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WilliZ Welt der Literatur

Ian Anderson liest aus Sir Walter Scott: Marmion

Vor acht Jahren gab es hier einen Beitrag u.a. mit dem Titel „Weihnachtliches mit Onkel Ian“, in dem Ian Anderson von der Gruppe „Jethro Tull“ etwas der jetzigen Weihnachtszeit Gemäßes vortrug. Hier noch einmal aus gegebenen Anlass und weil ich es natürlich schön finde:

Apropos Weihnachten! Da habe ich doch auch etwas Nettes und komme so auch wieder auf unser eigentliches Thema zurück: Vielleicht kennt Ihr es ja bereits. Der Herr Anderson, wenn seine Singstimme auch nicht mehr das Wahre ist …, wenn er spricht, so finde ich die Stimme noch voll in Ordnung (wenn sie hier auch etwas kratzig klingt):

Es handelt sich hierbei um einen Radio-Beitrag zu einer Sendung namens „A Toss the Feathers Christmas Special 2004“ und wurde eben vor sechs Jahren über den amerikanischen Sender Public Radio International ausgestrahlt. Neben „Another Christmas Song“ und „Ring Out Solstice Bells” (am Ende) liest Ian Anderson aus Sir Walter Scott’s „Marmion“– Dichtung in sechs Gesängen (A Tale of Flodden Field in six Cantos) etwas Weihnachtliches vor:

INTRODUCTION TO CANTO SIXTH

Heap on more wood!-the wind is chill;
But let it whistle as it will,
We’ll keep our Christmas merry still.
Each age has deem’d the new-born year
The fittest time for festal cheer: 5
Even, heathen yet, the savage Dane
At Iol more deep the mead did drain;
High on the beach his galleys drew,
And feasted all his pirate crew;
Then in his low and pine-built hall, 10
Where shields and axes deck’d the wall,
They gorged upon the half-dress’d steer;
Caroused in seas of sable beer;
While round, in brutal jest, were thrown
The half-gnaw’d rib, and marrow-bone, 15
Or listen’d all, in grim delight,
While scalds yell’d out the joys of fight.
Then forth, in frenzy, would they hie,
While wildly-loose their red locks fly,
And dancing round the blazing pile, 20
They make such barbarous mirth the while,
As best might to the mind recall
The boisterous joys of Odin’s hall.

And well our Christian sires of old
Loved when the year its course had roll’d, 25
And brought blithe Christmas back again,
With all his hospitable train.
Domestic and religious rite
Gave honour to the holy night;
On Christmas eve the bells were rung; 30
On Christmas eve the mass was sung:
That only night in all the year,
Saw the stoled priest the chalice rear.
The damsel donn’d her kirtle sheen;
The hall was dress’d with holly green; 35
Forth to the wood did merry-men go,
To gather in the mistletoe.
Then open’d wide the Baron’s hall
To vassal, tenant, serf, and all;
Power laid his rod of rule aside, 40
And Ceremony doff’d his pride.
The heir, with roses in his shoes,
That night might village partner choose;
The Lord, underogating, share
The vulgar game of ‘post and pair.’ 45
All hail’d, with uncontroll’d delight,
And general voice, the happy night,
That to the cottage, as the crown,
Brought tidings of salvation down.

The fire, with well-dried logs supplied, 50
Went roaring up the chimney wide:
The huge hall-table’s oaken face,
Scrubb’d till it shone, the day to grace,
Bore then upon its massive board
No mark to part the squire and lord. 55
Then was brought in the lusty brawn,
By old blue-coated serving-man;
Then the grim boar’s head frown’d on high,
Crested with bays and rosemary.
Well can the green-garb’d ranger tell, 60
How, when, and where, the monster fell;
What dogs before his death he tore,
And all the baiting of the boar.
The wassel round, in good brown bowls,
Garnish’d with ribbons, blithely trowls. 65
There the huge sirloin reek’d; hard by
Plum-porridge stood, and Christmas pie:
Nor fail’d old Scotland to produce,
At such high tide, her savoury goose.
Then came the merry maskers in, 70
And carols roar’d with blithesome din;
If unmelodious was the song,
It was a hearty note, and strong.
Who lists may in their mumming see
Traces of ancient mystery; 75
White shirts supplied the masquerade,
And smutted cheeks the visors made;
But, O! what maskers, richly dight,
Can boast of bosoms half so light!
England was merry England, when 80
Old Christmas brought his sports again.
‘Twas Christmas broach’d the mightiest ale;
‘Twas Christmas told the merriest tale;
A Christmas gambol oft could cheer
The poor man’s heart through half the year. 85

Eine deutsche Übersetzung habe ich leider bisher nicht gefunden (wahrscheinlich gibt es auch keine), so dürft Ihr Euch selbst mit dem Schottischen herumschlagen (leider spricht Ian Anderson alles mehr oder weniger englisch aus. Schade eigentlich … Oder er kann nicht richtig schottisch).

Weihnachten 1932 in Wasserburg/Bodensee

Die Bescherung fand, weil auf das Klavier nicht verzichtet werden konnte, im Nebenzimmer statt. Das heißt, Josef und Johann hatten erst Zutritt, als der Vater am Klavier Stille Nacht, heilige Nacht spielte. Der Einzug ins Nebenzimmer geschah durch zwei Türen: von der Wirtschaft her zogen, ihre Gläser in der Hand, die vier letzten Gäste hinter Elsa herein. Hanse Luis, der Schulze Max, Dulle und Herr Seehahn. Durch die Tür vom Hausgang her zogen Josef, Johann, Niklaus und der Großvater ein. Zuletzt Mina, die Prinzessin und die Mutter, sie kamen aus der Küche.

Immer an Weihnachten trug Herr Seehahn am grünen Revers seiner gelblichen Trachtenjacke den Päpstlichen Hausorden, den er bekommen hatte, weil er als Marinerevolutionär in München zum päpstlichen Nuntius, den er hätte gefangen nehmen sollen, gesagt hatte: Eminenz, wenn Sie mit mir kommen, sind Sie verhaftet, wenn Sie die Hintertür nehmen, sind Sie mir entkommen.

Wasserburg/Bodensee

Dulle war wohl von allen am weitesten von seiner Heimat entfernt. Dulle war aus einem Ort, dessen Name in Johanns Ohren immer klang, als wolle man sich über Dulle lustig machen. Niemals hätte Johann in Dulles Gegenwart diesen Namen auszusprechen gewagt. Buxtehude. Dulle sprach anders als jeder andere im Dorf. Er hauste in einem Verschlag bei Frau Siegel, droben in Hochsträß, direkt an der frisch geteerten Landstraße. Dulle war Tag und Nacht unterwegs. Als Fischerknecht und als Durstiger. Oder hinter Fräulein Agnes’ Katzen her. Adolf behauptete, Dulles Verschlag, Wände und Decke, sei tapeziert mit Geldscheinen aus der Inflation. Hunderttausenderscheine, Scheine für Millionen, Milliarden, Billionen. Eine Zeitung habe, sagte Adolf, 1923 sechzehn Milliarden Mark gekostet. Immer wenn Johann von dieser Inflation etwas hörte, dachte er, das Land hat Fieber gehabt damals, 41 oder 42 Grad Fieber müssen das gewesen sein.

Der Schulte Max war nirgendwo her beziehungsweise überall her, eben vom Zirkus. Er nächtigte im Dachboden des von zugezogenen Fischerfamilien bewohnten Gemeindehauses, und zwar auf einem Lager aus alten Netzen.

