anderson sen. ein eher bescheidenes Haus war. Mich erinnert es mehr an eine Pension. Ein Familienbetrieb, in dem der Hotelmanager noch selber mithilft, die Betten zu beziehen und Frühstück zuzubereiten. Das ist für mich ein klassisches Beispiel für den Mittelstand, nicht für die Oberklasse. Damit will ich nichts gegen den Mittelstand sagen: Meine Eltern führten seinerzeit ebenfalls ein kleines Familienunternehmen und ich selber sehe mich als Kind des Mittelstands. Also, Mr. Ian Scott Anderson, mit Upperclass ist wohl nichts.

Ich gebe aber eines zu bedenken: Unsere Annahme, dass er sich als Member of the Upperclass sieht, beruht einzig auf der Textzeile in „Thick as a Brick“: „I came down from the Upperclass…“. Nun ist die Frage zu klären, ob er das biographisch meint, also auf sich selber bezieht, oder ob er nur das vertonte Gedicht des kleinen Gerald Bostock interpretiert. Bevor diese Frage nicht ausreichend beantwortet ist, wäre jeder weitere Gedanke zur Upperclass-Herkunft des Meisters reine Spekulation.

Ein Wort zur Spontaneität auf der Bühne:
Wer sich die JT-Auftritte aus den 70er Jahren anschaut, wird feststellen, dass in der Bühnenshow überhaupt kein Platz für Spontaneität ist. Das ist reine Choreografie. Bei jeder Note eines Konzertes hat Mr. Anderson die gleiche Mimik und die gleiche Körperhaltung und steht an genau der gleichen Stelle auf der Bühne wie in einem Konzert, dass einige Jahre später auf einem anderen Kontinent stattfindet. Er funktioniert präzise wie ein schweizer Uhrwerk. Er ist viel zu sehr Perfektionist, um der Spontaneität willen irgendetwas dem Zufall zu überlassen.

Liebe Kretakatze, in Deiner letzten mail sprichst Du mir aus der Seele: Dem frühen Anderson konnten wir begeistert zujubeln, den aktuellen Anderson kennen wir nicht mehr. „Wer ist das ?“ schreibst Du. Genau so ist es. Wir haben ihn verloren. Zumindest Du und ich. Wilfried scheint noch etwas näher bei ihm zu sein. Er kennt ihn schon länger und hat ihn nie aus den Augen verloren. Aber für mich ist Mr. Anderson ein Fremder geworden. Er sieht anders aus, er singt anders und er spielt andere Musik als früher. Er ist einfach ein Anderer. Ich habe ihn verloren, und in Deinem letzten Schreiben sagst Du, dass er sich möglicherweise selber verloren hat. Nur ihm scheint das weniger auszumachen als uns.

Gnothi seauton
Lockwood

PS: Als Kind sah ich im Fernsehen „Die Brüder Löwenherz“ von Astrid Lindgren. Was mich damals am meisten daran faszinierte war der Soundtreck. Eine wunderschöne kleine Melodie, die ich zu meiner großen Freude vor kurzem bei youtube wiederfand und Euch hiermit zu Gehör bringen möchte. Vielleicht gefällt sie Euch auch. Nichts an ihr erinnert an einen startenden Jet.

31.07.2007

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Hallo Wilfried, Hallo Lockwood,

nun ist also der 60. Geburtstag des Meisters auch vorüber, und außer meiner „erfrischenden“ Kritik und ein paar daraus resultierenden dilettantischen guten Ratschlägen, die ich in letzter Zeit hier verbreitet habe, ist mir nichts eingefallen, was ich ihm auf seinen weiteren Lebensweg mitgeben könnte. Ich bin auch dieser Tage ein wenig schreibmüde geworden…

Dabei gibt es durchaus noch eine Reihe interessante offene Themen, die von Euch in letzter Zeit angesprochen wurden und die ich auch noch aufgreifen möchte. Lockwood hat sich einige Gedanken über Mr. Anderson gemacht, die wiederum mir zu denken gegeben haben. Es geht einmal mehr um seine unerklärliche Entwicklung vom bewunderten Meister der 70er Jahre zu dem, was er heute darstellt. Bevor ich darauf eingehe werde ich Euch aber, ganz wie es meine Art ist, mit meinem beliebten Gegenbeispiel quälen (ich kann einfach nicht anders…).

