Kategorie-Archiv: Wiedergelesen

Wiedergelesen – wiederentdeckte Literatur

Die neun Pforten – „Der Club Dumas“ von Arturo Pérez-Reverte

Dieser Tage lief im deutschen Fernsehen der Film „Die neun Pforten“ (Frankreich/Spanien 1999 – Originaltitel: The Ninth Gate – Regie: Roman Polanski – Darsteller: Johnny Depp, Frank Langella, Lena Olin, Emmanuelle Seigner) nach dem Roman „Der Club Dumas“ von Arturo Pérez-Reverte. Eigentlich bin ich kein unbedingter Freund von Romanen wie „Der DaVince Code“ und ähnlichem. Mich interessiert ‚handfeste‘ Psychologie. Und da ist mir ein Franz Kafka oder Martin Walser lieber. Das vorliegende Buch habe ich irgendwie, irgendwo in einer Grabbelkiste gefunden – und dann auch tatsächlich gelesen. Da ich mich nebenbei auch für Gott und die Welt interessiere, so schließt das den Teufel nicht aus. Von daher fand ich das Buch durchaus interessant.

Zunächst zum Buch:

Die Hauptfigur Lucas Corso ist ein sogenannter Bücherjäger, der im Auftrag reicher Büchersammler seltene und kostbare Exemplare aufspürt und dabei so manches Mal die Grenzen der Legalität überschreitet. Corso bezeichnet sich selbst als Söldner, der seine Dienste dem Meistzahlenden anbietet. Ein Freund von ihm bittet ihn die Echtheit eines handgeschriebenen Kapitels aus dem Roman „Die drei Musketiere“ von Alexandre Dumas zu überprüfen. Zur gleichen Zeit erhält er von einem zwielichtigen Antiquar den Auftrag, ein kostbares okkultes Buch mit den übrigen Exemplaren zu vergleichen. Auf der Reise zu Fachleuten und Privatbibliotheken wird er mit seltsamen Ereignissen konfrontiert und fühlt sich immer mehr in die Rolle einer hilflosen Romanfigur gedrängt. Bösewichte aus den Dumas-Romanen verfolgen ihn, Menschen werden umgebracht und ständig taucht ein mysteriöses grünäugiges Mädchen auf. Corso erkennt, dass er sich in einem Rätselspiel befindet und versucht es mit Hilfe seiner Kombinationsgabe zu lösen. Er erfährt, dass Boris Balkan, ein Spezialist für Dumas, der Drahtzieher dieses Spiel ist und Schauspieler auf Corso ansetzte, um an das Kapitel zu kommen. Die vielen Zusammenhänge, die Corso zwischen dem Dumas-Kapitel und dem Buch „Die neun Pforten“ zu entdecken glaubte, stellen sich als Hirngespinste heraus. In Wirklichkeit hat der Antiquar Varo Borja Corso dazu benützt, an eine Formel zur Teufelsbeschwörung zu kommen. Obwohl Corso Realität und Fiktion nicht mehr voneinander unterscheiden kann, siegt seine Vernunft und er löst das Rätsel um das teuflische Buch: Zwei leidenschaftliche Fälscher haben sich den Scherz erlaubt, das Buch zu verändern und so den Teufelsanhänger auf die falsche Fährte zu schicken.

Kurz zum Film:

In dem Film „Die neun Pforten“ geht es nur noch um das okkulte Buch. Aus Lucas wird Dean Corso und auch sonst ändert sich einiges. Hier eine ausführliche Filmbeschreibung zu „Die neun Pforten“.

Komme ich zum Buch zurück: Der Titel verrät es bereits („Der Club Dumas“ – Dumas ist der Verfasser der „Drei Musketiere“). Im ganzen Roman werden Parallelen zu den „Drei Musketieren“ gezogen und es werden ganze Szenen in der Jetztzeit dargestellt. Interessant ist auch der Name des mysteriöses grünäugiges Mädchen, das Lucas Corso immer wieder über den Weg läuft. Irene Adler ist eigentlich die Frau, die Sherlock Holmes besiegte. Überhaupt gibt es allerorts Verweise zur leichten Literatur des 19. Jahrhunderts, zu Dumas, zu Arthur Conan Doyle u.a.

