Kategorie-Archiv: Wiedergelesen

Wiedergelesen – wiederentdeckte Literatur

Gentle Giant – An Inmate’s Lullaby

Nachtrag zu meinem Beitrag: Heinar Kipphardt: März


Gentle Giant – An Inmate’s Lullaby (Wiegenlied eines Insassen)

Professor F… war so gewissenhaft, daß er einen Skandinavienurlaub unterbrach, um 20 ausgesuchten Patienten pünktlich ihren verordneten Elektroschock zu geben. Damals vertrat er die Ansicht, daß jede diagnostizierte Schizophrenie sofort einer Elektroschockbehandlung zu unterziehen sei, zumal durch die gleichzeitige Injektion des Nervengiftes Curare die Gefahr eines Wirbelbruchs ausgeschaltet war. Der Konsulvator setzt im Gehirn einen epileptischen Krampf, der durch eine toxische Nervenlähmung genialerweise nicht realisiert werden kann. Das war ein Fortschritt nach dem Geschmack von Professor F…. Das wird ihn natürlich nicht abhalten, 15 Jahre später die Psychopharmaka für die Wende in der Psychiatrie zu halten, wie er in den 50er Jahren von der Psychochirurgie die Wende erwartet hatte. In nicht zu langer Zeit werden wir an unsere heutigen Behandlungsmethoden nur mit Scham zurückdenken.

… Der portugiesische Hirnchirurg Egas Moniz durchtrennte Weihnachten 1935 als erster die Nervenverbindungen zwischen Stirnhirn und Thalamus bei einem Schizophrenen, um dessen psychisches Verhalten operativ zu verändern. Der aggressive Kranke verfiel nach dem Eingriff in einen Zustand unerschütterlichen Gleichmuts. Bei sieben von 19 aggressiven Patienten, die er so operiert hatte, erzielte er das gleiche Ergebnis. Seine Operationsmethode, die sogenannte Leukotomie, hatte aggressive Wahnsinnige in den lenkbaren Dauerzustand gleichmütiger Apathie versetzt. Mit Begeisterung wurde das als der Beginn der Psychochirurgie gefeiert. In den Vereinigten Staaten wurden etwa 50000 Patienten innerhalb der nächsten 20 Jahre leukotomiert, in der übrigen Welt schätzungsweise 60000. Auf der Höhe der Begeisterung wurde Moniz 1949 der Nobelpreis verliehen, bald darauf jagte ihm ein früherer Leukotomie-Patient fünf Pistolenkugeln in den Leib. Zehntausende von Patienten dämmerten im Gefolge dieser Operationen apathisch dahin, es verfiel ihre Intelligenz, ihr Gefühlsleben, und es erlosch ihr Interesse an der Umwelt. Die Leukotomie kam aus der Übung, weil Schocktherapien und Psychopharmaka den Zweck der Dämpfung und Zähmung ebenso gut erreichten. Jetzt lese ich über neue Fortschritte der Psychochirurgie mit eleganteren Methoden, die viel kleinere Hirnpartikel gezielt zerstören können, um Sanftheit und Zahmheit zu erzielen. Professor J. Andy operierte in Amerika einen neunjährigen Jungen, der als gewalttätig, streitsüchtig und schwer erziehbar beschrieben wurde, viermal, bis das Kind gezähmt war. Der japanische Verhaltenschirurg Kaiji Sano operierte erfolgreich 22 aggressive Kinder, die danach bemerkenswert ruhig, passiv und lenkbar wurden. Sein Landsmann Narabayashi führte 27 Kindern zwischen 5 und 13 Jahren stereotaktische Operationen durch, die einen zufriedenstellenden Gehorsam und dauerhaften Gleichmut erbrachten, Professor Roeder operierte in Göttingen Drogensüchtige, Alkoholiker und Homosexuelle. Er lobt die Wirtschaftlichkeit des stereotaktischen Eingriffs gegenüber den langen Unterbringungszeiten in psychiatrischen Heilanstalten und Gefängnissen. Sie denken nicht an die Grundlagen der Nazi-Psychiatrie und nicht an das Ende von Professor Moniz.

aus: Heinar Kipphardt: März (S. 85 f. – AutorenEdition Bertelsmann Verlagsgruppe – 1976)

Heinar Kipphardt: März

Es war im Jahr 1975, da gab es im Fernsehen (ZDF) den Film „Leben des schizophrenen Dichters Alexander M.“, der mich sehr beeindruckte. In der Titelrolle spielte Ernst Jacobi. Das Drehbuch zu diesem Film schrieb Heinar Kipphardt, der zuvor durch sein zeitkritisches Schauspiel In der Sache J. Robert Oppenheimer größere Bekanntheit erlangte. Ein Jahr später, 1976, legte er das gleiche Thema als seinen ersten Roman, unter dem Titel „März“ vor. Kurz danach schrieb Kipphardt eine Hörspielfassung unter dem Titel „März – ein Künstlerleben“ für den Bayerischen Rundfunk, in welcher Ulrich Gerhardt 1977 Regie führte. Erst am 16. Oktober 1980 kam es im Düsseldorfer Schauspielhaus zur Uraufführung des Theaterstücks unter dem Titel „März, ein Künstlerleben“.

Heinrich „Heinar“ Mauritius Kipphardt (* 8. März 1922; † 18. November 1982 in München) war ein deutscher Schriftsteller und bedeutender Vertreter des Dokumentartheaters.

Die Geschichte des unglücklichen Anti-Helden Alexander März ist für Kipphardt eine Abrechnung mit der Psychiatrie. Kipphardt hatte Medizin studiert und arbeitete u.a. an der psychiatrischen Klinik Düsseldorf-Grafenberg. Für ihn ist Schizophrenie, sind psychotische Krankheiten letzten Endes sozial verursacht: Sehr sensible Menschen zerbrechen an dem, was Familie und Gesellschaft ihnen antun. So auch der schizophrene Dichter März, der sich vor den Augen seines Arztes in Brand steckt, weil er sich in dieser Welt nicht mehr zurechtfinden kann. Als Grundlage für ‚März‘ diente authentisches Material.

Im Roman, den ich mir 1976 kaufte und las, heißt es u.a.:

„Die Psychiartrie ist die Heilige Inquisition der seelischen Gesundheit.“ (S. 19 – AutorenEdition Bertelsmann Verlagsgruppe – 1976)

Kofler. Notizen. Der eingelieferte Patient, der das Etikett schizophren bekommen hat, hat ohne sein Wissen eine Rolle übernommen und startet zu seiner Karriere. Von der Einlieferung an wird er ohne Unterbrechung degradiert und er verliert Stück für Stück seine Entscheidungsfreiheit und alle bürgerlichen Freiheiten. Es wird ihm bestritten, ein Mensch zu sein … (S. 20)

In kleinen Mosaiksteinchen erfahren wir vieles aus dem Leben des Patienten März, der seit Jahren in einer psychiatrischen Klinik lebt. Aus Aufzeichnungen des Patienten, seinen Gedichten, den Berichten Dritter, Gesprächen und Beobachtungen des Arztes Kofler setzt sich das Bild eines hoch sensiblen Menschen zusammen, der die »Normalität« der Gesellschaft radikal in Frage stellt. März verweigert sich dem herrschenden Leistungs- und Konkurrenzprinzip. Ausgangspunkt seiner Erkrankung ist die Kindheit: März war mit einer Gaumenspalte (Hasenscharte), auf die Welt gekommen, für die sich die beide Elternteile sehr schämten. Während die Mutter mit übertriebener Liebe ihren Sohn zu umsorgen meinte, versuchte es der Vater mit Strenge. Es herrschte so ein andauernden Konflikt im Elternhaus, der das Kind mehr und mehr in eine Außenseiterrolle drängte.