In meinem ersten kurzen Beitrag, den ich an dieser Stelle zu Mr. Fogerty verfasst hatte (das war übrigens zufällig genau an seinem 62. Geburtstag, wie mir später aufgefallen ist), hatte ich behauptet er habe sich in den letzten 40 Jahren nicht weiterentwickelt. Inzwischen habe ich feststellen müssen, dass das ein Irrtum war. Ich nehme diese Aussage daher hiermit zurück und behaupte das Gegenteil (ist ja nicht das erste Mal…). Tatsächlich hat sich Mr. Fogerty – zumindest was sein Auftreten auf der Bühne betrifft – seit 1970 geradezu dramatisch gewandelt.

Mr. Fogerty anno 1970 („Tombstone Shadow“ live in London) erscheint nicht nur in Arbeitskleidung auf der Bühne, er wirkt auch wie jemand, der zielgerichtet, ernst und konzentriert seiner Arbeit nachgeht. Er scheint voll und ganz mit sich, seiner Musik und seiner Gitarre beschäftigt zu sein, es sieht aus als spielt er vor allem für und mit sich selbst, eventuell noch mit seiner Band. Dass ein Publikum existiert, scheint er – zumindest während er spielt – nicht wahrzunehmen, er schaut es kaum an. Bestenfalls riskiert er noch einen kurzen Blick in die Kamera (die guckt auch nicht zurück). Während der Gitarrensolos zieht er sich vom Mikrophon weg nach hinten ans Schlagzeug zurück, dreht dem Publikum fast den Rücken zu. Zwischen den Songs verständigt er sich kurz mit dem Drummer, dreht an Amp und Gitarre, stimmt eine Saite nach – aber er spricht nicht ein Wort mit dem Publikum. Er wirkt auf mich ein bißchen wie ein Zootier, das man gegen entsprechenden Eintritt aus gebührender Entfernung beim mehr oder minder artgerechten Verhalten beobachten darf. Wenn die Band in ihrer Fabrikhalle probt, sieht das wahrscheinlich auch nicht viel anders aus.

Eigentlich ist es kaum zu fassen, aber das Bühnen-Verhalten des Mr. Fogerty hat sich im Laufe der Jahre ins exakte Gegenteil verkehrt. Fogerty 2007 („Bootleg“ live in Ontario) wirkt auf der Bühne als ob er eine Riesen-Party feiert. Da scheint alles mächtig viel Spass zu machen und mit keinerlei Mühe oder Anstrengung verbunden zu sein. Offensichtlich tut er das alles nur zum reinen Vergnügen, zu seinem eigenen wie zu dem des Publikums. Wenn er einmal 3 Sekunden lang nicht singen muss, rennt er sofort vom Mikrophon weg zum vorderen Bühnenrand um einen Meter vor den Nasen seiner Zuschauer seine Gitarrenkünste darzubieten. Zwischen den Songs unterhält er sein Publikum mit Stories darüber, wie er mit seiner Tochter Eis isst oder wie sich eine halbe Million matschverschmierte Menschen in Woodstock ausziehen. Und auch da läuft er wieder ständig zum Bühnenrand um auf jeden noch so dämlichen „Hey John“-Zuruf aus dem Publikum einzugehen. Es ist ein einziges Bad in der Begeisterung und Sympathie der Menge, und so ein Bad scheint ganz nach seinem Geschmack zu sein. Wie man sich so ein Bad einlässt und wie man sich das Badewasser angenehm temperiert, das hat er inzwischen gelernt. Die Lernfähigkeit des Mr. Fogerty ist wirklich bemerkenswert. Wenn man einmal davon ausgeht, dass das „Beliebtheitsbad“ auch schon 1970 sein Ziel gewesen sein müsste, dann konnte er seinen Zielerreichungsgrad inzwischen ganz ungemein steigern.