Zum Buch „De Umbrarum regni novem Portis“, den neun Pforten ins Reich der Schatten: Es wurde von einem gewissen Aristide Torchia 1666 geschrieben und verlegt. Dieser wurde ein Jahr darauf von der Inquisition mit seinen Büchern verbrannt. Lediglich ein Buch blieb erhalten. Das Buch beschreibt einen Weg, den Teufel aufzurufen und in sein Reich einzuziehen, vorausgesetzt man ist in der Lage, die versteckte Botschaft des Buches richtig zu deuten. Es enthält neun Holzschnitte, welche als eine Art Bilderrätsel die Lösung beinhalten sollen. Die Inspiration zu diesem Buch holte sich der Autor aus dem Delomelanicon („Beschwörung der Dunkelheit“), einer Schrift, die von Luzifer persönlich verfasst sein soll.

De Umbrarum regni novem Portis

Zum Schluss – der Schluss des Filmes bzw. des Buches:

Die Teufelsbeschwörung musste misslingen, weil das Buch von den beiden Buchfälschern manipuliert war. Der neunte Holzschnitt war eine Fälschung. Damit endet das Buch. Corso zieht mit dem Mädchen weiter. Open End!

Auch der Film scheint ein offenes Ende zu haben, geht aber weiter: Corso reist nach Toledo und wie durch Zufall flattert ihm eine Doppelseite, die wohl jemand aus „Die neun Pforten ins Reich der Schatten“ herausgerissen hat, vor die Füße. Auf dem Holzschnitt ist eine nackte Frau abgebildet, die vor einer lichtüberfluteten Burg auf einem Fabelwesen sitzt. Zuletzt schreitet Corso auf eine Burg zu und wandert selbst ins Reich der Schatten. Wo Licht ist, da beginnt der Schatten.

Das mysteriöse Mädchen stellt sich als die Hure Babylons heraus, die auf dem letzten der neun Holzschnitte, den neun Pforten, abgebildet ist.

Porta nona: Die Hure Babylons

Warum der Mensch sich meist zivil benimmt …

Es ist bereits geraume Zeit her, da ich unter der Rubrik ‚Knisterndes‘ aus Eckhard Henscheids ‚Mätresse des Bischofs‘ zitiert habe. Das war natürlich geschmacklich Entglittenes, zumal besagter Bischof inzwischen zum Papst aufgestiegen ist. Hier nun doch etwas weniger Anrüchiges, ja eher geradezu Philosophisches aus gleichem Buch, das ich mich wähne, endlich zu Ende zu lesen:

Ju-bi-la-te (F. W. Bernstein) zu Henscheids Bischof

Was aber Alwin bzw. die Kurmusik bzw. das Weizenbier betrifft: Nach wie vor ist ja gänzlich ungeklärt, auch nach Schopenhauers Preisschrift, warum der Mensch sich meist zivil benimmt und nicht vielmehr tagein-tagaus alles Sicht- und Greifbare zusammenschlägt, die Wohnung zernichtet, die Sekretärin oder die Nichte überwältigt, unsere Kur-Combo, den eigenen Super-Autopark. Ungeklärt ist, warum es noch immer Dinge gibt wie Vertrauen, Kreditwürdigkeit, Rücksicht, formvolle Beerdigungen mit ehrenden Zeilen. Die Juristen schieben es – dumm! – auf das angeborene Rechtsempfinden, die Ärzte meines Wissens auf das Trägheitssyndrom – wir Chemiker … oder besser ich persönlich neige doch immer mehr und allen früher geäußerten Reserven zum Trotz zur – Theorie der Sicherung durch Weizenbier! Die allgemeinen unordentlichen Zustände verlangen halt, zumal bei haltlosen Naturen, nach seinem kontinuierlichen Einsaugen, dadurch erhöht sich zwar in nächster Instanz vorübergehend die Unordnung, und es würde alles ganz verheerend, also muß schnell ein neues Weizenbier eingeführt werden – und die Zivilisation bleibt konstant und mit ihr die Vision ewiger Seligkeit. Daß Alwin trotzdem den 2 Meter-03-Wirt Demuth im Weizentaumel zusammenschlug, bleibt Ausnahme, die die Regel bestätigt.

aus: Eckhard Henscheid – Die Mätresse des Bischofs
(mit Zeichnungen von F. W. Bernstein)  
 

 