Verglichen mit den Schlafstätten von Dulle und Schulze Max, war das, was Niklaus droben im Dachboden als Schlafstatt hatte, eine tolle Bleibe. Niklaus hatte ein richtiges Bett so mit alten Schränken umstellt, daß eine Art Zimmer entstand. Niklaus war für Johann interessant geworden, als Johann ihm einmal zugeschaut hatte, wie er seine Fußlappen über und um seine Füße schlug und dann in seine Schnürstiefel schlüpfte. Die Socken, die Mina ein Jahr zuvor für Niklaus gestrickt und unter den Tannenbaum gelegt hatte, hatte er einfach liegen lassen. Als Mina sie ihm in die Hand drückten wollte, hatte er den Kopf geschüttelt. Niklaus sprach selten. Mit Nicken, Kopfschütteln und Handbewegungen konnte er, was er sagen wollte, sagen. Wenn er meldete, daß Freifrau Ereolina von Molkenbuer drei Zentner Schwelkoks und Fräulein Hoppe-Seyler zwei Zentner Anthrazit bestellt hatten, merkte man, daß er keinerlei Sprachfehler hatte. Er sprach nicht gern. Sprechen war nicht seine Sache.

Unterm Christbaum lagen für Josef und Johann hellgraue Norwegerpullover, fast weiß und doch nicht weiß, silbergrau eigentlich. Mit graublauen, ein bißchen erhabenen Streifen. Aber auf der Brust zwei sehr verschiedene Muster, eine Verwechslung war zum Glück ausgeschlossen. Josef zog seinen sofort an. Johann hätte seinen lieber unterm Christbaum gesehen, aber weil alle sagten, er solle seinen doch auch probieren, zog er ihn an. Johann mußte, als er spürte, wie ihn dieser Pullover faßte, schnell hinaus, so tun, als müsse er auf den Abort, aber er mußte vor den Spiegel der Garderobe im Hausgang, er mußte sich sehen. Und er sah sich, silbergrau, fast bläulich erhabene Streifen, auf der Brust in einem Kreis ein Wappen. Königssohn, dachte er. Als er wieder hineinging, konnte er nicht ganz verbergen, wie er sich fühlte. Mina merkte es. Der steht dir aber, sagte sie.

Dieser Pullover waren aus dem Allgäu gekommen, von Anselm, dem Vetter genannten Großonkel.

Zu jedem Geschenk gehörte ein Suppenteller voller Plätzchen, Butter-S, Elisen, Lebkuchen, Springerle, Zimtsterne, Spitzbuben, Makronen.

Die Mutter sagte zu Mina hin und meinte die Plätzchen: Ich könnt ’s nicht. Johann nickte heftig, bis Mina bemerkte, daß er heftig nickte. Er hatte letztes Jahr von Adolfs Plätzchenteller probieren dürfen. Bruggers Plätzchen schmeckten alle gleich, von Minas Plätzchen hatte jede Sorte einen ganz eigenen Geschmack, und doch schmeckten alle zusammen so, wie nur Minas Plätzchen schmecken konnten. In diesem Jahr lag neben Johanns und Josefs Teller etwas in Silberpapier eingewickeltes Längliches, und aus dem Silberpapier ragte ein Fähnchen, darauf war ein rotes Herz gemalt und hinter dem Herz stand –lich. Über dem Herz stand: Die Prinzessin grüßt. Josef probierte schon, als Johann noch am Auspacken war. Nougat, sagte er. Richtig, sagte die Prinzessin. Toll, sagte Josef. Johann wickelte seine Nougatstange unangebissen wieder ein.

Für Mina und Elsa gab es Seidenstrümpfe. Beide sagten, daß das doch nicht nötig gewesen wäre. Für Mina lag noch ein Sparbuch dabei. Mit einem kleinen Samen, sagte die Mutter. Bei der Bezirkssparkasse. Die gehe nicht kaputt. Mina sagte kopfschüttelnd: O Frau, vergelt ’s Gott! Für die Prinzessin lagen mehrere Wollstränge in Blau unter dem Baum. Sie nahm sie an sich, salutierte wie ein nachlässiger Soldat mit dem Zeigefinger von der Schläfe weg und sagte: Richtig. Und zu Johann hin: Du weißt, was dir bevorsteht. Johann sagte auch: Richtig! Und grüßte zurück, wie sie gegrüßt hatte. Er mußte immer abends die Hände in die Wollstränge stecken, die die Prinzessin dann, damit sie nachher stricken konnte, zum Knäuel aufwickelte. In jeder feien Minute strickte sie für ihren Moritz, den sie einmal im Monat in Ravensburg besuchen durfte; aber allein sein durfte sie nicht mit dem Einjährigen. Die Mutter des Siebzehnjährigen, der der Kindsvater war, saß dabei, solange die Prinzessin da war. Nach jedem Besuch erzählte die Prinzessin, wie die Mutter des Kindsvaters, die selber noch keine vierzig sei, sie keine Sekunde aus den Augen lasse, wenn sie ihren kleinen Moritz an sich drückte. Die Prinzessin, hieß es, sei einunddreißig. Sie hatte jedem etwas neben den Teller gelegt, und jedesmal hatte sie ihr Herz-Fähnchen dazugesteckt. Für Elsa eine weiße Leinenserviette, in die die Prinzessin mit rotem Garn ein sich aufbäumendes Pferd gestickt hatte. Für Mina zwei Topflappen, in einem ein großes rotes A, im anderen ein ebenso großes M. Für Niklaus hatte sie an zwei Fußlappen schöne Ränder gehäkelt. Für Herrn Seehahn gab es ein winziges Fläschchen Eierlikör. Für die Mutter einen Steckkamm. Für den Vater ein Säckchen mit Lavendelblüten. Für den Großvater ein elfenbeinernes Schnupftabakdöschen. Johann, sagte sie, geh, bring ’s dem Großvater und sag ihm, Ludwig der Zweite, habe es dem Urgroßvater der Prinzessin geschenkt, weil der den König, als er sich bei der Jagd in den Kerschenbaumschen Wäldern den Fuß verstaucht hatte, selber auf dem Rücken bis ins Schloß getragen hat. Alle klatschten, die Prinzessin, die heute einen wild geschminkten Mund hatte, verneigte sich nach allen Seiten. Johann hätte am liebsten nur noch die Prinzessin angeschaut. Dieser riesige Mund paßte so gut unter das verrutschte Glasauge. Für Niklaus lagen wieder ein Paar Socken und ein Päckchen Stumpen unterm Baum. Die Socken, es waren die vom vorigen Jahr, ließ er auch diesmal liegen. Die Stumpen, den Teller voller Plätzchen und die umhäkelten Fußlappen trug er zu seinem Platz. Im Vorbeigehen sagte er zur Prinzessin hin: Du bist so eine. Sie salutierte und sagte: Richtig. Dann ging er noch einmal zurück, zum Vater hin, zur Mutter hin und bedankte sich mit einem Händedruck. Aber er schaute beim Händedruck weder den Vater noch die Mutter an. Schon als er seine Rechte, der der Daumen fehlte, hinreichte, sah er weg. Ja, er drehte sich fast weg, reichte die Hand zur Seite hin, fast schon nach hinten. Und das nicht aus Nachlässigkeit, das sah man. Er wollte denen, die ihn beschenkt hatten, nicht in die Augen sehen müssen. Niklaus setzte sich wieder zu seinem Glas Bier. Nur an Weihnachten, an Ostern und am Nikolaustag trank er das Bier aus dem Glas, sonst aus der Flasche. Johann sah und hörte gern zu, wenn Niklaus die Flasche steil auf der Unterlippe ansetzte und mit einem seufzenden Geräusch leertrank. Wie uninteressant war dagegen das Trinken aus dem Glas. Niklaus setzte auch jede Flasche, die angeblich leer aus dem Lokal zurückkam und hinter dem Haus im Bierständer auf das Brauereiauto wartete, noch einmal auf seinen Mund; er wollte nichts verkommen lassen.