Die Bühnen-Präsenz des Mr. Anderson scheint sich mir dagegen im Laufe der Jahre in die genau entgegengesetzte Richtung entwickelt zu haben. In diesem Video („A New Day Yesterday“ 1969 live in New York) teilt er uns gleich zu Anfang mit, was er auf der Bühne tut – es ist sein „Ego-Trip“, das heißt er tobt sich aus, und zwar zu seinem Privatvergnügen. Was die Spontanität seiner Bühnenaktivitäten betrifft, sehe ich das etwas anders als Du, lieber Lockwood. Es ist einfach so, dass jedes Lied eine ganz bestimmte Geschichte erzählt, jede Melodie ein bestimmtes Gefühl ausdrückt, und wenn man das in Gestik, Mimik und Bewegung darzustellen versucht, dann wird naturgemäß auch immer etwas ähnliches dabei herauskommen. Durch ständige Wiederholung schleift sich schließlich im Laufe der Zeit eine Art „optimale“ Version ein, die dann wirklich praktisch immer identisch ist. Bei Songs wie „Aqualung“ oder „Thick As A Brick“, die Mr. Anderson in den 70ern 100 Mal im Jahr auf der Bühne gespielt hat, ist ihm mit Sicherheit jede einzelne Bewegung so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er er sie noch im Schlaf aufführen könnte. Vermutlich würde er noch im Koma liegend beim Klang bestimmter Musikpassagen seinen Kopf auf eine ganz bestimmte Art zurückwerfen oder den Arm nach oben reißen. Eine bewußt einstudierte Choreographie ist etwas anderes.

Sicher hat Mr. Anderson zumindest manche seiner akrobatischen Übungen geprobt, bevor er sie auf der Bühne vorgeführt hat. Manches sind eindeutig Figuren aus dem Ballett, und seit ich durch Wilfried weiß, dass sein älterer Bruder Ballettmeister ist, hat mich das auch nicht mehr gewundert. Dass er sich allerdings jemals eine Choreographie für eine Auftritt vorher zusammengestellt hat, wage ich zu bezweifeln. In so ein Korsett hätte er sich nicht zwängen wollen, das hätte ihm doch den ganzen Spaß verdorben. Schließlich wollte er sich austoben, das macht man nicht nach Plan. Ganz abgesehen davon ist der „spontane Ausdruck der Persönlichkeit, der Gedanken oder Gefühle“, von dem ich in meinem letzten Beitrag sprach, nicht so sehr eine Frage des Was und schon garnicht des Wo einer Darstellung, sondern vielmehr des Wie. Am Wie erkennt man, ob jemand wirklich mit Freude und Enthusiasmus bei der Sache ist oder nur etwas herunterspult.