Durch März lernen wir eine ‚andere’ Sichtweise des Lebens kennen, die uns zunächst ‚krank’, wenn auch auf besondere Weise faszinierend erscheint. Zunehmend beginnt der Leser dann, diese Sichtweise zu verstehen und das ‚normale’ Leben kritisch zu beäugen:

Es wundert mich […] immer, wenn bei den ganzen vielen Teilen etwas zueinander paßt, zum Beispiel die Tasse auf dem Tisch da zu dem beschriebenen Zettel. Wieso passen die zueinander? … Vielleicht passen die meisten Teile nur zueinander, weil es gefährlich ist, nicht zueinander zu passen. Da paßt man schon lieber. Aber in Wirklichkeit paßt zueinander rein gar nichts. (S. 19)

Was ‚passt’ also wirklich im Leben zusammen? Sind wir alle nicht zu kleinen Rädchen geformt, die die Normalität am Leben erhalten? Dann vielleicht doch »lieber verrückt als ein Rädchen.«

In der „Allegorie der Höhle“ beschreibt Plato das Leben des angepassten Menschen wie angekettet an der Wand einer unterirdischen Höhle. Die Schatten welche sie auf der Wand sehen, halten sie für die Wirklichkeit. Es gibt Leute welche sich befreien von ihren Ketten, weil sie das Leben als angekettet als unerträglich erfahren. Es ist die Aufgabe der angeketteten Psychiater, die sich dessen nicht bewusst sind, diejenigen die versuchen sich zu befreien, wieder anzupassen und aufs Neue zu fesseln. Und wenn dass nicht gelingt, werden sie verbannt in einen entlegenen Winkel der Höhle, wo sie miteinander festgehalten werden, um das wahnsinnige Spiel der „Normalen“ nicht zu stören. Das nennen wir nun psychiatrische Anstalten.

aus: „Eine narratologische Analyse von Kipphardt’s März“ von Dimitri Vanlessen

Oh, wie schön ist Panama

Es ist eines der bekanntesten, aber auch eines der schönsten Kinderbücher, die ich kenne: Oh, wie schön ist Panama von Janosch. 1979 erhielt Janosch dafür den Deutschen Jugendbuchpreis. Eigentlich kauft man sich im zarten Alter von Mitte zwanzig Jahren keine Kinderbücher, es sei denn für die eigenen Kinder. Vor dreißig Jahren kam ich aber nicht umhin, das Buch MIR zu kaufen.

1985 und 1989 wurden dann seine Kindergeschichten als Janoschs Traumstunde fürs Fernsehen (WDR) produziert und meine Frau und ich kamen dank Kabelfernsehen in den Genuss die jeweils halbstündigen Traumstunden aufzunehmen und zu sehen. Und als dann unserer beiden Jungen geboren wurden und alt genug waren, so guckten wir gemeinsam manchen frühen Abend die Geschichten vom Tiger und Bären, von Hannes Strohkopf und Lukas Kümmel (man beachte die Vornamen) – und natürlich von Schnuddelbuddel, dem kleinen Kobold.

Beim Aufräumen bin ich jetzt auf die inzwischen auch schon zwanzig Jahre alten VHS-Kassetten mit den Janosch-Geschichten gestoßen und habe mich in einer Mußestunde (oder Traumstunde) daran gemacht, einiges davon auf meinen Rechner zu spielen. Neben „Oh, wie schön ist Panama“ sind es die Geschichten von Schnuddel (bzw. Schnuddelbuddel), die besonders meinem Ältesten immer sehr gefallen haben (hierzu später einmal mehr). Hier zunächst also die Geschichte vom Tiger und dem Bären, die sich auf den Weg nach Panama machen. Ich musste eine kleine Szene von wenigen Sekunden herausschneiden (als die beiden Freunde die Maus nach dem Weg fragen), damit YouTube mit seiner Beschränkung auf 10 Minuten Videolänge befriedigt wurde:


Janoschs Traumstunde: Oh, wie schön ist Panama

Von diesem Video gibt es bei YouTube übrigens auch eine englische Version: The Trip to Panama. Wie es der Zufall so will, sind Ende des letzten Jahres alle 43 Folgen von der TV-Produktion Janoschs Traumstunde auf insgesamt 4 DVDs (Laufzeit: ca. 718 Min – zum Preis vom 35 €) auf dem Markt erschienen. Wer also Appetit auf Janoschs phantasievolle Geschöpfe bekommen hat, hier gibt es viel zu sehen.

Übrigens gibt es von dieser Panama-Geschichte einen abendfüllenden Film, der in Deutschland 2006 entstand, aber von einer amerikanischen Filmfirma vertrieben wurde. Sicherlich mag dieser Film ganz lustig sein (Til Schweiger spricht z.B. den kleinen Tiger) und weitere Janosch-Figuren ‚aufgenommen’ haben. Aber er hat einfach nicht diesen außergewöhnlichen Charme der Vorlage. Und am Ende kommen der Tiger und der Bär auch nicht wieder zuhause an, sondern erreichen tatsächlich Panama. Damit verliert die Geschichte ihre ursprüngliche Botschaft.

Martin Walser: Ein springender Brunnen

Es ist eines der großen Erinnerungs-Bücher der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, der Entwicklungsroman eines Jugendlichen zur Zeit des Nationalsozialismus, 1932 beginnend und 1945 endend – Martin Walsers Ein springender Brunnen.

Es ist die Geschichte von Johann und seinem zwei Jahre älteren Bruder Josef, der 1944 an der Ostfront ums Leben kommt. Und es ist die Autobiografie von Martin Walser selbst. 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren und aufgewachsen, erleben wir in „Ein springender Brunnen“ die Zeit des Nationalsozialismus aus der Sicht eines Kindes und Heranwachsenden. Allein dieser Blick verrät uns viel von der schleichenden Veränderung der Köpfe dieser Menschen bis hin zu einer Entwicklung, die brutale Übergriffen auf Andersdenkende bzw. Andersgeartete zulässt.

Zudem bewahrt Walser in diesem 1998 erschienenen Buch vor allem auch viele der skurrilen Typen und der schwäbisch-alemannisch redenden Bewohner auf und beklagt in seinem Nachwort zurecht den Niedergang an mundartlicher Sprache, den möglichen Verlust einzelner Wörter, die durch kein anderes Wort zu ersetzen sind und unterzugehen drohen.


Wasserburg am Bodensee

In erster Linie geht es aber um den heranwachsenden Johann, seine – vom Vater geschulte – poetische Sicht der Dinge, seine ersten Erfahrungen in Liebesdingen. Und wir erfahren seinen inneren Konflikt, den der Widerspruch zwischen Religion und Leben in ihm auslöst. Ziemlich am Ende des Buches heißt es u.a.: „Johann wollte nie mehr unterworfen sein, weder einer Macht noch einer Angst …“ Das gilt für Vieles.

Ich selbst habe Wasserburg und den Bodensee bisher noch nicht besucht (bis zum Rheinfall von Schaffhausen habe ich es einmal geschafft). Aber einige Lokalitäten aus dem Roman sind mir und meiner Familie durchaus vertraut. Zum einen ist es das Kreuzeck (zwischen Alpspitze und Zugspitze), dort oben, wo Johann im Januar 1945 seine Hochgebirgsausbildung absolvieren musste. Und das Eisstadion von Garmisch, wo er nach Kriegsende gefangengehalten wird. Hier habe ich 2002 mit meinen Söhnen einige Runden auf dem Eis gedreht.

Kreuzeck
Bergregion zwischen Alpspitze und Zugspitze

Weg zum Kreuzeck
Weg zur Bergstation Kreuzeck

Martin Walser musste sich vorwerfen lassen, durch diesen Roman die Nazizeit zu verharmlosen. Auschwitz käme nicht vor. Die Kritik ging wohl soweit, dass man Walser Geschichtsrevisionismus und latenten Antisemitismus vorwarf. Man kann das alles nachlesen. Aus meiner Sicht ist das natürlich völliger Humbug. Walser hat einen Roman seiner Entwicklung zum Erwachsenen geschrieben. Bei dem im Roman geschilderten Bild der Nazizeit versucht er möglichst realistisch zu sein, und schafft damit durchaus ein Beispiel der persönlichen Gewissenserforschung.

siehe hierzu den Ausschnitt in: Weihnachten 1932 in Wasserburg/Bodensee

Weihnachten 1932 in Wasserburg/Bodensee

Die Bescherung fand, weil auf das Klavier nicht verzichtet werden konnte, im Nebenzimmer statt. Das heißt, Josef und Johann hatten erst Zutritt, als der Vater am Klavier Stille Nacht, heilige Nacht spielte. Der Einzug ins Nebenzimmer geschah durch zwei Türen: von der Wirtschaft her zogen, ihre Gläser in der Hand, die vier letzten Gäste hinter Elsa herein. Hanse Luis, der Schulze Max, Dulle und Herr Seehahn. Durch die Tür vom Hausgang her zogen Josef, Johann, Niklaus und der Großvater ein. Zuletzt Mina, die Prinzessin und die Mutter, sie kamen aus der Küche.