Der Vater ging zum Tannenbaum und holte ein blaues Päckchen, golden verschnürt, gab es der Mutter. Sie schüttelte den Kopf, er sagte: Jetzt mach ’s doch zuerst einmal auf. Eine indische Seife kam heraus. Und Ohrringe, große, schwarz glänzende Tropfen. Sie schüttelte wieder den Kopf, wenn auch langsamer als vorher. Für den Großvater lag ein Nachthemd unter dem Baum. Er sagte zu Johann, der es ihm bringen wollte: Laß es nur liegen. Als letzter packte der Vater sein Geschenk aus. Lederne Fingerhandschuhe, Glacéhandschuhe, sagte der Vater. Damit könnte man fast Klavier spielen, sagte er zu Josef. Und zog sie an und ging ans Klavier und ließ schnell eine Musikmischung aus Weihnachtsliedern aufrauschen. Hanse Luis klatschte Beifall mit gebogenen Händen; das war, weil er seine verkrümmten Handflächen nicht gegen einander schlagen konnte, ein lautloser Beifall. Er sagte: Was ischt da dagege dia Musi vu wittr her. Er konnte sich darauf verlassen, daß jeder im Nebenzimmer wußte, Radio hieß bei Hanse Luis Musik von weiter her. Dann stand er auf und sagte, bevor er hier auch noch in eine Bescherung verwickelt werde, gehe er lieber. Es schneie immer noch, er solle bloß Obacht geben, daß er nicht noch falle, sagte die Mutter. Kui Sorg, Augusta, sagte er, an guate Stolperer fallt it glei. Er legte einen gebogenen Zeigefinger an sein grünes, randloses, nach oben eng zulaufendes Jägerhütchen, das er nie und nirgends abnahm, knickte sogar ein bißchen tänzerisch ein und ging. Unter der Tür drehte er sich noch einmal um, hob die Hand und sagte, er habe bloß Angst, er sei, wenn es jetzt Mode werde, statt Grüßgott zu sagen, die Hand hinauszustrecken, dumm dran, weil er so krumme Pratzen habe, daß es aussehe wie die Faust von denen, die Heil Moskau schrieen. Und dann in seiner Art Hochdeutsch: Ich sehe Kalamitäten voraus, Volksgenossen. Und wieder in seiner Sprache: Der sell hot g’seet: No it hudla, wenn ’s a ’s Sterbe goht. Und mit Gutnacht miteinand war er draußen, bevor ihm die Prinzessin, was er gesagt hatte, in Hochdeutsch zurückgeben konnte. Elsa rannte ihm nach, um ihm die Haustür aufzuschließen. Dann hörte man sie schrill schreien: Nicht, Luis … jetzt komm, Luis, laß doch, Luiiiis! Als sie zurückkam, lachte sie. Der hat sie einreiben wollen. Johann staunte. Daß Adolf, Paul, Ludwig, Guido, der eine Helmut und der andere und er selber die Mädchen mit Schnee einrieben, sobald Schnee gefallen war, war klar; nichts schöner, als Irmgard, Trudl oder Gretel in den Schnee zu legen und ihnen eine Hand voll Schnee im Gesicht zu zerreiben. Die Mädchen gaben dann Töne von sich wie sonst nie. Aber daß man so eine Riesige wie Elsa auch einreiben konnte! Hanse Luis war einen Kopf kleiner als Elsa. Kaum war Elsa da, erschien Hanse Luis noch einmal in der Tür und sagte: Dr sell hot g’sell, a Wieb schla, isch kui Kunscht, abe a Wieb it schla, desch a Kunscht. Und tänzelte auf seine Art und war fort. Die Prinzessin schrie ihm schrill, wie gequält nach: Ein Weib schlagen, ist keine Kunst, aber ein Weib nicht schlagen, das ist eine Kunst. Der Dulle hob sein Glas und sagte, Ohne dir, Prinzessin, tät ich mir hier im Ausland fühlen.

Die Bescherung war vorbei, jetzt also die Lieder. Schon nach dem ersten Lied, Oh du fröhliche, oh du selige, sagte der Schulze Max zur Mutter, die beiden Buben könnten auftreten. Der Vater hatte die Glacéhandschuhe wieder ausgezogen und spielte immer aufwendigere Begleitungen. Nach Kommet ihr Hirten, ihr Männer und Frau’n sagte der Schulte Max zu Dulle: Auf diese Musikanten trinken wir noch ein Glas. Wenn du einverstanden bist. Dulle nickte heftig. Dann gehen wir aber, sagte der Schulze Max. Dulle nickte wieder. Wieder heftig. Der Schulze Max: Wir wollen überhaupt nicht anwachsen hier. Dulle schüttelte den Kopf ganz heftig. Der Schulze Max: Heute schon gar nicht, stimmt ’s? Dulle nickte so heftig, daß er danach seine Brille wieder an ihren Platz hinaufschieben mußte. Der Schulze Max: Auch eine Wirtsfamilie will einmal unter sich sein, stimmt ’s? Dulle nickte wieder, hielt aber, damit er heftig genug nicken konnte, schon während des Nickens die Brille fest. Der Schulze Max: Und wann möchte, ja, wann muß eine Familie ganz unter sich sein, wenn nicht am Heiligen Abend, stimmt ’s? Dulle nahm, daß er noch heftiger als zuvor nicken konnte, seine Brille ab. Der Schulze Max: Und was haben wir heute? Dulle, mit einer unglaublich zarten, fast nur noch hauchenden Stimme: Heilichabend. Der Schulze Max, sehr ernst: Daraus ergibt sich, sehr, sehr verehrte Frau Wirtin, daß das nächste Glas wirklich das letzte ist, das letzte sein muß.

aus: Martin Walser: Ein springender Brunnen (suhrkamp taschenbuch 3100 – 1. Auflage 2000 – S. 92- 96, S. 98-101)

Barbara Robinson: Hilfe, die Herdmanns kommen

Ende Oktober spazierte ich mit meiner Frau durch das Büsenbachtal bei uns in der Nähe in der Lüneburger Heide. Zur Stärkung kehrten wir im Cafe im Schafstall zu Kaffee und Kuchen ein. Dort hing ein Aushang mit der Ankündigung einer bald stattfindenden Lesung eines Kinderbuchs: Hilfe, die Herdmanns kommen – von Barbara Robinson.