Allmählich glaube ich auch, dass Mr. Anderson in die Jahre gekommen ist. Die Begeisterung hat nachgelassen. Wen wundert’s, dass nach mindestens 2000 Aufführungen „Thick As A Brick“ bei ihm heute nicht mehr so frisch rüberkommt wie 1972. Vermutlich ist auch das Bedürfnis sich auszutoben weitgehend erloschen. Im Vergleich zu Mr. Fogerty wirkt er inzwischen zahm und schaumgebremst. Seine Bühnenaktivitäten erscheinen nicht spontan sondern bewusst und kontrolliert. Was ihn heute auf die Bühne treibt ist wahrscheinlich vor allem sein Hang zur Selbstdarstellung und sein Hunger nach Anerkennung. Und da haben sich seine Chancen der Zielerreichung seit den 70ern dramatisch verschlechtert. Er sieht einfach nicht mehr aus wie 25, mit akrobatischen Übungen ist auch nichts mehr und die Stimme ist kaputt. Eigentlich wirklich erstaunlich, dass er in Anbetracht dieser katastrophalen Voraussetzungen nicht einfach aufgibt, aber er kann wohl nicht anders. Folgerichtig setzt er auf den einzigen Trumpf, den er noch hat – seine Flötenkünste. Er flötet extensiv und in den höchsten Schwierigkeitsgraden (das nehme ich jedenfalls mal an, beurteilen kann ich es nicht), aber das erfordert Konzentration. Vermutlich wirkt er auch deshalb beim Flöten teilweise fast finster, unbeschwerte gute Laune strahlt er jedenfalls für mein Gefühl dabei nicht aus. Mr. Anderson ist bei der Arbeit angekommen.

Um die Vergleichs-Landschaft weiter zu beleben werde ich jetzt noch einen anderen Musiker ins Feld führen, den vermutlich auch noch nie jemand mit Mr. Anderson verglichen hat – Neil Diamond („I Am…I Said“ live ca. 1971 – zur Einstimmung). Auf den ersten Blick gibt es da wirklich keine Ähnlichkeiten, Mr. Diamond ist eher eine Mischung aus Elvis Presley und Roy Black. Zwei Parallelen könnte man aber doch aufführen. Zum Einen ist auch Mr. Diamond dafür bekannt, dass er es liebt in mehr oder minder schrillen Kostümen aufzutreten – wobei es sich dabei eher um Glitzer-Anzüge a la Elvis Presley handelt, dessen Nachfolge er ja auch in Las Vegas übernommen hatte. Seine Auftritte sehen daher auch alle stark nach Las Vegas aus. Zum Anderen hatte Mr. Diamond, nachdem er die Filmmusik zu „Jonathan Livingston Seagull“ geschrieben hatte, angefangen sich selbst mit Beethoven zu vergleichen und seine erste Symphonie zu komponieren. Was daraus geworden ist weiß ich nicht so genau, ich meine er hat sie tatsächlich fertig geschrieben, die Wiener Philharmoniker haben sie aber wohl noch nicht im Programm.

Da auch Mr. Diamond zu den Musikern gehört, deren Scheiben Anfang der 70er auf meinem Plattenteller lagen, habe ich dieser Tage in YouTube geforscht, was denn im Laufe der Jahre aus ihm geworden ist, und ich war eher positiv überrascht. Diese Version von Cherry Cherry (2005 live) zeigt meiner Meinung nach: Es ist durchaus möglich 64 Jahre als zu sein, wie 64 Jahre auszusehen, in einem Kostüm auf einer Bühne zu stehen und eine ziemlich flotte Nummer zu spielen, und trotzdem nicht lächerlich zu wirken. Am Alter allein kann es also nicht liegen. Mr. Diamond hat allerdings gegenüber Mr. Anderson den Vorteil, dass seine Stimme noch genauso klingt wie vor 40 Jahren, sie hat wirklich nicht den kleinsten Kratzer abbekommen. Im Gegenteil, ich finde er singt den Titel heute besser und spielt ihn rockiger als in der Original-Version von 1966.

Wenn man Mr. Anderson also mit seinen Musiker-Kollegen in der Altersklasse ab 60 vergleicht, muss man sagen: Die Anderen sind auch nicht mehr so jung oder so schlank wie 1970 (Mr. Fogerty sollte vielleicht seiner Tochter mal nicht ständig das Eis wegessen – kleiner Scherz am Rande…), wie Mr. Fogerty über die Bühne stapft wirkt auch auf keinen Fall eleganter als das Gehüpfe von Mr. Anderson, und kommt es nun wirklich darauf an, ob der Typ oben auf der Bühne in Jeans und Karohemd, im Glitzerkostüm oder im Piraten-Outfit erscheint? Wichtiger ist doch, was der Kerl, der in den Klamotten steckt, für eine Ausstrahlung hat. Und da wirkt Mr. Anderson im Vergleich zu seinen Kollegen irgendwie verbissen und fast zynisch.