Immer an Weihnachten trug Herr Seehahn am grünen Revers seiner gelblichen Trachtenjacke den Päpstlichen Hausorden, den er bekommen hatte, weil er als Marinerevolutionär in München zum päpstlichen Nuntius, den er hätte gefangen nehmen sollen, gesagt hatte: Eminenz, wenn Sie mit mir kommen, sind Sie verhaftet, wenn Sie die Hintertür nehmen, sind Sie mir entkommen.

Dulle war wohl von allen am weitesten von seiner Heimat entfernt. Dulle war aus einem Ort, dessen Name in Johanns Ohren immer klang, als wolle man sich über Dulle lustig machen. Niemals hätte Johann in Dulles Gegenwart diesen Namen auszusprechen gewagt. Buxtehude. Dulle sprach anders als jeder andere im Dorf. Er hauste in einem Verschlag bei Frau Siegel, droben in Hochsträß, direkt an der frisch geteerten Landstraße. Dulle war Tag und Nacht unterwegs. Als Fischerknecht und als Durstiger. Oder hinter Fräulein Agnes’ Katzen her. Adolf behauptete, Dulles Verschlag, Wände und Decke, sei tapeziert mit Geldscheinen aus der Inflation. Hunderttausenderscheine, Scheine für Millionen, Milliarden, Billionen. Eine Zeitung habe, sagte Adolf, 1923 sechzehn Milliarden Mark gekostet. Immer wenn Johann von dieser Inflation etwas hörte, dachte er, das Land hat Fieber gehabt damals, 41 oder 42 Grad Fieber müssen das gewesen sein.

Der Schulte Max war nirgendwo her beziehungsweise überall her, eben vom Zirkus. Er nächtigte im Dachboden des von zugezogenen Fischerfamilien bewohnten Gemeindehauses, und zwar auf einem Lager aus alten Netzen.

Verglichen mit den Schlafstätten von Dulle und Schulze Max, war das, was Niklaus droben im Dachboden als Schlafstatt hatte, eine tolle Bleibe. Niklaus hatte ein richtiges Bett so mit alten Schränken umstellt, daß eine Art Zimmer entstand. Niklaus war für Johann interessant geworden, als Johann ihm einmal zugeschaut hatte, wie er seine Fußlappen über und um seine Füße schlug und dann in seine Schnürstiefel schlüpfte. Die Socken, die Mina ein Jahr zuvor für Niklaus gestrickt und unter den Tannenbaum gelegt hatte, hatte er einfach liegen lassen. Als Mina sie ihm in die Hand drückten wollte, hatte er den Kopf geschüttelt. Niklaus sprach selten. Mit Nicken, Kopfschütteln und Handbewegungen konnte er, was er sagen wollte, sagen. Wenn er meldete, daß Freifrau Ereolina von Molkenbuer drei Zentner Schwelkoks und Fräulein Hoppe-Seyler zwei Zentner Anthrazit bestellt hatten, merkte man, daß er keinerlei Sprachfehler hatte. Er sprach nicht gern. Sprechen war nicht seine Sache.

Unterm Christbaum lagen für Josef und Johann hellgraue Norwegerpullover, fast weiß und doch nicht weiß, silbergrau eigentlich. Mit graublauen, ein bißchen erhabenen Streifen. Aber auf der Brust zwei sehr verschiedene Muster, eine Verwechslung war zum Glück ausgeschlossen. Josef zog seinen sofort an. Johann hätte seinen lieber unterm Christbaum gesehen, aber weil alle sagten, er solle seinen doch auch probieren, zog er ihn an. Johann mußte, als er spürte, wie ihn dieser Pullover faßte, schnell hinaus, so tun, als müsse er auf den Abort, aber er mußte vor den Spiegel der Garderobe im Hausgang, er mußte sich sehen. Und er sah sich, silbergrau, fast bläulich erhabene Streifen, auf der Brust in einem Kreis ein Wappen. Königssohn, dachte er. Als er wieder hineinging, konnte er nicht ganz verbergen, wie er sich fühlte. Mina merkte es. Der steht dir aber, sagte sie.

Dieser Pullover waren aus dem Allgäu gekommen, von Anselm, dem Vetter genannten Großonkel.

Zu jedem Geschenk gehörte ein Suppenteller voller Plätzchen, Butter-S, Elisen, Lebkuchen, Springerle, Zimtsterne, Spitzbuben, Makronen.

Die Mutter sagte zu Mina hin und meinte die Plätzchen: Ich könnt ’s nicht. Johann nickte heftig, bis Mina bemerkte, daß er heftig nickte. Er hatte letztes Jahr von Adolfs Plätzchenteller probieren dürfen. Bruggers Plätzchen schmeckten alle gleich, von Minas Plätzchen hatte jede Sorte einen ganz eigenen Geschmack, und doch schmeckten alle zusammen so, wie nur Minas Plätzchen schmecken konnten. In diesem Jahr lag neben Johanns und Josefs Teller etwas in Silberpapier eingewickeltes Längliches, und aus dem Silberpapier ragte ein Fähnchen, darauf war ein rotes Herz gemalt und hinter dem Herz stand –lich. Über dem Herz stand: Die Prinzessin grüßt. Josef probierte schon, als Johann noch am Auspacken war. Nougat, sagte er. Richtig, sagte die Prinzessin. Toll, sagte Josef. Johann wickelte seine Nougatstange unangebissen wieder ein.

Für Mina und Elsa gab es Seidenstrümpfe. Beide sagten, daß das doch nicht nötig gewesen wäre. Für Mina lag noch ein Sparbuch dabei. Mit einem kleinen Samen, sagte die Mutter. Bei der Bezirkssparkasse. Die gehe nicht kaputt. Mina sagte kopfschüttelnd: O Frau, vergelt ’s Gott! Für die Prinzessin lagen mehrere Wollstränge in Blau unter dem Baum. Sie nahm sie an sich, salutierte wie ein nachlässiger Soldat mit dem Zeigefinger von der Schläfe weg und sagte: Richtig. Und zu Johann hin: Du weißt, was dir bevorsteht. Johann sagte auch: Richtig! Und grüßte zurück, wie sie gegrüßt hatte. Er mußte immer abends die Hände in die Wollstränge stecken, die die Prinzessin dann, damit sie nachher stricken konnte, zum Knäuel aufwickelte. In jeder feien Minute strickte sie für ihren Moritz, den sie einmal im Monat in Ravensburg besuchen durfte; aber allein sein durfte sie nicht mit dem Einjährigen. Die Mutter des Siebzehnjährigen, der der Kindsvater war, saß dabei, solange die Prinzessin da war. Nach jedem Besuch erzählte die Prinzessin, wie die Mutter des Kindsvaters, die selber noch keine vierzig sei, sie keine Sekunde aus den Augen lasse, wenn sie ihren kleinen Moritz an sich drückte. Die Prinzessin, hieß es, sei einunddreißig. Sie hatte jedem etwas neben den Teller gelegt, und jedesmal hatte sie ihr Herz-Fähnchen dazugesteckt. Für Elsa eine weiße Leinenserviette, in die die Prinzessin mit rotem Garn ein sich aufbäumendes Pferd gestickt hatte. Für Mina zwei Topflappen, in einem ein großes rotes A, im anderen ein ebenso großes M. Für Niklaus hatte sie an zwei Fußlappen schöne Ränder gehäkelt. Für Herrn Seehahn gab es ein winziges Fläschchen Eierlikör. Für die Mutter einen Steckkamm. Für den Vater ein Säckchen mit Lavendelblüten. Für den Großvater ein elfenbeinernes Schnupftabakdöschen. Johann, sagte sie, geh, bring ’s dem Großvater und sag ihm, Ludwig der Zweite, habe es dem Urgroßvater der Prinzessin geschenkt, weil der den König, als er sich bei der Jagd in den Kerschenbaumschen Wäldern den Fuß verstaucht hatte, selber auf dem Rücken bis ins Schloß getragen hat. Alle klatschten, die Prinzessin, die heute einen wild geschminkten Mund hatte, verneigte sich nach allen Seiten. Johann hätte am liebsten nur noch die Prinzessin angeschaut. Dieser riesige Mund paßte so gut unter das verrutschte Glasauge. Für Niklaus lagen wieder ein Paar Socken und ein Päckchen Stumpen unterm Baum. Die Socken, es waren die vom vorigen Jahr, ließ er auch diesmal liegen. Die Stumpen, den Teller voller Plätzchen und die umhäkelten Fußlappen trug er zu seinem Platz. Im Vorbeigehen sagte er zur Prinzessin hin: Du bist so eine. Sie salutierte und sagte: Richtig. Dann ging er noch einmal zurück, zum Vater hin, zur Mutter hin und bedankte sich mit einem Händedruck. Aber er schaute beim Händedruck weder den Vater noch die Mutter an. Schon als er seine Rechte, der der Daumen fehlte, hinreichte, sah er weg. Ja, er drehte sich fast weg, reichte die Hand zur Seite hin, fast schon nach hinten. Und das nicht aus Nachlässigkeit, das sah man. Er wollte denen, die ihn beschenkt hatten, nicht in die Augen sehen müssen. Niklaus setzte sich wieder zu seinem Glas Bier. Nur an Weihnachten, an Ostern und am Nikolaustag trank er das Bier aus dem Glas, sonst aus der Flasche. Johann sah und hörte gern zu, wenn Niklaus die Flasche steil auf der Unterlippe ansetzte und mit einem seufzenden Geräusch leertrank. Wie uninteressant war dagegen das Trinken aus dem Glas. Niklaus setzte auch jede Flasche, die angeblich leer aus dem Lokal zurückkam und hinter dem Haus im Bierständer auf das Brauereiauto wartete, noch einmal auf seinen Mund; er wollte nichts verkommen lassen.