Fräulein Smillas Gespür für Schnee

Ein Unfall – so beurteilt die Kopenhagener Polizei den Tod des kleinen Isaiah. Der Eskimojunge ist vom Dach eines Mietshauses in den Tod gestürzt. Für seine mütterliche Freundin Smilla aber liegt der Fall anders. Die Tochter einer Robbenjägerin und eines Arztes stammt aus Grönland. Ihr Volk kennt 100 Wörter für Schnee. Smilla arbeitet als Gletschermorphologin und kann Eiskritalle bestimmen. Nun liest sie Isaiahs Fußspuren auf dem verschneiten Dach und erkennt, dass der Junge ermordet worden ist. Unterstützt von ihrem rätselhaften Nachbarn Peter forscht sie nach und kommt einer Firma auf die Spur, die vor Jahren im ewigen Eis Experimente durchführte.

aus TV Movie Nr. 25/2005

    Smilla im Schnee

Der Film (Smilla’s Sense of Snow – D/DK/S 1997 – Regie: Bille August – mit Julia Ormond) entstand nach dem Roman des dänischen Schriftstellers Peter Høeg. Dieser ist 1992 im Original unter dem Titel „Frøken Smillas fornemmelse for sne“ erschienen und machte den Autor über Nacht weltweit gerühmt.

Heute um 20 Uhr 15 wird der Film bei kabel Eins wiederholt.

Ein Volk, das im ewigen Winter lebt, sieht und bezeichnet viele Details des Schnees. Tatsächlich benennen die Inuit (wie sich die Eskimos nennen) die weiße Pracht nach ihren Eigenschaften:

Es gibt u.a. Wörter für leichten Schnee („katiksunik“), rieselnden („gana“) und schmelzenden Schnee („auksalak“). Zudem unterscheiden die Inuit Schnee nach ihrer Beschaffenheit – genauer, als unsere Bezeichnungen „Schneematsch“ („massak“) und „Pulverschnee“ („nutagak“). Eine Besonderheit der Inuit-Sprache ist es, einen Sachverhalt mit einem Wort zusammenzufassen, wie: Schnee, der hoch liegt (z.B. auf Bäumen) und herunterfallen kann – kurz: „mavsa“.

„Kannik“ bedeutet „Schneeflocke“, „kiksrukak“ „glatter Schnee“, kaiyuglak „Schnee mit gerippter Oberfläche“, „akillukkak“ „weicher Schnee“. Einfach „Schnee“ heisst aber „apun“, der „erste Schneefall“ „apingaut“.

Lexikon des Schnees (englisch)
Schnee der Eskimo (Inuit)
Zur Schrift der Inuit

Kurz, kürzer – Kürzestgeschichten

Deutsche Literatur vor 50 Jahren. Die noch heute bedeutendste deutsche Literaturzeitschrift Akzente ging gerade in ihr zweites Jahr. Für mich Anlass, einen weiteren Blick auf das damals Geschriebene zu werfen. Hier zwei als Kürzestgeschichten deklarierte Werke:

Heimito von Doderer: Das Frühstück

Heute morgens frühstückte ich im Bade, etwas zerstreut. Ich goß den Tee in das zum Zähneputzen bestimmte Gefäß, und warf zwei Stücke Zucker in die Badewanne, welche aber nicht genügten, ein so großes Quantum Wassers merklich zu versüßen.

Gisela Elsner: Herausragen

Triboll ragte aus der Straße heraus, er ragte schon länger heraus, plötzlich jedoch hatte das Ragen ein Ende. Ein Baum kam, und als Triboll daneben stand, mußte er zugeben, daß der Baum ragte und er nicht mehr. Weil er sich so sehr wünschte, wieder ragen zu können, nahm er eine Axt und machte aus dem Baum eine Leiche. Triboll war zwar jetzt ein Mörder, aber er konnte wieder ragen.

Da kam ein Haus, das ganz nahe an der Straße stand. Es war ein neues Haus, ein Haus mit weißen Wänden, einem spärlichen Eingang und einem sehr spärlichen Fenster. Im Fenster hing die Phantasielosigkeit und schrie, und eine hohe Mauer, betont konservativ, umgab das Bauwerk. Aber das Haus ragte, und es war schwerer, ein Haus als einen Baum zu ermorden. Triboll ließ es einfach unter sich. Er stieg über die konservative Gartenmauer und setzte sich, es hatte ihm viel Anstrengung gekostet, auf den Giebel des Hauses. Nun ragte er wieder, hatte eine weitaus bessere Sicht als jemals zuvor, und er sah, daß andere ebenso ragten wie er, doch er ragte mit Freuden in dieser Gesellschaft und lächelte herablassend, als er einen Jugendragenden auf der Straße stolz einherstelzen sah. Triboll war ein erwachsener Ragender geworden.