Lockwood hat einmal ganz richtig bemerkt, dass Fogerty-Fans vermutlich wesentlich glücklicher sind als Anderson-Fans. Ich würde soweit gehen zu behaupten, dass auch der Mr. Fogerty der heutigen Tage deutlich glücklicher sein dürfte als der Mr. Anderson. Dass sein Zielerreichungsgrad nicht mehr der ist, der er einmal in den 70ern war, kann auch Mr. Anderson nicht entgangen sein. Und ich glaube er ist selbst ziemlich ratlos, wie er die Situation wieder verbessern könnte.

Um noch einmal zum Thema „Intellektueller aus der Upper Class“ zurückzukommen – ich meine schon mehrere Photos von Mr. Anderson vom Ende der 60er Jahre gesehen zu haben, die die Unterschrift „… mit Laby X“ bzw. „… mit Lord Y“ trugen, leider kann ich sie nicht mehr finden. Ich glaube zumindest eines der Bilder stammte von der Hochzeit mit seiner ersten Frau. Woher kommen die Kontakte zum Hochadel, wenn er eigentlich aus der Mittelschicht stammt? Seine Behauptung „I come down from the upper class“ halte ich durchaus für glaubwürdig, auch wenn sie sicher ironisch gemeint war. „Thick As A Brick“ ist praktisch seine Autobiographie, und nach meiner Meinung sind Songtexte eine ziemlich zuverlässige Quelle über Vergangenheit und Hintergrund ihres Verfassers. Jeder Songtexter, den ich kenne, hat in seinen Liedern seine eigene Vergangenheit verarbeitet, und die eigenen Songs sind ein viel zu persönliches und zugleich öffentliches Medium, um darin zu wild zu phantasieren. Ein bißchen übertreiben tut man darin vielleicht schon, aber nicht lügen.

Auch den „Intellektuellen“ möchte ich Mr. Anderson garnicht absprechen. Ich halte ihn durchaus für intelligent und sicher hat er sich außerhalb der Schule ein umfangreiches Wissen über Geschichte, Kultur, Literatur etc. angelesen, das meines sehr wohl übersteigen könnte (das ist nicht sehr schwer). Zum Intellektuellen wird man wohl weniger über die klassische Bildung, es ist mehr der Typ des Dichters und Denkers, der Einen dazu qualifiziert. Ich selbst bin zum Beispiel höchst gebildet (nicht nur eingebildet) – mit Abitur, Studium, Lehre und Umschulung (übrigens alles mit besten Abschlüssen – ich schreibe das nur, weil diese Bildungskarriere so aussieht als hätte ich nichts auf die Reihe bekommen und deshalb ständig was Neues angefangen, und das kann ich natürlich nicht auf mir sitzen lassen) habe ich wirklich so ziemlich alles durch, was man an Bildung machen kann, mehr Bildung geht eigentlich kaum – trotzdem würde ich mich nicht als intellektuell bezeichnen. Dazu bin ich einfach nicht der Typ. Soweit die heutigen Selbstbekenntnisse der Frau Professor Dr.h.c. Kretakatze.