Der Vater ging zum Tannenbaum und holte ein blaues Päckchen, golden verschnürt, gab es der Mutter. Sie schüttelte den Kopf, er sagte: Jetzt mach ’s doch zuerst einmal auf. Eine indische Seife kam heraus. Und Ohrringe, große, schwarz glänzende Tropfen. Sie schüttelte wieder den Kopf, wenn auch langsamer als vorher. Für den Großvater lag ein Nachthemd unter dem Baum. Er sagte zu Johann, der es ihm bringen wollte: Laß es nur liegen. Als letzter packte der Vater sein Geschenk aus. Lederne Fingerhandschuhe, Glacéhandschuhe, sagte der Vater. Damit könnte man fast Klavier spielen, sagte er zu Josef. Und zog sie an und ging ans Klavier und ließ schnell eine Musikmischung aus Weihnachtsliedern aufrauschen. Hanse Luis klatschte Beifall mit gebogenen Händen; das war, weil er seine verkrümmten Handflächen nicht gegen einander schlagen konnte, ein lautloser Beifall. Er sagte: Was ischt da dagege dia Musi vu wittr her. Er konnte sich darauf verlassen, daß jeder im Nebenzimmer wußte, Radio hieß bei Hanse Luis Musik von weiter her. Dann stand er auf und sagte, bevor er hier auch noch in eine Bescherung verwickelt werde, gehe er lieber. Es schneie immer noch, er solle bloß Obacht geben, daß er nicht noch falle, sagte die Mutter. Kui Sorg, Augusta, sagte er, an guate Stolperer fallt it glei. Er legte einen gebogenen Zeigefinger an sein grünes, randloses, nach oben eng zulaufendes Jägerhütchen, das er nie und nirgends abnahm, knickte sogar ein bißchen tänzerisch ein und ging. Unter der Tür drehte er sich noch einmal um, hob die Hand und sagte, er habe bloß Angst, er sei, wenn es jetzt Mode werde, statt Grüßgott zu sagen, die Hand hinauszustrecken, dumm dran, weil er so krumme Pratzen habe, daß es aussehe wie die Faust von denen, die Heil Moskau schrieen. Und dann in seiner Art Hochdeutsch: Ich sehe Kalamitäten voraus, Volksgenossen. Und wieder in seiner Sprache: Der sell hot g’seet: No it hudla, wenn ’s a ’s Sterbe goht. Und mit Gutnacht miteinand war er draußen, bevor ihm die Prinzessin, was er gesagt hatte, in Hochdeutsch zurückgeben konnte. Elsa rannte ihm nach, um ihm die Haustür aufzuschließen. Dann hörte man sie schrill schreien: Nicht, Luis … jetzt komm, Luis, laß doch, Luiiiis! Als sie zurückkam, lachte sie. Der hat sie einreiben wollen. Johann staunte. Daß Adolf, Paul, Ludwig, Guido, der eine Helmut und der andere und er selber die Mädchen mit Schnee einrieben, sobald Schnee gefallen war, war klar; nichts schöner, als Irmgard, Trudl oder Gretel in den Schnee zu legen und ihnen eine Hand voll Schnee im Gesicht zu zerreiben. Die Mädchen gaben dann Töne von sich wie sonst nie. Aber daß man so eine Riesige wie Elsa auch einreiben konnte! Hanse Luis war einen Kopf kleiner als Elsa. Kaum war Elsa da, erschien Hanse Luis noch einmal in der Tür und sagte: Dr sell hot g’sell, a Wieb schla, isch kui Kunscht, abe a Wieb it schla, desch a Kunscht. Und tänzelte auf seine Art und war fort. Die Prinzessin schrie ihm schrill, wie gequält nach: Ein Weib schlagen, ist keine Kunst, aber ein Weib nicht schlagen, das ist eine Kunst. Der Dulle hob sein Glas und sagte, Ohne dir, Prinzessin, tät ich mir hier im Ausland fühlen.

Die Bescherung war vorbei, jetzt also die Lieder. Schon nach dem ersten Lied, Oh du fröhliche, oh du selige, sagte der Schulze Max zur Mutter, die beiden Buben könnten auftreten. Der Vater hatte die Glacéhandschuhe wieder ausgezogen und spielte immer aufwendigere Begleitungen. Nach Kommet ihr Hirten, ihr Männer und Frau’n sagte der Schulte Max zu Dulle: Auf diese Musikanten trinken wir noch ein Glas. Wenn du einverstanden bist. Dulle nickte heftig. Dann gehen wir aber, sagte der Schulze Max. Dulle nickte wieder. Wieder heftig. Der Schulze Max: Wir wollen überhaupt nicht anwachsen hier. Dulle schüttelte den Kopf ganz heftig. Der Schulze Max: Heute schon gar nicht, stimmt ’s? Dulle nickte so heftig, daß er danach seine Brille wieder an ihren Platz hinaufschieben mußte. Der Schulze Max: Auch eine Wirtsfamilie will einmal unter sich sein, stimmt ’s? Dulle nickte wieder, hielt aber, damit er heftig genug nicken konnte, schon während des Nickens die Brille fest. Der Schulze Max: Und wann möchte, ja, wann muß eine Familie ganz unter sich sein, wenn nicht am Heiligen Abend, stimmt ’s? Dulle nahm, daß er noch heftiger als zuvor nicken konnte, seine Brille ab. Der Schulze Max: Und was haben wir heute? Dulle, mit einer unglaublich zarten, fast nur noch hauchenden Stimme: Heilichabend. Der Schulze Max, sehr ernst: Daraus ergibt sich, sehr, sehr verehrte Frau Wirtin, daß das nächste Glas wirklich das letzte ist, das letzte sein muß.

aus: Martin Walser: Ein springender Brunnen (suhrkamp taschenbuch 3100 – 1. Auflage 2000 – S. 92- 96, S. 98-101)

Jean-Marie Gustave Le Clézio : Onitsha

Die Vergabe des Literaturpreises 2008 an den Franzosen Jean-Marie Gustave Le Clézio sorgte besonders in Deutschland für einiges Unverständnis. Ein Grund: Keiner kannte ihn bisher richtig. Als ich zwei seiner Bücher vor acht Jahren zum ersten Mal las, so war bis heute nicht viel in meinem Gedächtnis von dem Gelesenen hängen geblieben. Natürlich frage ich mich heute, was der Grund dafür sein konnte. So las ich also eines der Bücher Onitsha (1991 – dt. Ausgabe 1993 bei Kiepenhauer & Witsch, Köln) in diesen Tagen erneut.