Gegen den Ungeist der Zeit

Wie schon angeführt, lese ich in den Heften der Literaturzeitschrift ‚Akzente‘ des Jahrgangs 1955, also denen vor 50 Jahren. Hier nun fand ich u.a. einen Artikel über Karl Kraus, dem Herausgeber und maßgeblichen Autor der Zeitschrift „Die Fackel“, die im Österreich und darüber hinaus bis in die 30-er Jahre des letzten Jahrhunderts Politik, Kultur und Journalismus aufmischte.

Karl Kraus "Die Fackel"
Karl Kraus "Die Fackel" 1899 – 1936

So schreibt der Autor, Helmut Uhlig, u.a.:

In Karl Kraus war nicht mehr und nicht weniger als der Geist der Sprache am Werk, um den Geist der Zeit, den Kraus als Ungeist entlarvte, zu bekämpfen.

Wenn die Vernunft als natürlicher Widersacher der zeitbeherrschenden Mächte dieser Epoche aufgefaßt werden kann, dann hatte sie in den ersten drei Jahrzehnten unseres Jahrhunderts ihre klarste und enschiedenste Repräsentanz in Karl Kraus.

Kraus‘ Zeitgegnerschaft … richtete sich gegen das Intrigenspiel in der Politik, gegen die Verlogenheit der Presse, gegen das Schablonenhafte der sogenannten öffentlichen Meinung.

Wer sehr wird ein solcher Vernunftsgeist in der heutigen Zeit vermisst. Denn am Zeitgeist hat sich nichts Wesentliches geändert. Dieser ist in seiner Ausdrucksweise nur subtiler, nicht mehr so grobschlächtig wie in der Zeit während und zwischen der beiden Weltkriege. Und er hat sich flächenddeckend auch über Gebiete wie Wissenschaft und Wirtschaft ausgebreitet. Damals wie heute handeln die Mächtigen im Namen aller und meinen nur ihren eigenen Vorteil.

Wenn man heute in den Heften der „Fackel“ blättert, so fällt einem nicht selten das Unverhältnismäßige von Thema und Umfang seiner Polemik auf. Und selbst der aktuelle Anlaß von damals scheint noch zu gering, um solchen Aufwand im Verstand des heutigen Betrachters zu rechtfertigen.

Gewiss ist das wahr. Aber zeigt sich der Ungeist nicht gerade in den kleinen Dingen? Muss nicht hier der Hebel angesetzt werden, um die Decke zu lüften, unter der es modert und nach Korruptheit stinkt? Selbst der kleinste Skandal, der aufgedeckt wird, beweist doch nur, wie es auch ums Ganze bestellt sein muss.

zu: Karl Kraus und die Sprache
Helmut Uhlig – Vom Pathos der Syntax (aus Akzente – Jg. 1955 Heft 6)

Alfred Lichtenstein: Die Dämmerung

Der November ist ein Monat der Hochnebel; Landschaften und Städte liegen grau in grau, meist windstill, unter einer dichten Dunstglocke. Ein Monat des leisen Horrors und des Todes, nicht allein wegen solcher Feiertage wie Allerheiligen, Totensonntag und Volkstrauertag. Für viele ist es eine Zeit der Depressionen.

Vor einigen Jahren gab es bei Zweitausendeins, einem Bestellbuchladen (und für vieles mehr), eine siebenbändige Dünndruckausgabe der ersten zwanzig Jahrgänge (mit 1954 beginnend, meinem Geburtsjahr) von Akzente – Zeitschrift für Literatur (damals noch Zeitschrift für Dichtung) – über 11.000 Seiten umfassend für einen Spottpreis. Die Zeitschrift Akzente ist wohl die bedeutendste Literaturzusammenfassung in deutscher Sprache. Alles was Rang und Namen in der deutschen Literatur hat und hatte (oder auch nicht), hat hier irgendwann einmal einen Beitrag veröffentlicht.

Erst in letzter Zeit bin dazu gekommen, die Bände von Anfang an zu lesen. Bisher hatte ich nur von Zeit zu Zeit darin geblättert. Für dieses Jahr habe ich mir den Jahrgang 1955 vorgenommen. Es ist schon interessant zu lesen, was und wer vor genau 50 Jahren literarisch im Rampenlicht stand. Hier finden sich z.B. schon Beiträge von Günter Grass und Martin Walser aber auch noch von Thomas Mann und Hermann Hesse, die damals noch lebten. Thomas Mann schrieb über Friedrich Schiller, denn auch 1955 war Schiller-Jahr.