    Barbara Robinson: Hilfe, die Herdmanns kommen – Zeichnung von Wilhelm Schlote

Wenn man Kinder hat, so erwächst neben der eigenen Hausbibliothek sehr schnell auch eine hauseigene Kinder- und Jugendbücherei. Und natürlich findet such dieses Buch darunter: Hilfe, die Herdmanns kommen – Deutsch von Nele und Paul Maar – Zeichnungen von Wilhelm Schlote – Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg 1974 – amerikanische Originalausgabe unter dem Titel ‚The Best Christmas Pageant Ever‘

Der ganze Stadtteil ist sich einig: Die Herdmann-Kinder sind die schlimmsten Kinder aller Zeiten. Sie lügen, klauen, rauchen Zigarren (auch die Mädchen), bringen die Nachbarn zur Verzweiflung und können ein Klassenzimmer mit Hilfe ihrer halb wilden Katze in der Rekordzeit von drei Minuten völlig leer fegen. Jetzt haben sie es sogar geschafft, sämtliche Hauptrollen in dem Krippenspiel zu bekommen, das zu Weihnachten aufgeführt werden soll. Natürlich erwartet jeder das schlimmste Krippenspiel aller Zeiten …
(aus dem Umschlagtext)

„Aber es kommt anders! Spritzig und stellenweise umwerfend komisch wird erzählt, wie die Herdmanns die Weihnachtsgeschichte völlig unvoreingenommen mit den Augen der sich durchs Leben boxenden Kinder sehen, ganz realistisch in ihr eigenes Leben übertragen und mit ihrem Spiel bei den überraschten Zuschauern ein ganz neues Verständnis für die Weihnachtsbotschaft wecken. Eine erfrischend unsentimentale, zugleich aber auch nachdenklich stimmende Geschichte – nicht nur für die Weihnachtszeit.“ (Radio Bremen)

… und auch nicht nur für Kinder. Paul Maar, den Übersetzer, kennen wir aus den Geschichten, die vom Sams, einem hintergründig-frechen Fabelwesen, handeln und die mit ChrsTine Urspruch als Sams wunderschön verfilmt wurden. Außerdem ist Maar auch für viele Klassiker der Augsburger Puppenkiste verantwortlich.

Sie waren wirklich so rundherum schrecklich, dass man kaum glauben konnte, dass es sie wirklich gab: Ralf, Eugenia, Leopold, Klaus, Olli und Hedwig – sechs magere, dünnhaarige Kinder, die sich nur dadurch voneinander unterschieden, dass sie verschieden groß waren und an verschiedenen Stellen blaue Flecken aufwiesen, die sie sich gegenseitig beigebracht hatten. (S. 8)

Oder wie es im Original heißt: They were just so all-round awful you could hardly believe they were real: Ralph, Imogene, Leroy, Claude, Ollie, and Gladys – six skinny, stringy-haired kids all alike excerpt for being different sizes and having different black-and-blue places where they had clonked each other.

Es gibt besonders in der Kinder- und Jugendliteratur Bücher, die mir zeitlos erschienen und die man auch als Erwachsener gern noch einmal liest. Hierzu dürften dann auch die Herdmann-Bücher gehören. Und passend zur Weihnachtszeit sicherlich genau diese Erzählung von den Herdmanns und dem Krippenspiel.

Hein Sager sagt (4): Der Luxusdampfer

Stellen wir uns einmal vor, wir haben eine Reise auf einen Kreuzfahrtschiff, einem Luxusdampfer, gebucht. Natürlich will man sich auf so einem Fahrzeug, das die Weltmeere befährt, entspannen, das gute Essen und die erlesenen Getränke genießen. Stellen wir uns weiter vor: Da schwimmen viele Schiffbrüchige in ihrer Not auf uns zu. Was werden wir tun?

    Hein Sager sagt …

Die einen werden sagen, nein, die wollen wir nicht an Bord. Die werden uns all die guten Sachen aufessen und die edlen Weine wegtrinken. Überlasst sie ihrem Schicksal, das sich nicht mit dem unseren verknüpfen soll.

Nun der Kapitän, der sich an internationale Rechtsnormen halten muss, lässt Rettungsboote herab, um die ersten Schiffbrüchigen zu retten. Nach und nach kommen immer mehr Menschen an Bord. Da kommt eine zweite Gruppe Reisender, die ebenfalls nicht auf ein ausgiebiges Frühstücksbuffet und das Fünf-Gänge-Menu zu Mittag und am Abend verzichten möchte, aber durchaus ein Einsehen mit den in Seenot Geratenen hat. Sie meint, man solle nur so viele an Bord nehmen, wie ‚Platz‘ für diese vorhanden ist. Und überhaupt: Irgendwann wäre das Schiff voll …

Ist ein Boot überfüllt, dann droht es zu sinken. Das weiß jedes Kind. Wann aber ist ein Boot, ein Schiff so sehr besetzt, dass diese Gefahr droht? Wer entscheidet den Zeitpunkt, wann ein Boot voll ist? Der Kapitän? Irgendeiner der Schiffsoffiziere? Der Reisende, der am lautesten brüllt?

Halldór Laxness: Der große Weber von Kaschmir

    Zittere, elender Mensch!
    Halldór Laxness: Der große Weber von Kaschmir (S. 139)

Vor einige Wochen gab es bei Zweitausendeins ein Halldór Laxness-Paket mit neun Taschenbüchern für sage und schreibe nur 14,95 € (zz. sogar wieder verfügbar – siehe auch Laxness Buchpaket bei Amazon). Beileibe keine Mängelexemplare, sondern schön säuberlich in Plastikfolie eingeschweißt. Ich habe natürlich zugegriffen. Zwei Bände habe ich zwar schon (Sein eigener Herr und Weltlicht), aber allein die übrigen sieben Bücher sind mehr als ihr Geld wert. Allen voran der Roman Der große Weber von Kaschmir (Original: Vefarinn mili frá Kasmír, 1927 – aus dem Isländischen von Hubert SeelowSteidl Verlag, Göttingen 2011), Laxness‘ ersten bedeutenden Roman – auf Isländisch verfasst, was erwähnenswert ist, denn viele andere isländische Schriftsteller meinten auf Dänisch (Island gehörte bis zu seiner Unabhängigkeit im Jahr 1918 zu Dänemark) schreiben zu müssen.

Halldór Laxness-Buchpaket in neun Bänden

Kurze Anmerkung zum Steidl Verlag: Dort werden u.a. auch die Bücher von Günter Grass verlegt sowie die Werke international bekannter Fotografen. Allein ein Buch des Steidl Verlags in Händen zu halten lässt sich durch keinen E-Book-Reader aufwiegen (so sehr ich elektronische Medien bevorzuge, in diesem Punkt bin ich stockkonservativ).

Es ließe sich sicherlich viel zur isländischen Literatur sagen, von der Welt der Sagas bis hin zur heutigen Literatur (z.B. Einar Kárason). Am Wendepunkt zur Modernen steht auf jeden Fall Halldór Laxness (eigentlicher Name ist übrigens Halldór Guðjónsson).

Dem Roman steht als Motto ein Auszug aus Dante Alighieri: Die göttliche Komödie – (Paradiso, Canto XVII, 127 – 132) voran.

Ma nondimen, rimossa ogni menzogna,
tucta tua visïon fa manifesta;
et lascia pur grattar dov’è la rogna.

Ché se la voce tua sarà molesta
nel primo gusto, vital nodrimento
lascerà poi, quando sarà digesta.

Dem ungeachtet halt dich frei von schmucke
Und ganz eröffne das von dir geschaute ●
Lass es geschehn dass wen es beisst sich jucke!

Wenn auch beschwerlich werden deine laute
Beim ersten kosten ● wird lebendige zehrung
Man draus entnehmen wenn man sie verdaute.

So heißt es in einer Übersetzung von Stefan George auf Deutsch.

    Eben flogen zwei Schwäne nach Osten.
    Die Welt ist wie eine Bühne, auf der alles für eine große Oper hergerichtet ist: Birkenduft in der Thingvalla-Lava, ein kühler Hauch von den Sulur, purpurfarbener Himmel über der Esja, tiefe, kalte Bläue über dem Skjaldbreidur

So beginnt der Roman und deutet an, warum es in diesem Roman geht: Die Welt als Bühne auf der einen Seite, auf der anderen das Landleben, das Provinzielle Islands. Der Held der Geschichte, Stein Ellidi, fühlt sich im Provinziellen gefangen und sucht den Weg in die weite Welt. Und da ist die Figur der jungen Frau, Dilja, seine Jugendfreundin. Es ist „die Geschichte eines jungen, starken Mädchens, das in eine feindliche Umgebung gerät und das sich mit einer hoffnungslosen Liebe zu einem wankelmütigen Intellektuellen herumschlagen muß.“ wie Halldór Guðmundsson in seiner Biografie über Halldór Laxness – Sein Leben (Steidl Verlag, Göttingen 2011 – 1. Auflage – S. 68) schreibt. Dilja zeigt sich dem Leser zunächst schwach. Am Ende erweist sie sich aber als eine der ersten starken Frauenfiguren, die die Literatur erschaffen hat. Später etwas mehr.