Jean-Marie Gustave Le Clézio

Nun Le Clézio wurde der Nobelpreis als „dem Verfasser des Aufbruchs, des poetischen Abenteuers und der sinnlichen Ekstase” zuerkannt. Ich halte „Onitsha“ für ein sehr poetisches Buch. Es ist Entwicklungs- und eine Art Abenteuerroman und ein Buch über eine uns unbekannte Welt, die Welt der Schwarzafrikaner. Afrika hat mich schon immer interessiert, von der Musik bis hin zur Literatur (beginnend mit Albert Camus und das Leben in Nordafrika bis hin zu Wole Soyinka aus Nigeria). Was mich vielleicht vor Jahren beim ersten Lesen dieses Romans störte: Es fehlt mir etwas der psychologische Tiefgang. Die Personen verharren auf einer Oberfläche, die zwar immer wieder einen Blick in die Tiefe zulässt, der dann aber nur unzureichend ausgeleuchtet wird. Sicherlich sind knapp 300 Seiten zu wenig, um sich der vielen Themen, die hier angesprochen werden, ausführlicher zu widmen. So ist dieser Roman wie ein Gedicht, knapp und poetisch, aber ohne epische Breite.


Onitscha/Nigeria

Zum Inhalt: Geoffroy Allen lebt am Nigerstrom, „etwas oberhalb des Stroms, ein wenig stromaufwärts von der Stadt Onitsha, wie im Herzen einer großen Kreuzung von Wasserwegen.“ Geoffroy arbeite für eine britische Handelsfirma, die diverse Waren aus England importiert.

Als Maou, seine Frau, und der zwölfjährige Sohn Fintan im Jahre 1948 in Port Harcourt ankommen, haben sie eine vierwöchige Schiffsreise hinter sich. Maou ist voller Zuversicht und freut sich schon auf ihr Leben in Afrika: weite Grasebenen, in denen man sich verliert, der breite Strom, so breit, dass man ihn für ein Meer halten könnte, Mangobäume, rote Lehmhäuser und ihr Haus auf einem Hügel, das von Bäumen umgeben ist. Fintan wird erstmals seinen Vater sehen.

Doch die Reise führt keineswegs ins Idyll. Maou betritt afrikanischen Boden, und es dauert nicht lange, da macht sie sich bei Kolonialbeamten unbeliebt. In Onitsha trifft sie auf „eine Gesellschaft von langweiligen, pedantischen Beamten“, die in ihrem Klub Bridge spielen, währenddessen angekettete Sklaven für die englischen Herrschaften eine Grube für ein Swimmingpool ausheben.

Goeffrey dagegen träumt davon, das Land zu finden, in das der Legende nach eine schwarze ägyptische Königin einst mit ihrem Volk gezogen ist, als die Stadt Meroë im Jahre 350 nach Chr. vom König Ezana aus Aksum geplündert wurde.

Für Fintan, dem 12-jährigen tut sich dagegen eine wundervolle Welt auf. Mit seinem afrikanischen Freund Bony erlebt er Abenteuer, wobei er in das afrikanische Leben und auch in die Mythologie des schwarzen Kontinents eintaucht.

Als eine schwere Malariaerkrankung Geoffroys die Familie zwingt, Afrika zu verlassen, nimmt Fintan ein Stück von Afrika für immer mit sich nach Europa.

Wie sein Held Fintan hat Le Clézio seine Kindheit in Afrika verbracht. Er hat mit diesem Buch den Roman einer nie vergessenen Initiation geschrieben. Ihm gelingt es, die kunstvolle Verknüpfung von persönlichen Schicksalen mit den uralten Mythen des schwarzen Kontinents und den Bildern einer geheimnisvollen, archaischen Welt, die im Biafrakrieg für immer untergegangen ist, aufzuzeigen.

Jean-Marie Gustave Le Clézio – Literaturnobelpreis 2008

Anfang des Jahres 2000 hatte ich mich bei 2001 wieder einmal mit preiswerten Büchern eingedeckt, alles Mängelexemplare, die den einzigsten Mangel aufwiesen, den Stempel „Mängelexemplar“ zu tragen, meist Restexemplare, die keinen Käufer gefunden hatten. Darunter auch zwei Werke eines J.M.G. Le Clézio, eines Franzosen. Bisher hatte ich von dem noch nichts gehört, aber der Klappentext verhieß spannende Lektüre. So las ich beide Bücher noch im Februar 2000.

Nun über acht Jahre später geht der Nobelpreis für Literatur 2008 an den französischen Schriftsteller Jean-Marie Gustave Le Clézio, eben jenem Autoren, dessen Bücher damals bei 2001 verramscht wurden. Der Preis wurde dem 68 Jahre alten Autor zuerkannt, „dem Verfasser des Aufbruchs, des poetischen Abenteuers und der sinnlichen Ekstase“ (siehe hierzu auch ein kurzes Video bei zdf.de).

Jean-Marie Gustave Le Clézio

Le Clézio ist auch heute noch bei uns in Deutschland ein weitgehend Unbekannter, dafür aber in seiner Heimat Frankreich ein ganz Großer. So gilt es, ihn erst einmal zu entdecken. Ich muss gestehen, dass nicht viel von dem in meinem Gedächtnis hängen geblieben ist, was ich damals vor acht Jahren las. Vielleicht hatte ich damals zu viel gelesen. Wie auch immer – ich habe mir vorgenommen, die zwei Bücher ‚neu’ zu entdecken. Hier u.a. die Informationen in den Klappentexten der beiden Bücher:

J.M.G. Le Clézio : Onitsha (1991 – dt. Ausgabe 1993 bei Kiepenhauer & Witsch, Köln)

Seine Kindheit in Afrika, die kleine Stadt Onitsha am Niger, das Tamtam der Trommeln in der Nacht, wilde tropische Gewitter, riesige Termitenhügel in der Savanne, Fahrten mit der Piroge auf dem gewaltigen Strom – Fintan Allen wird das alles nie vergessen. Mit 12 Jahren ist er im Frühjahr 1948 an Bord der „Surabaya“ mit seiner Mutter Maou von Frankreich nach Onitsha in Nigeria gekommen. Maou trifft dort ihren Mann Geoffroy wieder, von dem sie durch die Wirren des Krieges getrennt war und dem sie sich bald entfremdet fühlt. Sie, die von einer afrikanischen Idylle geträumt hatte, erfährt nun die Feindseligkeiten der engstirnigen Kolonialgesellschaft und die vielfältige Brutalität dieses Landes. Geoffroy hat sich neben seiner Arbeit bei einer britischen Handelsfirma in eine Traumwelt geflüchtet. Um ihn herum zerfällt die koloniale Welt, er aber sucht wie besessen nach den Spuren der mythischen Stadt Meröe, die nach der Legende von einer schwarzen ägyptischen Königin auf einer Insel im Niger gegründet worden sein soll. Während seine Eltern ihren vergeblichen Träumen nachhängen, erlebt Fintan mit seinem schwarzen Freund wilde Abenteuer und taucht immer tiefer in das afrikanische Leben ein. Als eine schwere Malariaerkrankung Geoffroys die Familie zwingt, Afrika zu verlassen, nimmt Fintan ein Stück von Afrika für immer mit sich nach Europa.

Wie sein Held Fintan hat Le Clézio seine Kindheit in Afrika verbracht. Er hat mit diesem Buch den Roman einer nie vergessenen Initiation geschrieben. Die kunstvolle Verknüpfung von persönlichen Schicksalen mit den uralten Mythen des schwarzen Kontinents und den Bildern einer geheimnisvollen, archaischen Welt, die im Biafrakrieg für immer untergegangen ist, machen dieses Buch zu einer unvergesslichen, faszinierenden Lektüre.

Le Clézio 1940 in Nizza geboren, stammt aus einer Familie, die seit 200 Jahren auf Mauritius lebt. Studium der Literatur in Frankreich und England.

J.M.G. Le Clézio : Fliehender Stern (1992 – dt. Ausgabe 1996 bei Kiepenhauer & Witsch, Köln)

J.M.G. Le Clézio, einer der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren Frankreichs, erzählt in seinem bewegenden Roman von der jungen Jüdin Esther, die im Sommer 1943 mit ihren Eltern und anderen Juden im Hinterland von Nizza interniert ist. Wie alle Jugendlichen lebt Esther in einer Welt der Spiele und Träume, der ersten Liebeleien. Sie freut sich an der Schönheit der Landschaft, erfährt aber auch Angst und Bedrohung, und sie verliert den Vater, der im Widerstand war. Nach Ende des Krieges wandern Esther und ihre Mutter nach Palästina aus, finden dort jedoch nicht den ersehnten Frieden. Auf dem Weg nach Jerusalem begegnet Esther Nejma, die mit einem Treck von Palästinensern in ein Lager flüchtet. Nur einmal sehen sie sich, die Jüdin und die Palästinenserin, und können sich nur ihre Namen nennen – Esther und Nejma. Aber sie erkennen sich, zwei Schwestern, die immer aneinander denken werden, absurderweise durch Kriege getrennt, gegen die sie beide aufbegehren.