Ziemlich am Schluss des Jahresbandes fand ich dann einen Essay über Alfred Lichtenstein und darin das unten aufgeführte Gedicht. Es beschreibt Bewegungen, die in knappen Stößen sich unvermittelt aneinanderstellen. Die peinliche Genauigkeit des Bildes, ironische Pedanterie in einem Vergleich verstärkt den Eindruck monotoner Schilderei, wie Herbert Heckmann, der Autor des Essays, schreibt.

    Alfred Lichtenstein

Die Dämmerung

Ein dicker Junge spielt mit einem Teich.
Der Wind hat sich in einem Baum gefangen.
Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich,
Als wäre ihm die Schminke ausgegangen.

Auf langen Krücken schief herabgebückt
Und schwatzend kriechen auf dem Feld zwei Lahme.
Ein blonder Dichter wird vieleicht verrückt.
Ein Pferdchen stolpert über eine Dame.

An einem Fenster klebt ein fetter Mann.
Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen.
Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an.
Ein Kinderwagen schreit und Hunde fluchen.

Herbert Heckmann in Akzente 1955, Heft 5 schreibt u.a. erläuternd weiter:

Die Wirklichkeit zeigt sich in den Scherben eines Augenblickes. Das Eindeutige verwirrt sich im Netz seiner Beziehungen. … Lichtenstein hat nicht die Absicht, eine real denkbare Landschaft zu geben: naturalistische Schilderei liegt ihm genau so fern wie eine symbolische Vertiefung.

November – Monat tagelanger Dämmerung, der Monotonie. Irgendwie finde ich das Gedicht sehr passend zu diesem Monat.

weitere Gedichte von Alfred Lichtenstein

Kamelliste

Zwei deutsche Forschungsreisende machen sich auf in jenes Wüstengebiet Südarabiens, das Rub‘ Al-Khali, Leeres Viertel, genannt wird. Beide führen ein Tagebuch. Nur reiste der eine am Ende des 18. Jahrhunderts und war auf der Suche nach den mosaischen Gesetzestafeln. Der andere folgt 200 Jahre später den Spuren seines Vorgängers, um eine Theorie über archaische Formen des Spielens zu entwickeln. Für beide wird es eine Reise ins Ich und in die Fremde …

Es handelt sich um das Buch Leeres Viertel Rub‘ Al-Khali von Michael Roes. Wie die Woche schreibt:

„Eine kühne Gratwanderung zwischen den Gattungen: Abenteuerroman, Ethnographie, phantastische Legende und autobiographisches Fragment“.

Wie die Inuit, also die Eskimos, viele Wörter für Schnee in ihrer Sprache kennen, denn Schnee spielt nun einmal eine viel größere Rolle bei Eskimos als bei uns (später einmal mehr hierzu), so kennen die Araber viele Wörter für ihr wichtigstes Tier, dem Kamel. In dem genannten Buch listet so der Autor eine längere Liste dieser Bezeichnungen auf:

bil
 
thilb
 
dschalli
 
dschaqma
 
hurr
 
chawar
 
fiha
 
qabb
 
harsus
 
haschi
 
huwar
 
fatr
 
hajil
 
mu’aschar
 
chalfa
 
‚awda
 
rahula
 
rikab
Kamel
 
altes Kamel
 
vernünftiges Kamel
 
unzähmbares Kamel
 
reinrassiges Kamel
 
nicht reinrassiges Kamel
 
kräftige Kamelstute
 
starkes Kamel
 
schwächliches Kamel
 
junges, entwöhntes Kamel
 
junges, noch nicht entwöhntes Kamel
 
reife Kamelstute
 
unfruchtbare Kamelstute
 
trächtige Kamelstute
 
Kamelstutenwöchnerin
 
altere Kamelstute
 
Packkamel
 
Reitkamel
zaml
 
schajiba
 
musanni
 
zaruba
 
mijasir
 
‚ajra
 
‚ajib
 
ghawdsch
 
filaq
 
midthab
 
nib
 
hidsch
 
wasiq
 
awd’a
 
dhud
 
ridf
 
mandschub
 
mischlaq
männliches Packkamel
 
altersgraue Kamelstute
 
eiterndes oder schleimendes Kamel
 
Zuchtkamel
 
läufige Kamelstute
 
erlesene Kamelstute
 
bissiges Kamel
 
großzügiges Kamel
 
überarbeitetes Kamel
 
Rennkamel
 
Eckzahnkamel (6-jährig)
 