Er ist egozentrisch, rücksichtslos und auf der Suche nach sich selbst. Island ist ihm zu eng und provinziell, in der großen weiten Welt leben junge Männer wie er inmitten von Ausschweifungen und leidenschaftlich Debatten. Dorthin zieht es Stein Ellidi, auch er will zügellos leben und mitreden. Bevor er geht, verabschiedet er sich von seiner Kindheitsfreundin Dilja. Eine Nacht lang sitzen sie auf den Thingfeldern, und Stein entwirft ihr das Panorama seiner strahlenden Zukunft.

Ähnlich jung wie sein Held war der Autor, als er Der große Weber von Kaschmir, seinen ersten bedeutenden Roman, schrieb: 23 Jahre. Auch Laxness hatte sich in das wilde Leben gestürzt, war der Enge seiner Heimat entflohen, bevor er diese bunte, lebenssatte Geschichte eines Aufbegehrenden in Sizilien niederschrieb.
(Umschlagtext)

Für mich ist es immer eine Hilfe, eine Übersicht aller wichtigen Protagonisten vorliegen zu haben, wenn sich die Anzahl dieser in diesem Roman auch in Grenzen hält.

Personen:

Dilja Thorsteinsdottir (Jugendfreundin von Stein Ellidi)
Valgerd, ihre Pflegemutter

Örnolf Ellidason, Großreeder, Sohn Valgerds
Grimulf Ellidason, Sohn Valgerds
Jogrid Ellidaso, seine Frau (schwindsüchtig) – stirbt 1925 in Taormina/Sizilien

Stein Ellidi, Grimulfs und Jogrids Sohn („Ich bin der Sohn des Tao in China, der vollkommene Jogi in Indien, der große Weber von Kaschmir, der Schlangenbändiger in den Tälern des Himalaja, der Heilige Christus in Rom.“ – S. 29)

erwähnt: Helga, Stubenmädchen (entjungfert von Stein Ellidi)

Der Roman ist in acht Bücher in zusammen 100 Kapiteln verfasst. Hier einige Hinweise zu den einzelnen Büchern bzw. zu einzelnen Kapiteln, um auch eine geografische bzw. zeitliche Zuordnung zu haben:

Erstes Buch
Spielt 1921 im Haus Ylfing – Ylfing A.G. – Dilja und Valgerd erwarten Stein und seine Familie. Stein verabschiedet sich von Dilja.

Zweites Buch
Briefe Diljas an Stein (nicht abgeschickt)

Kapitel 20-27: Neapel , Januar 1922
Briefe von Jogrid (an Dilja), darin schreibt sie u.a.: „… das, was ich ersehnte, ist das einzigste, was ich nie bekam, doch alles andere habe ich bekommen, sowohl das, was ich nicht ersehnte, als auch das, was ich fürchtete.“ (S. 67)

Aufenthalt in Brighton: Mr. Carrington – Miss Bradford, englisches Mädchen von Jogrid
Thorstein, Diljas Vater

Kapitel 25: Bilbao
José, Jogrids Geliebter
Gudmund (im Haus von Jogrid, genannt auch Jofi, in Reykjavik), der Alte, der im Alter noch das große Los zog

Drittes Buch
Kapitel 30 ff. : Herbst 1921
Stein im Zug nach Paris – Gespräch mit Mönch Fr. Alban

Kapitel 33 ff.: Sussex – Villa Warren Hastings ( S. 147) in Hounslow bei London (Wohnung von Carrington), Sommer 1924
Brief von Stein an Mönch Fr. Alban

Kapitel 38 ff.: (Rom) Gott oder Frau
Kapitel 42: Das Alter
Kapitel 43: London Neujahr 1925
Fs. Brief von Stein an Mönch Fr. Alban

Viertes Buch
Februar 1924 – Valgerd + Dilja am Hafen – Ankunft von Örnolf
Kap. 48 ff. Örnolf und Dilja

Fünftes Buch
Grimulf, Steins Vater

Stein in Taormina/Sizilien (nach dem 15.04.1925) – Hotel Regina
Tod der Mutter (im Traum als Gespenst)

Signor Bambara Salvatore (aus Mailand)
Kap. 55 Bambara Salvatores Ansichten → Unter- und Übermenschen – Auf dem Weg des totalen Verbrechers
Kap. 56 Friedhof
Kap. 57 Leonardo Peppini, Bettler und Flötenspieler
Steins Träume

Sechstes Buch
Stein im Zug Basel – Brüssel – Berlin – Moskau
Halt in kleiner belgischen Stadt (Sept Fontaines/Ardennen)
Besuch im Kloster bei Prior Alban de Landry
Steins Weg zum Glauben
Prior Albans Lebensgeschichte
Steins katholischer Glaube und seine Taufe

Siebtes Buch
Heimkehr Steins nach Island
Dilja ist inzwischen die Frau Direktor (Örnolfs Frau)
Steins Rückkehr auch im Geiste

Achtes Buch
Ostende, 10. Sept. 1926
Brief Steins an Dom Alban (inzwischen als Novize bei den Kartäusern in der Schweiz)
Stein, ein „isländischer Westeuropäer“ – Sieg der Vernunft
Zu Besuch im Kloster Sept Fontaines (Alban ist nicht mehr dort)
So Besuch im Kloster Valle Sainte/Schweiz
Beichte bei Alban, jetzt Bruder Elias

Kap. 94 Kopenhagen, 2. Februar 1927
Brief Diljas an Stein → Selbstmord Örnolfs
Rom: Brief Steins an Dilja
Dilja in Rom (Traum)
Diljas Besuch bei Stein im Konvent

ENDE

Manchmal erinnerte mich Laxness‘ Roman an den Zauberberg von Thomas Mann. Stein Ellidi entspricht etwas dem jungen Hans Castorp, der aber eher ein ruhiger Vertreter seines Jahrgangs war, während Stein einen überspannten Geist offenbart. Der Mönch Dom Alban, den Stein im Zug getroffen hat, mit dem er korrespondiert und später besucht, erinnert mich an Naphta – und Settembrini, Freigeist und Literat, erinnerte mich etwas an Bambara Salvatore, womit ich dem guten Settembrini sicherlich Unrecht tue, denn Bambara Salvatore gibt gut und gern das Bild eines italienischen Faschisten ab.

In Stein Ellidi finden wir viele Bezüge zum Verfasser des Romans, zu Laxness, der Island floh, um die weite Welt kennenzulernen. Und wie Stein so ließ sich Laxness im Januar 1923 [6. Januar 1923 im Kloster Clervaux in Luxemburg] katholisch taufen. Er nahm bei dieser Gelegenheit den Namen des Heiligen Kiljan an, eines irischen Missoionars des siebten Jahrhunderts, nachdem er sich zuvor schon der Einfachheit halber im Ausland nach dem heimatlichen Hof Laxness genannt hatte: Halldór Kiljan Laxness.

Laxness setzt sich in jungen Jahren in Gestalt des Stein Ellidi mit den Geistesströmungen seiner Zeit auseinander. Und er sinnt, „daß es entweder keine höheren Werte als das Selbst gibt oder daß jenseits unserer Welt Werte existieren, die man nur durch vollkommene Selbstüberwindung erreicht.“ (Halldór Gudmundsson: Halldór Laxness – Sein Leben , S. 59 f.)