In Le Clézios unverwechselbarem Stil und poetischer Sprache geschrieben, fasziniert dieser Roman durch die Schicksale der Menschen, ihre Suche nach Identität, ihre Tapferkeit und ihre Hoffnung.

„Le Clézio sucht die Zeichen des Friedens und des Unglücks im Herzen, im Innersten des Lebens, in der Begegnung mit der Zeit und den Elementen, den Rätseln des Anfangs und der Zukunft.“ Le Monde

Paul Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein

Es ist schon erstaunlich, wie sehr sich die Menschen ihr Leben und das ihrer Nächsten zur Hölle machen. Auf dem Weg zum Glück stolpern sie in jede Falle und verfangen sich immer wieder in einem Netz von Intrigen. So als wolle keiner wirklich glücklich sein. Damit das Unglücklichsein auch wirklich gelingt, hat Paul Watzlawick vor jetzt 25 Jahren eine Leitfaden hierzu geschrieben: Anleitung zum Unglücklichsein.

Watzlawick zeigt uns einige der Fallstricke, in die wir uns doch so gern verwickeln, und belegt vieles mit Beispiele, bei denen man nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll, z.B. wie die vom Helfersyndrom ereilte Frau ihr Lebtag den Säufer als Ehemann braucht, um ihm helfen zu können. Wenn er trocken wird, braucht er sie nicht mehr und umgekehrt.

In vielem erkennt man sich selbst (leider) oft genug wieder, wie z.B. in den selbsterfüllenden Prophezeiungen. Witzig ist auch die Geschichte vom Manne, der alle zehn Sekunden in die Hände klatscht:

Nach dem Grunde für dieses merkwürdige Verhalten befragt, erklärt er: „Um die Elefanten zu verscheuchen.“

„Elefanten? Aber es sind doch hier gar keine Elfanten?“

Darauf er: „Na, also! Sehen Sie?“

Die Moral von der Geschichte ist, daß Abwehr oder Vermeidung einer gefürchteten Situation oder eines Problems einerseits die scheinbar vernünftigste Lösung darstellt, andererseits aber das Fortbestehen des Problems garantiert.

Nun könnte man Watzlawick für einen Sadisten halten („Ein Sadist ist jemand, der lieb zu einem Masochisten ist“). Aber er meint es eigentlich nur gut mit uns, denn im Epilog zu dem kleinen Büchlein von leider nur 120 Seiten (gern hätte man mehr von diesem Witzig-Geistreichen) steht, gewissermaßen als Quintessenz:

Die grundlegende Regel, wonach das Spiel kein Spiel, sondern todernst ist, macht das Leben zu einem Spiel ohne Ende, das eben nur der Tod beendet. Und – als wäre das nicht schon paradox genug – hier liegt eine zweite Paradoxie: Die einzige Regel, die dieses todernste Spiel beenden könnte, ist nicht selbst eine seiner Regeln. Für sie gibt es verschiedene Namen, die an sich ein und dasselbe bedeuten: Fairneß, Vertrauen, Toleranz.

Wie man in den Wald ruft, so schallt es heraus. Das hat man uns schon gesagt, als wir noch Kinder waren. Und in unserem Kopf wissen wir es auch; aber glauben tun es nur einige wenige Glückliche. Glaubten wir es nämlich, dann wüßten wir, daß wir nicht nur die Schöpfer unseres eigenen Unglücklichseins sind, sondern genauso gut unsere Glücklichkeit selbst schaffen könnten.

Mit Dostojewski begann diese Anleistung, mit ihm soll sie enden. In den Dämonen sagt eine der zwiespältigsten Persönlichkeiten, die Dostojewski je schuf: „Alles ist gut … Alles. Der Mensch ist unglücklich, weil er nicht weiß, daß er glücklich ist. Nur deshalb. Das ist alles, alles! Wer das erkennt, der wird gleich glücklich sein, sofort, im selben Augenblick …“

So hoffnungslos einfach ist die Lösung.

aus: Paul Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein (Lizenzausgabe 1983 – S. 127 f.)

Hermann Hesse: Narziß und Goldmund

Im Alter von zwanzig Jahren begann ich mit dem Lesen. Gut, in jungen Jahren hatte ich den obligatorischen Karl May gelesen und auch andere Jugendbücher. Sind ja auch gar nicht so schlecht die Geschichten von Winnetou und Old Shatterhand, obwohl mir Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar noch etwas besser gefallen haben (damals wie heute).

Mit zwanzig Jahren las ich zunächst Hermann Hesse. Es war damals die auslaufende Zeit der Blumenkinder. Und Hesses Bücher, speziell „Der Steppenwolf“, löste eine Hesse-Rezeption gerade bei diesen aus (vergleiche u.a. den Film „Easy Rider“ mit der Musik – „Born to be Wild“ – der Gruppe „Steppenwolf“, benannt nach Hesses Roman).

Hermann Hesse

In dieser Zeit las ich auch Hesses „Narziß und Goldmund“ zum ersten Mal (diese Erzählung aus dem Jahr 1930 habe ich auch in die Liste meiner liebsten Bücher aufgenommen). Das Buch handelt zwar im Mittelalter, beschäftigt sich aber mit Fragen der Psychologie. Die beiden genannten Hauptfiguren verkörpern gewissermaßen die beiden Pole des Menschen – den Geistesmensch und den Sinnesmenschen in etwa nach dem Motto: Sinn und Sinnlichkeit. Zwar wirkt die Sprache Hesses heute teilweise etwas zu pathetisch, vor allem antiquiert, lässt einen aber doch nicht vom Lesen los. Und die Thematik ist weiterhin aktuell. Natürlich stehen Narziß und Goldmund hier jeweils als Stereotypen für einen dieser Menschentypen. Aber gerade oder weil sie so verschieden sind, schließen sie eine enge Freundschaft, da sie den fehlenden Teil in sich beim anderen entdecken. Narziß, der Geistesmensch, ist Lehrer und Mönch und wird eines Tages Abt eines Klosters. Goldmund, als Schüler ins Kloster gekommen, entrinnt den starren Mauern, um in der Welt sein Glück zu suchen. Er ist ganz den Sinnen zugewandt (Emotionen und Lust) und entwickelt sich zum Künstler.

Hier die Worte von Narziß, mit denen er die Unterschiede zwischen sich und Goldmund beschreibt:

“Die Naturen von deiner Art, die mit den starken und zarten Sinnen, die Beseelten, die Träumer, Dichter, Liebenden, sind uns andern, uns Geistmenschen, beinahe immer überlegen. Eure Herkunft ist eine mütterliche. Ihr lebet im Vollen, euch ist die Kraft der Liebe und des Erlebenkönnens gegeben. Wir Geistigen, obwohl wir euch andere häufig zu leiten und zu regieren scheinen, leben nicht im Vollen, wir leben in der Dürre. Euch gehört die Fülle des Lebens, euch der Saft der Früchte, euch der Garten der Liebe, das schöne Land der Kunst. Eure Heimat ist die Erde, unsere die Idee. Eure Gefahr ist das Ertrinken in der Sinnenwelt, unsere das Ersticken im luftleeren Raum. Du bis Künstler, ich bin Denker. Du schläfst an der Brust der Mutter, ich wach in der Wüste. Mir scheint die Sonne, dir scheinen Mond und Sterne, deine Träume sind von Mädchen, meine von Knaben …“

aus: Hermann Hesse Narziß und Goldmund (suhrkamp taschenbuch 274 – 2. Auflage 1975, S 49)

Goldmunds abenteuerliches Leben bildet den großen Mittelteil der Erzählung. Er scheut selbst den Totschlag nicht, wenn er dazu gezwungen ist. Am Ende nach einer Zeit des Wüten der Pest kehrt er zu Narziß zurück. Beide erkennen:

Jedes Leben wird ja erst durch Spaltung und Widerspruch reich und blühend. Was wäre Vernunft und Nüchternheit ohne das Wissen vom Rausch, was wäre Sinnenlust, wenn nicht der Tod hinter ihr stünde, und was wäre Liebe ohne die ewige Todfeindschaft der Geschlechter?