Seid herzlich gegrüßt bis demnächst
Kretakatze

PS.: Lieber Lockwood, was Herrn Mozart betrifft, scheinen MAD-Hefte doch keine sehr zuverlässige Quelle zu sein (wen wundert’s?). Mozart war 5, als er seine erste Komposition ablieferte, die im Übrigen keine Symphonie sondern ein Klavierstück war. Da wird er wohl 3 gewesen sein, als er auf dem Topf saß, was für einen Jungen auch ein ganz normales Alter ist. Das hat auch weniger mit Intelligenz oder Genie als vielmehr mit Körperbeherrschung zu tun – aber lassen wir dieses unappetitliche Thema…

Apropos unzuverlässige Quelle – inzwischen musste ich herausfinden, dass der Wikipedia-Eintrag über Creedence Clearwater Revival zahlreiche Fehlinformationen enhält. Das hat mein Vertrauen in die Zuverlässigkeit von Wikipedia doch stark erschüttert. Ich denke bevor man blind den Wikipedia-Daten glaubt, sollte man doch besser noch ein oder zwei andere Quellen gegenchecken…

14.08.2007

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Hallo, Ihr beiden Hübschen,

da bin ich also und der Alltag hat mich wieder. Oh, Graus!, kann ich nur sagen. Aber es hilft ja nichts, ich habe nicht das Bankkonto eines Herrn Anderson (selbst das von Herrn Fogerty wäre nicht zu verachten), also ’ran ans Werk bzw. an die Arbeit …

Ihr wart ja inzwischen wieder fleißig, besonders Kretakatze, die sich nicht zurückhalten konnte, auf mein früheres Geschreibsel ausführlich zu antworten.

Zunächst eines vorneweg: Das Bild mit Ian Anderson im Rollstuhl ist KEINE Fotomontage, so etwas würde ich erst gar nicht wagen. Es ist real und stammt aus dem Jahre 1988, wenn ich das richtig sehe. Nach einem Sturz (von der Bühne? Ich weiß es nicht genau) trat der Meister tatsächlich im Rollstuhl auf und nutzte sein Unglück zu diesem makabren Scherz. Also wieder einer dieser Unwägbarkeiten des Anderson’schen Charakters.

Ian Anderson im Rollstuhl 1988

Wenn ich auf alles, was Ihr da in der letzten Zeit verfasst habt, einginge, dann müsste ich auch ins Romanhafte ausschweifen. Daher doch möglichst in Kürze eine Antwort:

Der Vergleich Anderson-Fogerty hinkt für mich einfach deshalb, weil beide nicht zu vergleichen sind. Das spricht nicht unbedingt gegen Fogerty (oder gegen Anderson), aber für mich liegen zwischen den beiden Welten, sodass sich für mich (ich wiederhole: für mich) ein Vergleich nicht ziehen lässt. Trotzdem will ich kurz auf Deinen ‚Vergleich’, Kretakatze, zu sprechen kommen: Fogerty bzw. Anderson früher und heute. Wenn John Fogerty früher eher schüchtern wirkte, so wohl deshalb, weil er sich ganz auf seine Arbeit konzentrieren musste. Sowohl Fogerty als auch Anderson waren in ihrer Anfangszeit keine Virtuosen, denen das Spiel ohne Anstrengung aus dem Instrument perlte. Ian Anderson kompensierte seine noch nicht ganz ausgereifte Spieltechnik durch seine Bühnenpräsenz, während Fogerty sich voll und ganz auf sein Instrument (und seinen Gesang) konzentrierte. Anderson hatte also das nötige Selbstbewusstsein, das sich Fogerty erst noch erwerben musste. Mit den Jahren war es dann soweit (Übung macht den Meister): Fogerty wurde selbstbewusster und spielsicherer. Und das kommt dann auch auf der Bühne ’rüber. Und wie ist das bei Herrn Anderson heute? Er konzentriert sich verstärkt auf sein Flötenspiel. Das ist sein verbliebenes Pfund, mit dem er noch wuchern kann.