Dieser Roman, der im Frühjahr 1927 erschien, ist vom Umfang und Inhalt her das erste Werk von Laxness und markiert gemeinsam mit Þórbergur Þórðarsons Bréf til Láru [Brief an Laura, 1924) den Beginn der modernen isländischen Literatur. Darin zeigt sich Laxness‘ Wille zum radikalen Bruch mit der isländischen Erzähltradition. Während viele junge Isländer, die an europäischen Universitäten studiert hatten und daher städtisch geprägt waren, nach ihrer Rückkehr einen Kulturbegriff predigten, durch den die Bevölkerung vor eben jener Urbanität geschützt werden sollte, hielt Laxness „all dieses Gequatsche über die isländische Bauernkultur“ für nichts als skrupellose politische Heuchelei.

Neben Stein Ellidi spielt dessen Jugendfreundin Dilja eine wichtige Rolle:

Sie hat keinerlei symbolische Bedeutung, sie ist einfach nur anwesend, stellt ihre unschuldigen Fragen, legt den Maßstab des Menschlichen an Steins Handeln. Steins Liebe zu ihr ist gefärbt vom Haß dessen, der sich wegen seines Strebens nach dem Übermenschlichen am Menschlichen vergeht: „Du machst dir einen Spaß daraus, mich in Stücke zu treten! Er ging direkt auf sie zu und gab ihr eine Ohrfeige mit der flachen Hand, so daß sie schwankte. Ich liebe dich! sagte er.“

Dilja nimmt Stein die Maske seines übersteigerten Begehrens ab, und nach ihrer Liebesnacht in Thingvellir muß er sich endlich eingestehen, daß sein ganzes Leben jenseits von ihr auf Lüge und Selbstbetrug gegründet ist. Hätte Der große Weber von Kaschmir hier geendet, wäre es vielleicht nicht viel mehr als eine lange Fabel im Geiste Sigmund Freuds geworden. Aber Stein strebt nun einmal nach Vollkommenheit, eine Rückkehr zum Menschlich-Durchwachsenen, zum Leben mit Erdenrest ist für ihn ausgeschlossen, So bleibt ihm nur ein Leben als Mönch. Im Priesterseminar in Rom entsagt er Dilja endgültig, und zugleich dem Menschsein: „Der Mensch ist eine Täuschung. Geh und suche Gott, deinen Schöpfer, denn alles außer ihm ist Täuschung“, sind seine Abschiedsworte an Dilja. Der Leser bleibt bei ihr, die langsam durch Rom geht, während die Stadt im Morgengrauen erwacht, und bei ihren Gedanken: „Jesus ist ein seltsamer Tyrann: Seine Feinde kreuzigten ihn, und er kreuzigt seine Freunde. Die Kirche ist das Reich der Gekreuzigten. Was konnte eine armselige Sterbliche gegen die heilige Kirche Christi ausrichten, die mächtiger ist als die Schöpfung?“
(aus: Halldór Gudmundsson: Halldór Laxness – Sein Leben , S. 66)

„Ein hochintelligentes, kulturkritisches, radikal subjektives, dreistes und leidenschaftliches Buch“ (DRadio)

Asterix Band 36: Der Papyrus des Cäsar

    Wir befinden uns im Jahr 50 v. Chr. Ganz Gallien ist von den Römern besetzt … Ganz Gallien? Nein! Ein von unbeugsamen Galliern bevölkertes Dorf hört nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten […]

Ja, wer kennt sie nicht, die unbeugsamen Gallier: Asterix, den kleinen, Obelix, den dicken, und all die anderen, die vom Texter René Goscinny und Zeichner Albert Uderzo erschaffen wurden und seit 1968 (mit Asterix der Gallier) auch bei uns in Deutschland bekannt wurden.

Ich kenne Asterix und Co. aus meiner Jugendzeit, also eigentlich von Anfang an, und habe so manches Heft aus dieser Zeit zu Hause (wahrscheinlich verschüttet) liegen. Vor rund zwei Wochen erschien nun der 36. Band: Asterix: Der Papyrus des Cäsar mit dem Text von Jean-Yves Ferri und den Zeichnungen von Didier Conrad. Mit diesem Band habe ich mir nach vielen Jahren wieder einmal ein Asterix-Heft gegönnt.

    Asterix Band 36: Der Papyrus des Cäsar
    Wie heißt ein römischer Wachtmeister? Antivirus! Wie ein römischer Whistleblower? Polemix! Wie ein römischer Spindoctor? Syndicus! Der neue, der 36. Asterix-Band „ist ein starker Comic“ (SZ) mit Leaks, Whistleblowern und Twitter-Vögelchen.

Das Dorf der Gallier ist in Aufruhr, denn Julius Cäsar ist unter die Schriftsteller gegangen und hat seine Commentarii de Bello Gallico, also seine Aufzeichnungen zum Gallischen Krieg, verfasst. Dabei hat er es so ganz genau nicht mit der Wahrheit genommen.

Die Leser können sich auf ein spannendes Abenteuer mit neuen Figuren freuen. Da wäre einmal der Bösewicht Syndicus – Julius Cäsars fieser Berater, der zweifelslos einen teuflischen Plan gegen die unbeugsamen Gallier ausheckt. Aber er hat nicht mit Polemix gerechnet – ebenfalls eine neue Figur im Band, für die kein anderer als Wikileaks-Gründer Julian Assange das Vorbild war.

Cäsar hat sein unter Lateinschülern berüchtigtes Hauptwerk über den Gallischen Krieg fertiggestellt und lässt auf Empfehlung seines PR-Beraters Syndicus das Kapitel mit den für ihn wenig ruhmreichen Auseinandersetzungen mit Asterix & Co. wieder entfernen. Doch das entfernte Manuskriptstück gerät in die Hände von Polemix, der einen Scoop wittert, der das Römische Reich erschüttern könnte.

Polemix flüchtet in das bekannte gallische Dorf, verfolgt von den Schergen des Syndicus. Um das brisante Kapitel zu sichern, beschließt Miraculix, seinen Inhalt der mündlichen Überlieferung des gallischen Druidentums anzuvertrauen. Man macht sich auf zur Reise in den Karnutenwald, – was allerdings nicht unbemerkt bleibt …

Überaus geglückt ist die Erfindung und Einbindung antiker Vorformen von E-Mail-Verkehr und Twitter. Auch bei der Brieftauben-Mail wird schon mal »der Anhang vergessen« (S. 35), und man lernt nebenbei auch einen Brieftauben-Server kennen (S. 16). Der Einfluss der Medien wird an Obelix demonstriert, den ein Horoskop in schwere innere Konflikte stürzt (»weniger Wildschweine«).

Ein besonderer Clou: Aus der Geschichte heraus springt Ferri am Schluss in eine Meta-Erzählung: Wir erfahren, wie Goscinny und Uderzo einst, in den 1950er Jahren, an die Informationen über die legendären Abenteuer von Asterix & Co. gelangten.
(Quelle u.a. Estragon: Zurück in der Spur)

Von der Ausstattung her, von der Liebe zum zeichnerischen Detail bis hin zur gleichen Seitenanzahl, hat sich mit diesem 36. Asterix-Band gegenüber (viel) früheren nichts Gravierendes verändert. Auch inhaltlich kommt mir vieles sehr bekannt vor. Für Obelix spinnen die Römer immer noch. Nur das jetzt schon einmal ein römische Legionär behauptet, dass auch die Gallier spinnen.