(S. 198)

Zwar entschwindet Goldmund noch einmal und kehrt krank und alt zurück. Aber sowohl er als auch Narziß haben gewissermaßen den inneren Frieden gefunden, indem sich beide auf ihre Art selbst verwirklicht haben:

Das vollkommene Sein ist Gott. Alles andere, was ist, ist nur halb, ist teilweise, es ist werdend, ist gemischt, besteht aus Möglichkeiten. Gott aber ist nicht gemischt, er ist eins, er hat keine Möglichkeiten, sondern ist ganz und gar Wirklichkeit. Wir aber sind vergänglich, wir sind werdend, wir sind Möglichkeiten, es gibt für uns keine Vollkommenheit, kein völliges Sein. Dort aber, wo wir von der Potenz zur Tat, von der Möglichkeit zur Verwirklichung schreiten, haben wir Teil am wahren Sein, werden dem Vollkommenen und Göttlichen um einen Grad ähnlicher. Das heißt: sich verwirklichen.

(S. 286)

Thomas Mann schrieb seinerzeit durchaus passend:

Hesses Roman ‚Narziß und Goldmund’ setzt mit großer sprachlicher Schönheit ein und scheint in einer mittelalterlichen Zeitlosigkeit zu schweben, die dem poetischen Bedürfnis dieser rohen Aktualität widerstrebenden Geistes entspricht, ohne darum seine schmerzliche Fühlung mit den Problemen der Gegenwart zu verleugnen … ein wunderschönes Buch mit seiner Mischung aus deutsch-romantischen und modern-psychologischen, ja psychoanalytischen Elementen … eine in ihrer Reinheit und Interessantheit durchaus einzigartige Romandichtung.

Selbsterfüllende Prophezeiungen

Das Buch „Menschliche Kommunikation“, an dem auch Paul Watzlawick maßgeblich mitgewirkt hat, habe ich noch gar nicht zu Ende gelesen (siehe hier kleine Ausschnitte aus dem Buch in meinen Beiträgen: Kulturbedingtes PaarungsverhaltenManipulation der Wahrnehmung und Kleine Denkaufgabe), da habe ich mir Paul Watzlawicks bekanntes Buch „Anleitung zum Unglücklichsein“ noch einmal vorgenommen. Das Buch ist 1983 erschienen und war damals ein „Renner“. Denn entgegen gewöhnlichen Ratgebern, die uns nur glücklich zu machen versuchen, bezweckte dieses Buch das genaue Gegenteil. Oder etwa nicht? Ich denke, jeder Leser wird beim Lesen etwas von sich selbst wiederfinden – „nämlich seine eigene Art und Weise, den Alltag unerträglich und das Triviale enorm zu machen“, wie es der Piper-Verlag ausdrückt. Aber auf die „Anleitung zum Unglücklichsein“ komme ich sicherlich später noch einmal zurück.

Hier eine Textpassage zum Thema selbsterfüllende Prophezeiungen, die ich sehr treffend finde. Es ist eigentlich schon verwunderlich, wie sehr wir uns durch Katastrophen beeindrucken lassen (nicht umsonst triefen Presseerzeugnisse für den Boulevard davon). Und noch erstaunlicher ist es, wie wir gern selbst in solche Katastrophen hineinschlittern, in Notlagen, die tatsächlich eigentlich keine sind. Man macht sich eben gern das Leben schwer.

Ihr Horoskop in der heutigen Zeitung warnt Sie (und ungefähr 300 Millionen andere, im selben Tierkreiszeichen Geborene) vor der Möglichkeit eines Unfalls. Tatsächlich passiert Ihnen etwas. Also hat es mit der Astrologie doch seine Bewandtnis.

Oder? Sind Sie sicher, daß Sie den Unfall auch dann gehabt hätten, wenn Sie das Horoskop nicht gelesen hätten? Oder wenn Sie wirklich überzeugt wären, daß die Astrologie krasser Unsinn ist? Nachträglich läßt sich das freilich nicht klären.

Vom Philosophen Karl Popper stammt die interessante Idee, daß – etwas laienhaft ausgedrückt – sich für Ödipus die schreckliche Prophezeiung des Orakels deswegen erfüllte, weil er von ihr wußte und ihr zu entgehen versuchte. Gerade aber das, was er zur Vermeidung tat, führte zur Erfüllung des Orakelspruches.

Delphi (Orakel)

Hier hätten wir es also mit einer … Wirkung der Vermeidung zu tun, nämlich ihrer Fähigkeit, unter Umständen das herbeizuführen, was vermieden werden soll. Und was für Umstände sind das? Erstens eine Voraussage im weitesten Sinne, also jede Erwartung, Besorgnis, Überzeugung oder ganz einfach ein Verdacht, daß die Dinge so und nicht anders verlaufen werden. Damit soll außerdem gesagt sein, daß die betreffende Erwartung entweder von außen, etwa durch andere Menschen, oder durch irgendwelche innere Überzeugungen ausgelöst werden kann. Zweitens muß die Erwartung nicht als reine Erwartung, sondern als bevorstehende Tatsache gesehen werden, zu deren Vermeidung sofortige Gegenmaßnahmen ergriffen werden müssen. Drittens ist die Annahme um so überzeugender, je mehr Menschen sie teilen, oder je weniger sie anderen, vom Lauf der Dinge bereits bewiesenen Annahmen widerspricht.

So genügt zum Beispiel die Annahme – ob sie faktisch begründet oder grundlos ist, spielt keine Rolle -, daß die anderen über einen tuscheln und sich heimlich lustig machen. Angesichts dieser „Tatsache“ legt es der gesunde Menschenverstand nahe, den Mitmenschen nicht zu trauen und, da das Ganze natürlich unter einem löchrigen Schleier der Verheimlichung geschieht, genau aufzupassen und auch die kleinsten Indizien in Betracht zu ziehen. Es ist dann nur eine Frage der Zeit, bis man die anderen beim Tuscheln und heimlichen Lachen, beim konspiratorischen Augenzwickern und gegenseitigen Zunicken ertappen kann. Die Prophezeiung hat sich erfüllt.

Allerdings funktioniert dieser Mechanismus nur dann wirklich klaglos, wenn Sie sich Ihres eigenen Beitrags dazu nicht Rechenschaft ablegen. Wie Sie aber … gelernt haben sollten, ist das nicht zu schwierig. Und außerdem, wenn die Sache einmal eine Zeitlang läuft, ist es ohnedies nicht mehr feststellbar und auch gar nicht wesentlich, was zuerst kam: Ihr für die anderen lächerlich mißtrauisches Gehabe, oder das Gehabe der anderen, das Sie mißtrauisch macht.

Selbsterfüllende Prophezeiungen haben einen geradezu magischen, „wirklichkeits“-schaffenden Effekt … .Und sie haben ihren Stammplatz nicht nur im Repertoire jedes Unglücklichkeitsaspiranten, sondern auch im größeren gesellschaftlichen Rahmen. … Je mehr Stopzeichen die Polizei aufstellt, desto mehre Fahrer werden zu Verkehrssündern, was die Aufstellung weiterer Stopzeichen „notwendig“ macht. Je mehr eine Nation sich vom Nachbarn bedroht fühlt, desto mehr wird sie sich zu ihrer Verteidigung rüsten, und desto mehr wird die Nachbarnation ihre eigene Aufrüstung für das Gebot der Stunde halten. Der Ausbruch des (längst erwarteten) Krieges ist dann nur noch eine Frage der Zeit. Je höher die Steuersätze eines Landes hinaufgeschraubt werden, um die Hinterziehungen der natürlich für unehrlich gehaltenen Steuerzahler zu kompensieren, desto mehr werden auch ehrliche Bürger zum Schwindeln veranlaßt. Jede von einer genügend großen Zahl von Menschen geglaubte Prophezeiung der bevorstehenden Verknappung oder Verteuerung einer Ware, wird (ob die Voraussage „faktisch“ richtig ist oder nicht) zu Hamsterkäufen und damit zur Verknappung oder Verteuerung der Ware führen.

Die Prophezeiung des Ereignisses führt zum Ereignis der Prophezeiung. Voraussetzung ist nur, daß man sich selbst etwas prophezeit oder prophezeien läßt, und daß man es für eine unabhängig von einem selbst bestehende oder unmittelbar bevorstehende Tatsache hält. Auf diese Weise kommt man genau dort an, wo man nicht ankommen wollte.

aus: Paul Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein (Lizenzausgabe 1983 – S. 47-61)

Martin Walser: Brandung

Etwa sieben Jahre nachdem Helmut Halm mit seiner Frau Sabine Urlaub am Bodensee machte („Ein fliehendes Pferd“, veröffentlicht 1978), begegnen wir ihn in dem Roman „Brandung“ (veröffentlicht 1985) von Martin Walser wieder.