gezähmtes Kamel
 
geplündertes Packkamel
 
weißes Kamel
 
kleine Kamelherde
 
Kamelritt
 
Rennkamelreiter
 
Kamelreiterreihe

Georg Heinzen – Uwe Koch: Von der Nutzlosigkeit, erwachsen zu werden

Meine Generation (in den 50-er Jahren geboren) ist eine Zwischengeneration, die förmlich zwischen den Stühlen existiert, zwischen 68-er und No-Future, auch Single-Generation bzw. deutsche ‚Generation X‘ genannt, oder wie es die Süddeutsche Zeitung beschreibt:

„Es sind diejenigen, die – voller Pläne und Bildung – es einmal besser haben sollten, aber am Ende feststellen müssen, dass die Gesellschaft gerade für Pläne und Bildung am wenigsten Verwendung zu haben scheint. [Eine] … Generation, die sich von der vorangehenden die Ideale vorkauen ließ und von der nachfolgenden an Illusionslosigkeit und Durchsetzungskraft weit übertroffen wird.“

Ich habe jetzt ein gemeinsames Buch von Georg Heinzen und Uwe Koch, beides Angehörige meiner Generation, erneut gelesen: ‚Von der Nutzlosigkeit, erwachsen zu werden‚. Das Buch ist 1985 veröffentlicht und wohl bis 1990 auch als Taschenbuch öfter neu aufgelegt worden, heute aber nur noch über Antiquariate erhältlicht. Es handelt von einem Typen, der 1955 geboren wurde.

Mein Lebenslauf unterscheidet sich zwar ziemlich stark von dem des Romanheldens, aber in vielem kann ich mich doch wiederfinden. Beim Lesen kamen bei mir vor allem Erinnerungen hoch, die ich so fast verdrängt hatte.

„Ich muß ohnmächtig und kopflastig zusehen, wie sich die billigsten Ideen durchsetzen und die Verantwortungslosesten die Verantwortung tragen. … Ich belaste das soziale Netz mit meinen Forderungen, für die ich kaum Leistungen erbringe.“
(S. 9 der Taschenbuchausgabe rororo 1989)

„Immer seltener wurde dabei gefordert, etwas Neues zu erreichen, immer häufiger ging es darum, etwas Neues abzuwehren. Aus der Hochschulreform, die die Studenten einmal gefordert hatten, war eine Hochsschulreform geworden, mit der die Regierung drohte.“
(S. 49)

„Als abschließendes Reformationsgeschenk beschloß der Statt meine vorgezogene Volljährigkeit. An einem ersten Januar gab er sie mir und Millionen anderen mit auf den Weg. … Nicht einmal in das juristische Erwachsenensein bin ich hineingewachsen, es wurde mir dekretiert, …“
(S. 51)

Mit dem 1. Januar 1975 wurde die Volljährigkeit von 21 auf 18 Jahre gesenkt. Ich selbst wurde, wie viele andere meiner Generation, also ‚mitten im Leben‘ volljährig (gut einem Monat vor Vollendung meines 21. Lebensjahres).

Die 70-er Jahre waren unsere Jahre; u.a. endete da der Vietnam-Krieg. Und zum ersten Mal in der Nachkriegszeit sprach man wieder von Wirtschaftskrise.

„.. als die letzten amerikanischen Kämpfer in überfüllten Helikoptern aus Saison flohen (1975), habe ich nicht daran gedacht, daß diese Ereignisse auf der anderen Seite der Welt auch mein Leben verändern würden.“
(S. 54)

„Unsere Kenntnisse seien verflacht, weil zu viele sie erworben hätten. Die Demokratisierung von Lebensmöglichkeiten sei eben zugleich ihre Entwertung. Das hätten wir nun von unserer Chancengleichheit.“
(S. 78)

Und es war die Zeit der RAF (Rote Armee Fraktion), damals Baader-Meinhof-Bande genannt, die Zeit, die später die bleiernde genannt wurde.

„Die ganzen sozialspießigen Motive gingen uns langsam auf die Nerven. … Alle, die einmal mitgemacht hatten, etwas zu verändern, das System oder ihre Beziehung, gerieten jetzt in das Taster der Fahndung.“
(S. 79)

„Die Nutzlosigkeit aller Ideen war zur vorherrschenden Idee geworden.“
(S. 80)

„Da wurde Freiheit für den Watzmann und die Verschonung der Gummibärchen gefordert.“
(S. 81)

Nach der Wirtschaftskrise gab es eine Zeit, die sie Wiederbelebung nannten.