Soviel ich gelesen habe, soll es viele Jahre hinsichtlich des Inhalts und da besonders die Texte betreffend eher eine Durststrecke in der Asterix-Reihe gegeben haben (der Texter René Goscinny starb bereits 1977), die nun überbrückt zu sein scheint. Mit Jean-Yves Ferri hat Goscinny einen würdigen Nachfolger gefunden. Für mich brachte das Lesen dieses neuen Bandes auf jeden Fall viel Spaß.

Natürlich könnte man behaupten, wer einen Asterix-Band kennt, kennt im Grunde alle. Man kann es aber auch anders sagen: Wer Asterix mag, wird auch diesen neuen Band mögen.

Hein Sager sagt (3): Synapsenkurzschluss

Hein Sager fragt: Kennt ihr das auch: Man wacht früh morgens auf, obwohl der Wecker nicht geklingelt hat, und weiß nicht so recht, wo man sich befindet. Im Bett: klar, aber sonst … Ort und Zeit lassen sich nicht genau bestimmen.

Meistens ist man durch einen Traum geweckt worden. Es muss nicht unbedingt ein Alptraum gewesen sein. Diese Orientierungslosigkeit löst sich meist schnell. Man hat verschlafen, sammelt seine sieben bis acht Sinne (oder sind’s doch nur vier?) und springt förmlich aus dem Bett. Und der Alltag hat einen wieder. Wenn es vielleicht Wochenende ist, wenn auch noch früh am Tag, dann atmet man erleichtert auf, legt sich auf die andere Seite und schläft weiter.

    Hein Sager sagt …

Bedenklich wird das, wenn einem so etwas am lichten Tage geschieht. Es ist weniger eine Orientierungslosigkeit, als eher so etwas Ähnliches wie eine Halluzination. Vielleicht hat man gerade etwas gelesen, sich dann mit etwas anderem beschäftigt – und wie durch Teufelswerk vermischt sich das alles. Die Synapsen schließen sich kurz.

Natürlich muss das nichts Schlimmes sein. Oft ist Übermüdung der Grund. Eine Art Sekundenschlaf, aus dem man nur halb geweckt wird. Und wie bei einem Traum, aus dem man erwacht und an den man sich erinnert, als wäre er real, wirkt diese ’Halluzination‘ einige Zeit nach.

Wer so etwas schon einmal erlebt hat, wird vielleicht verstehen können, wie Drogen in etwa wirken. Deren Wirkstoffe docken sich an die Rezeptoren auf der Oberfläche der Nervenzellen an und lösen so verschiedene Reaktionen im Gehirn aus, zum Beispiel die Ausschüttung von Glückshormonen. Auch eine Art von Kurzschluss.

Auf der anderen Seite kann der Kurzschluss in der Nervenzelle allerdings häufige Ursache für Schlaganfall, Epilepsie und andere Erkrankungen sein. Ich denke, wenn der Kurzschluss längere Zeit anhält. Soweit ist es natürlich noch nicht …

Mit einer genügend großen Mütze Schlaf und danach mit einem ausgiebigen Frühstück sieht die Welt dann schon viel besser aus. Alles braucht seine Ruhe!

Hein Sager sagt (2): Rosa, die Bettwurst und der Tee-Kaffee-Vergleich

Wie gesagt, will ich sagen, was mich stört, was ich einfach nicht gut finde. Da wird debattiert und das dann in allen Medien bis zum Verdruss ausgebreitet. Es geht ums Schwulsein und Lesbischsein und dem gleichen Recht auf Ehe wie Heterosexuelle. Und dann ‚die Flut‘ an Flüchtlingen, die Deutschland angeblich heimsucht und überschwemmt. Was kratzen wir uns eigentlich darum, dass andere vielleicht anders sind als wir? Denn darum geht es eigentlich. Können wir nicht einfach nur Mensch sein?

Hein Sager sagt …

Es ist lange her, da sah ich mit einem Freund, Jochen mit Namen, den ersten Film von Rosa von Praunheim: Die Bettwurst. Das war ein merkwürdiger Film, besonders die Sprechweise der Hauptdarsteller, Dietmar mit seinem Mannheimer Dialekt und die Dialoge, die sich wechselseitig wiederholten („Dietmar, ich liebe Dich, Luzi, ich liebe Dich, so wie die Luft, wo ich atme“). Und doch waren die Hauptdarsteller Luzi und Dietmar echt, echt in ihrer scheinbaren Unbeholfenheit, in ihren scheinbaren Schwächen, die doch in Wirklichkeit Stärken waren.

    Rosa von Praunheim: Die Bettwurst (1970)

Natürlich dachten wir erst, Rosa von Praunheim wäre eine Frau. Aber bald wussten wir es: Rosa ist ein Mann. Die Ikone der Schwulenbewegung! Das störte uns wenig. Der Film, das war uns damals schon klar, ist Kult!

Weder Jochen, noch ich sind schwul. Jochen sagte: Ich glaube, ich bin lesbisch: Ich steh auf Frauen! – Er meinte das ironisch und meinte es doch auch irgendwie kritisch. Schon damals sagte man Jungen gern nach, sie wären schwul, wenn sie sehr weich, sensibel waren. Wir beide hassten das. Wie konnte man nur so bescheuert sein und solche dummen Sprüche machen.

Später bin ich öfter Schwulen begegnet. Wir sind ins Gespräch gekommen. Natürlich konnte ich es nicht nachempfinden, wie man sich als Mann ganz allgemein Männern hingezogen fühlen kann. Aber das ist kein Grund, jemand zu diskriminieren, nur weil er etwas anders ist.

Warum ist der eine schwul, der andere nicht – die eine lesbisch, die andere nicht. Auch wenn der Vergleich hinkt wie ein lahmer Gaul: Viele trinken gern Kaffee. Andere mögen den nicht und trinken lieber Tee. Aber warum ist das so, könnte man auch hier fragen. Vielleicht hat einer, der lieber Kaffee trinkt, noch nie einen guten Tee getrunken. Denn hätte er, dann …

Homosexualität gilt vielen auch heute noch als ‚unnatürlich‘, dabei finden wir gerade in der Natur gleichgeschlechtliche Partnerschaften (nicht nur schwule Pinguine im Bremerhavener Zoo am Meer) zuhauf.

Tiere werden vorwiegend von ihren Instinkten geleitet. Beim Menschen herrscht ein Mischmasch aus Bewusstsein und Gefühlen. Liebe, das wissen wir, ist nicht ans Geschlecht gebunden. Der Vater liebt seine Söhne, die Tochter ihre Mutter. Warum also nicht auch Mann einen Mann, Frau eine Frau?

Ich bin vielleicht hetero, ich sage vielleicht, weil ich schon in frühen Jahren ein Erlebnis hatte, das ich als schön, geradezu aufregend fand und das mit einem Mädchen zu tun hatte. Ich war mir damals meiner Sexualität noch nicht völlig bewusst, und im Grunde spielte sich nichts anderes ab, als dass ich mich mit dem gleichaltrigen Mädchen auf einer abgelegenen Wiese befand, wir uns plötzlich auszogen und unsere Unterschiede begutachteten. Das war im Sommer, in den Ferien und ich war elf Jahre alt. Eine unbeschwerte Zeit.

    Kölner Zoo, August 1965 – Hein (Willi) mit U. und Großmutter

Und da ich gerade in der Vergangenheit krame: Ich erinnere mich auch daran, einmal einem Jungen begegnet zu sein, der so schön war, sodass ich mich in ihn ‚verliebte‘. Es war wie ein heißes Feuer. Ich muss ziemlich irritiert dieser Zuneigung wegen gewesen sein. Der Junge war aber auch über alle Maße schön, weiblich zart und schön. Es war die Schönheit selbst, die mich faszinierte. Sicherlich steckt in jedem diese Möglichkeit, auf Reize des gleichen Geschlechts empfindsam zu reagieren.