Mit „Brandung“ habe ich jetzt das dritte Walser-Buch innerhalb kurzer Zeit zu Ende gelesen. Es ist schon allein deshalb für mich interessant, weil der Protagonist des Buches, Helmut Halm, in meinem jetzigen Alter ist.

Halm ist Englisch- und Deutschlehrer in Stuttgart, wo er im Stadtteil Sullenbach im ehemaligem Haus seiner Schwiegereltern lebt. Am zweiten Tag der Sommerferien erreicht ihm ein Anruf eines ehemaligen Studienkollegen mit der Bitte, stellvertretend für einen ausgefallenen Wissenschaftler für ein Semester einen Lehrauftrag an der Collegestufe der Universität von Los Angeles (lt. Roman die Washington University in Oakland, die es aber nicht gibt – es muss sich anhand der geografischen Daten um die UC (University of California) in Berkeley handeln) zu übernehmen. Nach reiflichen Überlegung sagt er zu.


Wohnsitz von Helmut Halm: Stuttgart-Sillenbuch – Buowaldstraße

Seine Arbeit besteht im Wesentlichen aus einem Konversationskurs, an dem auch die 22-jährige Fran Webb teilnimmt. Obwohl sie sich nicht am Unterricht beteiligt, vereinnahmt sie Helmut Halm nach dem Unterricht und lässt sich für die Anfertigung eigener Examensarbeiten von ihm beraten. Zunächst scheint seine Hilfe zu fruchten. Aber schon der 2. Aufsatz von ihr bekommt eine schlechte Note, da seine Ratschläge zu ausgelassen und zu gewagt werden.


Wohnsitz der Halms in Berkeley (San Francisco) – Contra Costa Avenue

Helmut Halm ist hin- und hergerissen von dieser „schönen Dummen“ und nimmt sich sehr viel Zeit für sie. Hinzu kommt, dass sich Fran Webbs Aufsatzthemen immer wieder um Pärchen drehen, die anscheinend nicht zueinander finden können, obwohl sie ineinander verliebt sind – wie z.B. Benedikt (Benedick) und Beatrice in William Shakespeares „Viel Lärm um nichts“, die ihre gegenseitige Liebe mit viel Wortwitz zu leugnen trachten.

Zuvor ist es aber auch William Shakespeares 129. Sonett, das die Phantasie des Helmut Halms zu beflügeln scheint. Außerdem treibt ein Sittenstrolch (rapist) sein Unwesen auf dem Campus. Da kommt selbst ein Herr Halm auf komische Ideen.

Shakespeare – 129. Sonett

The expense of spirit in a waste of shame
Is lust in action; and till action, lust
Is perjured, murderous, bloody, full of blame,
Savage, extreme, rude, cruel, not to trust …

Des Geistes Aufwand bei der Schandthat Plan
Wird bei der That zur Lust, und bis zur That
Ist blutig, treulos, mördrisch, voll von Wahn,
Und wild die Lust, und roh und voll Verrath.

Deutsch von Ludwig Reinhold Walesrode, 1840

Nachdem seine Frau wieder nach Deutschland zurückkehren muss (ihr Vater liegt im Sterben) , geht die Phantasie endgültig mit Helmut Halm durch. Aber es ist eben nur die Phantasie, obwohl sein ständiges Beisammensein mit Fran Webb auch die Kollegen argwöhnisch werden lässt.

„Hatte er eigentlich je ein Mädchen, eine Frau angesprochen? Hatte er je eine Absicht zu erkennen gegeben, bevor er durch Zeichen der Frau sicher sein konnte, er werde, wenn er sich nähere, nicht abgewiesen?“

(Martin Walser: Brandung, 1985, Lizenzausgabe S. 251)

Nein, auch Fran Webb spricht er nicht an. Und sie lässt ihn physisch nicht näherkommen.

Helmut Halm ist ein Meister der Verstellung. Er zeigt nicht, was er denkt und denkt nicht, wie er sich zeigt. Schon das war Thema des ersten Halm Buchs „Ein fliehendes Pferd“:

„Ist nicht jede Sprache eine Fremdsprache, hätte Halm gern gesagt, ausgerufen sogar. Fremd dem, was wir sind. Was wir sind, darf nicht herauskommen. In keiner Sprache. Also, die heutige Behauptung: Jede Sprache ist mehr zum Verbergen da als zum Enthüllen …“

(S. 66)

„Jetzt hatte er gestern das so schön vorbereitet: Was verschweigt man, wenn man etwas sagt? Was sagt man, um etwas verschweigen zu können? Wie kann man von Gesagtem auf Verschwiegenes schließen?“

(S. 68)

„Und ich wüsste nichts und niemanden, dem ich lieber beichtete als deiner Brandung. Oh, was für ein Mantel für alles du bist, Brandung.“

(S. 90)

Aber mit dieser Fran Webb treibt es Helmut Halm in diesem Punkt auf die Spitze. Er sieht sie und sich als jene Shapkespeare’sche Benedikt und Beatrice, die ihre Liebe so wortreich verleumdeten, und erwartet oder hofft, dass Fran sich als diese Beatrice zu erkennen gibt. Aber sie ist dann doch nur die „schöne Dumme“, oder?

Das Ganze endet tragisch, nein eigentlich tragikomisch. Fran stirbt in der Brandung des Pazifiks, während Halm – das Semester ist beendet und er nach Stuttgart heimgekehrt – auf einen Brief von ihr wartet (er ist ein letztes Mal seiner Phantasie erlegen). Es kommt ein Brief – aber von einer Kollegin der Uni in Kalifornien, die ihm den Tod mitteilt. Und selbst aus der Ferne ist er nicht ganz unschuldig an ihrem Tod. Überhaupt sterben in diesem Buch viele Menschen, auch der Studienfreund, der ihn zu dieser Reise nach Kalifornien eingeladen hatte. Und die Brandung des Pazifiks, in der Helmut Halm selbst fast umgekommen wäre, spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle in diesem Buch (wenn ich richtig gezählt habe, so kommt das Wort Brandung als Einzelwort oder in Kombinationen mindestens 31 Mal vor, außerdem zweimal auf Englisch = surf).

Als der Roman 1985 auf den Markt kam, überschlugen sich einmal wieder die Kritiken (“So brillant, so witzig, so genau …” – “Diese sprachliche Üppigkeit, diese manchmal prahlerische, gefallsüchtige Prächtigkeit, dieses Rankenwerk aus Sätzen, Einfällen, Anekdoten, Haupt- und Nebengeschichten …” – “… auf der Höhe all seiner Erzählkunst …“ – „Da gibt es Kabinettstücke tödlicher Ironie.“ – „Ein mitreißender Lebensroman …“). Martin Walser ist ohne Zweifel ein Meister der deutschen Sprache, auch wenn er dazu neigt, den Leser mit manchen Wort- und Satzungetümen zu erschlagen (Halm selbst erkennt, dass er oft geschwollen daherredet („Halm wollte, wenn ihm danach war, möglichst geschwollen daherreden.“ S. 28)). Aber wie er diese Sehnsucht eines 55-Jährigen nach Jugend beschreibt, ist schon außergewöhnlich und einmalig. Helmut Halm geht es nicht um Sex mit einer jungen Frau. Er erkennt immer wieder, wie lächerlich es wäre (für ihn, für die junge Fran, für seine Umwelt). Vielleicht fürchte er diese Lächerlichkeit mehr noch. Und doch kommt er von dieser jungen Frau so schnell nicht los – wenn auch nur in seiner Phantasie. Am Ende ist es wieder wie in „Ein fliehendes Pferd“. Er liegt mit seiner Frau im Bett und beginnt zu erzählen: Es ist der 2. Tag der großen Ferien, als sein früherer Studienfreund anruft. „Nichts schlimmer als so eine von Unausgesprochenheiten zermürbte Ehe“ (S. 258) warf ihm der Studienfreund zwischendurch einmal vor. Am Ende spricht er das Unausgesprochene aber doch aus – und findet so zu sich selbst. Damit akzeptiert er auch sein Alter. Und seine Ehe. Und findet auch zu seiner Frau zurück.