„Die Krise war nur vertagt, der Krieg nur verschoben, die Verarmung hatte sich verlangsamt. Wenn das die besseren Zeiten waren, wie würden dann erst die schlechten sein, die noch kommen sollten?“
(S. 85)

„Den Konsumverzicht wollte ich durch Intellektualität ausgleichen, meine Schlichtheit durch Geschmack, meine Machtlosigkeit durch Geist.“
(S. 86)

„… irgendwie war es geil, nicht mehr ganz so kritisch zu sein.“
(S. 91)

In den 70-er Jahren hatte die Antiatombewegung (Stichwort: Brokdorf) ihren Höhepunkt. Außerdem formierte sich der Protest gegen die Stationierung der amerikanischen Mittelstreckenraketen in Deutschland.

„Und während ich mich fragte, wo dieses System überhaupt noch zu greifen sei, kamen auf VW-Bussen thronend die Entschlossenen an mir vorbeigefahren, die neue Generation des Widerstands, stolze Häuptling, vermummt und martialisch.“
(S. 97)

„Das machten mir die Beweglichen vor, die fröhlich jede Welle mitmachten … und mir höhnisch vorführten, wie unwichtig meine Bildung war. Was sie verkauften, war ganz beliebig, nur neu mußte es sein und erfolgreich. … sie hatten begriffen, daß nicht mehr die Arbeit in hohem Ansehen steht, sondern das Geld.“
(s. 136)

„Ich war wohl für diese Welt längst verloren. War zu anspruchsvoll, um auf das Träumen zu verzichten … War zu bedenkenlos genug, ein paar Sklaven für mich schuften zu lassen, und zu nachdenklich, um selbst groß herauszukommen.“
(S. 148)

Ich selbst habe die Kurve bekommen, wie man das wohl nennt, wenn man einen halbwegs erträglich-einträglichen Job hat, verheiratet und Vater von zwei Kindern ist, die mir langsam über den Kopf wachsen (und irgendwie auch einer Zwischengeneration angehören: teilweise noch No-future, dann aber schon zur digitalen Spaßgeneration gehören).

Thomas Mann: Felix Krull und die Homosexualität

Um es gleich zuzugeben: Auch wenn man Thomas Mann für einen der größten Schriftsteller deutscher Sprache hält, so bin ich mit ihm nie so richtig ‚warm‘ geworden. Sicherlich ist „der Zauberberg“ geistreich und „Felix Krull“ amüsant, aber die Sprache Thomas Manns ist für mich zu aufgeblasen, zu schwulstig-pompös und manieriert, als dass sie mir auf Dauer gefallen könnte. Die Sprache Kafkas, klar und einfach, ohne ein überflüssiges Wort, sagt mir da viel eher zu.

„Felix Krull“ lernte ich vor vielen Jahren in meiner Jugendzeit als Film mit Horst Buchholz in der Titelrolle kennen. Der Film wurde 1957, nur wenige Jahre nach der Veröffentlichung ‚der Memoiren erster Teil‘, fertiggestellt. Und im Kopf habe ich immer noch Horst Buchholz bei der Musterung, als er durch vorgespielte epileptische Anfälle ausgemustert wird. Wirklich köstlich!

Das Buch lese ich nun zum zweiten Mal. Es ist Fragment geblieben, da Thomas Mann 1955, ein Jahr nach der Veröffentlichung des 1. Teils, starb. Der oben beschriebene Eindruck des Manieriertheit hat sich eher verstärkt, obwohl es ein von Thomas Mann bewusst gewähltes Stilmittel ist.

    Thomas Mann übt Felix Krulls Handschrift

Interessant finde ich nun die immer wieder auftauchenden Hinweise auf die gleichgeschlechtiche Liebe. Wir wissen, dass Thomas Mann, obwohl verheiratet und Vater von einigen Kindern, als homosexuell galt. Felix Krull, der Titelheld, ist ein Adonis, ein Schönling, der den Frauen zugetan ist, den im Gegenzug die Frauen lieben, zu dem es aber auch gewisse Herren zieht.