Diese Oimel-Verlängerung (Ihr wisst schon, was ich meine) ist eine Art Automatismus. In jungen Jahren war das vielleicht noch ganz witzig anzusehen, jetzt wirkt es natürlich lächerlich. Aber alle Welt kennt nun mal den Flötenoimel, also muss er gezeigt werden. Neben diesem Automatismus denke ich mir noch, dass Herr Anderson etwas falsche Vorstellungen von den Erwartungen seiner Zuschauer hat. Er denkt wahrscheinlich wirklich: Die wollen meinen Flötenoimel sehen! Also zeige ich ihn ihnen! Und so ist es auch mit den anderen Elementen seines Auftritts, z.B. seinem Outfit. Eine vielleicht halbwegs plausible Erklärung habe ich für Andersons Schlabberleibchen. Als Flötist hat er eine andere Armhaltung als ein Gitarrist. Die Oberarme liegen nicht am Körper an, sondern sind fast horizontal zur Schulter, die Unterarme sogar noch höher gestreckt. Da würde ein zu enges Jäckchen eher zwacken und die Blutzirkulation behindern. In jungen Jahren mag das noch gehen, aber bei einem 60-Jährigen ist das ein Problem. Vielleicht erklärt sich auch damit die Angewohnheit des Meisters, in Spielpausen mit der rechten Hand Pumpbewegungen zu vollziehen (das Thema hatte ich schon früher einmal mit Lockwood erörtert). Also lassen wir ihm sein luftiges Hemdchen. Damit er uns nicht mit Kreislaufzusammenbruch von der Bühne fällt.

Wie auch immer: Anderson ist ein Schauspieler. Da gebe ich Kretakatze Recht. Er war es und ist es noch immer und unterscheidet sich da von John Fogerty. Er umgibt sich mit einer Aura (fast hätte ich Dickicht geschrieben) von Unnahbarkeit (mir fällt kein besseres Wort auf die Schnelle ein).

Aber genug! Dass sein Outfit, sein Herumgehüpfe und was auch immer nicht zeitgemäß sind (im Sinne von: zu seinen 60 Lebensjahren passend), darüber sind wir uns einig. Ich habe 2005 mein letztes Tull-Konzert miterlebt und muss aber sagen, dass mich diese Äußerlichkeiten eigentlich nicht gestört hat. Mir ist einfach klar gewesen, dass ich 2005 nicht die Jungens von z.B. 1972 zu Gesicht bekäme.

Noch etwas zu den Anderson’schen Texten: Sicherlich finden sich viele autobiographische Bezüge in den Texten. Um diese Bezüge nicht allzu schnell sichtbar werden zu lassen, greift der Dichter gern zu Mittelchen, die das Ganze mehr oder weniger verhüllen sollen (Metaphern, Allegorien usw.). Mögen die gewählten Bilder für den Autoren klar und verständlich sein – für den Leser sind sie es noch lange nicht, besonders dann, wenn eine Bildersprache benutzt wird, die sich nicht im gemeinsamen Fundus einer Sprache wiederfindet. Dann kann man als außenstehender Leser (oder Hörer) nur noch die Farbigkeit oder Wortgewalt der beschriebenen Bilder bewundern. Manche sehen das denn vielleicht auch als Fiebrigkeit des Dichters.

Apropos Andersons 60. Geburtstag – da hat sich der Meister doch wohl mit Recken der Stones (Keith Richards und Ron Wood) getroffen, um aus diesem Anlass (mit was auch immer) anzustoßen. Man kennt sich also. Nicht erst seit dem Rock ‚n’ Roll Circus von 1968 (lief übrigens dieser Tage im Fernsehen, es war auf Arte; 3Sat hatte wohl am 10. August in der Sendung Kulturzeit Herrn Anderson ein Ständchen gebracht – eigentlich gucke ich mir die Sendung öfter an, sogar im Urlaub, da sie gleich nach den Heute-Nachrichten folgt, aber an dem Tag war ich mit meinen Lieben in München zum Shoppen).

Ich hoffe, nicht allzu viel Blödsinn geschrieben zu haben. Mit Selbsterkenntnis ist das so etwas, Lockwood, bzw. mit Selbstfindung, Kretakatze.

Nun denn – bis bald
Wilfried

16.08.2007

English Translation for Ian Anderson