>>Darum begegnete ich, etwa an den klebrichten Marmortischchen der kleinen Nachtlokale, … neugierigen Annäherungsversuchen und Zudringlichkeiten mit … Höflichkeit…

So war denn sie es auch, die ich zu Hilfe nahm bei unwillkommenen Vorschlägen, die meiner Jugend … je und je, mit mehr oder weniger Verblümtheit … von gewisser männlicher Seite unterbreitet wurden.< <

(S. 85 der Taschenbuchausgabe)

Und schon kurz darauf:

>>Ganz anders nun aber verhält es sich mit gewissen abseits wandelnden Herren, Schwärmern, welche nicht die Frau suchen, aber auch nicht den Mann, sondern etwas Wunderbares dazwischen. Und das Wunderbare war ich. …

Ich verschmähe es, die Moral gegen das Verlangen ins Feld zu führen, das mir in meinem Fall nicht unverständlich erschien.< <

(S. 86 der Taschenbuchausgabe)

Thomas Mann, Entschuldigung: Felix Krull ist nichts Menschliches fremd dabei. Und es ist eigentlich weniger die Suche nach dem Gleichgeschlechtlichen, als die Suche nach einem androgynen Doppelwesen, ein Wesen, das Mann und Frau in sich vereinigt. So fühlt sich Felix Krull einmal durch ein Geschwisterpaar, dann auch durch das Paar Mutter und Tochter angezogen.

Man kann dieses Werk in Teilen durchaus als ein humorvolles, vielleicht auch schon ironisches Betrachten der eigenen häretischen Geschlechtlichkeit ansehen.

Thomas Mann beim Fischerverlag
Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich

Gustav Meyrink: Der Golem

Fantasy, Gothic, alte Mythen und auch Sagen aus dem Mittelalter – immer wieder erleben sie eine Renaissance, so auch heute – allerdings im neuen Gewand als Computerspiel; z.B. World of Warcraft, das zigtausende Internet-Spieler weltwelt gefunden hat.

Da weckt ein Buch, das vor immerhin 90 Jahren geschrieben (1915) wurde, weniger Interesse: Der Golem von Gustav Meyrink. Ich habe mir nach über 20 Jahren das Buch erneut vorgenommen und gelesen. Der Golem, der sagenumwobene künstliche Mensch aus Ton, der durch Zaubersprüche durch den Prager Rabbi Löw ben Bazalel in Jahre 1580 belebt wurde und durch die Gassen des alten Judenviertels taperte, er spielt in diesem Buch eigentlich keine Rolle. Es sind die Menschen, die entseelt durch die Gassen eines Prags um das Jahr 1885 geistern:

< < ... so müßten auch ... alle diese Menschen entseelt in einem Augenblick zusammenfallen, löschte man irgendeinen winzigen Begriff, ein nebensächliches Streben, vielleicht eine zwecklose Gewohnheit bei dem einen, bei einem andern gar nur ein dumpfes Warten auf etwas gänzlich Unbestimmtes, Haltloses - in ihrem Hirn aus. >>

(S. 33 Ausgabe: Ullstein Buch Nr. 20140 August 1981)

< < Wenn die Menschen aufstehen von ihren Lagerstätten, so wähnen sie, sie hätten den Schlaf abgeschüttelt, und wissen nicht, daß sie ihren Sinnen zum Opfer fallen und die Beute eines neuen, viel tieferen Schlafes werden ... >>

(S. 80 Ausgabe: Ullstein Buch Nr. 20140 August 1981)

Liest man das Buch, so wird man an E.T.A. Hoffman oder Edgar A. Poe erinnert. Vieles lässt aber in seiner Dunkelheit auch an Franz Kafka denken, dessen Werk ohne die Stadt Prag nicht denkbar wäre. Und wie bei Kafka gehen auch bei Meyrink Realität und Überwirklichkeit ineinander über.

Am Ende kommt eine spannende Geschichte heraus, der auch eine gehörige Portion Erotik nicht fehlt, wenn diese wie die Handlung selbst auch im Nebulösen verschwimmt.

Karfreitag von Hermann Hesse

Karfreitag

Verhangener Tag, im Wald noch Schnee,
Im kahlen Holz die Amsel singt:
Des Frühlings Atem ängstlich schwingt,
Von Lust geschwellt, beschwert von Weh.

So schweigsam steht und klein im Gras
Das Krokusvolk, das Veilchennest,
Es duftet scheu und weiß nicht was,
Es duftet Tod und duftet Fest.

Baumknospen stehn von Tränen blind,
Der Himmel hängt so bang und nah,
Und alle Gärten, Hügel sind
Gethsemane und Golgatha.

aus: Hesse – Die Gedichte