Und es sind dann meist diejenigen, die homophob reagieren, die Angst vor der eigenen, latent vorhandenen Homosexualität haben, Männer, die bezüglich dessen, was sie für typisch männliche Eigenschaften halten, dahingehend verunsichert werden, dass sie möglicherweise selbst nicht diesem Bild entsprechen.

Ich sage, es gibt keinen Grund, sich vor dem Anderssein zu fürchten. Eigentlich sind wir doch alle etwas anders als die ‚anderen‘, oder? Es ist eher eine Chance, aus dem Anderssein ‚Kapital‘ zu schlagen zum Vorteil für uns alle. Nutzen wir die Möglichkeiten!

Heute Ruhetag (55): Christan Morgenstern – Galgenlieder

    Im ächten Manne ist ein Kind versteckt: das will spielen.
    Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathrustra

Christian Morgenstern (1871 in München; 1914 in Untermais, Tirol, Österreich-Ungarn) war ein deutscher Dichter, Schriftsteller und Übersetzer (u.a. August Strindberg und vor allem Henrik Ibsen). Besondere Bekanntheit erreichte seine komische Lyrik, die jedoch nur einen Teil seines Werkes ausmacht.

Morgensterns bekanntestes Werk sind seine Galgenlieder, ein erstmals im März 1905 im Verlag Bruno Cassirer (Berlin) erschienener Gedichtband, an dem er seit 1895 gearbeitet hatte. Die Galgenlieder wurden zunächst 1895 im kleinen Kreis von acht Freunden, dem Bund der „Galgenbrüder“, bei Ausflügen zum Galgenberg in Werder (Havel) bei Potsdam im privaten Kreis vorgetragen. Es handelt sich dabei um eine Reihe von formal und inhaltlich kindlich anmutenden, sprachspielerischen Gedichten, die Morgenstern „Spiel – und Ernst=Zeug“ nannte. Bald schon entfernte er sich vom ursprünglichen Thema des Galgens und erweiterte diese um sprachspielerische, oft Dinge verlebendigende, grotesk anmutende Gedichte.

Wie die Galgenlieder entstanden

Es waren einmal acht lustige Könige; die lebten. Sie hießen aber so und so. Wer heißt überhaupt? Man nennt ihn. Eines Tages aber sprachen die lustigen Könige zueinander, wie Könige zueinander sprechen. »Die Welt ist ohne Salz; laßt uns nach Salz gehen!« sagte der zweite. »Und wenn es Pfeffer wäre«, meinte der sechste. »Wer weiß das Neue?« fragte der fünfte. »Ich!« rief der siebente. »Wie nennst du’s?« fragte der erste. »Das Unterirdische,« erwiderte der siebente, »das Links, das Rechts, das Dazwischen, das Nächtliche, die Quadrate des Unsinnlichen über den drei Seiten des Sinnlichen.« »Und der Weg dazu?« fragte der achte. »Das einarmige Kreuz ohne Kopf mit der Basis über dem Winkel«, sagte der siebente. »Also der Galgen!« sagte der vierte. »Esto«, sprach der dritte. Und alle wiederholten: »Esto«, das heißt »Jawohl«. Und die acht lustigen Könige rafften ihre Gewänder und ließen sich von ihrem Narren hängen. Den Narren aber verschlang alsogleich der Geist der Vergessenheit. –

Betrachten wir den ›Galgenberg‹ als ein Lugaus der Phantasie ins Rings. Im Rings befindet sich noch viel Stummes.

Die Galgenpoesie ist ein Stück Weltanschauung. Es ist die skrupellose Freiheit des Ausgeschalteten, Entmaterialisierten, die sich in ihr ausspricht. Man weiß, was ein mulus ist: die beneidenswerte Zwischenstufe zwischen Schulbank und Universität. Nun wohl: ein Galgenbruder ist die beneidenswerte Zwischenstufe zwischen Mensch und Universum. Nichts weiter. Man sieht vom Galgenberg die Welt anders an, und man sieht andre Dinge als Andre.

    Heute Ruhetag = Lesetag!
    Laß die Moleküle rasen,
    was sie auch zusammenknobeln!
    Laß das Tüfteln, laß das Hobeln,
    heilig halte die Ekstasen!

Bundeslied der Galgenbrüder

O schauerliche Lebenswirrn,
wir hängen hier am roten Zwirn!
Die Unke unkt, die Spinne spinnt,
und schiefe Scheitel kämmt der Wind.

O Greule, Greule, wüste Greule!
Du bist verflucht! so sagt die Eule.
Der Sterne Licht am Mond zerbricht.
Doch dich zerbrach’s noch immer nicht.

O Greule, Greule, wüste Greule!
Hört ihr den Huf der Silbergäule?
Es schreit der Kauz: pardauz! pardauz!
da taut’s, da graut’s, da braut’s, da blaut’s!

[…]

Christan Morgenstern: Galgenlieder

Zu Martin Walser (6): Walser und die Krimis – Teil 2

In Friedrichshafen am Bodensee ist nicht viel los. Viel zu wenig, um Tassilo S. Grübel (Bruno Ganz) ein Auskommen als Privatdetektiv zu sichern. Er betreibt das „Büro für Auskunft und Wissen“ zusammen mit seiner Mutter (Herta Schwarz) und seinem Freund, dem stellungslosen Grafiker Hugo (Axel Milberg). Damit überhaupt mal ein Auftrag reinkommt, provoziert Tassilo die Fälle selbst und schreibt z. B. Erpresserbriefe an seine reichen Nachbarn. Er selbst nimmt dann die Ermittlungen auf und kümmert sich um die Geldübergabe. Und obwohl er doch weiß, dass er es nicht mit echten Gangstern zu tun hat, ist er mit seiner Arbeit ständig überfordert und ihm schlottern die Knie. In weiteren Rollen sind Renate Schroeter als Isle Blickle, Lisa Kreuzer als Mia von Mufflings, Charles Brauer als James Blickle und Karl Heinz Vosgerau als Georg Feuerstein zu sehen.

Wann genau die Hörspiele um die Figur Tassilo S. Grübel samt seiner Frau Biddie, seiner Mutter und seinem Freund Hugo Billingsreuther aus der Hand von Martin Walser entstanden sind, habe ich nicht mit Sicherheit in Erfahrung gebracht. Im Band 10 seiner Werke in zwölf Bänden finden sich alle von Walser verfassten Hörspiele. Interessant ist zu wissen, dass Walser 1949 während seines Studiums begann, für den neu gegründeten Süddeutschen Rundfunk als Reporter zu arbeiten und Hörspiele zu schreiben. Eine zwischenzeitliche Festanstellung beim SDR ermöglichte ihm 1951 die Promotion in Tübingen mit einer Dissertation über Franz Kafka. Zusammen mit Helmut Jedele bildete er den Kern der „Genietruppe“ des Stuttgarter Hörfunks und baute als freier Mitarbeiter den Fernsehbereich des Senders mit auf. Er führte Hörspielregie und wirkte 1953 am Buch der ersten Fernsehfilmproduktion des deutschen Nachkriegsfernsehens mit. Parallel dazu vertiefte er als Rundfunkredakteur und Autor seine Kontakte zur Literaturszene.

Ich gehe aber davon aus, dass die Tassilo-Hörspiele frühestens in den 1970er-Jahren entstanden sind (wahrscheinlich von 1974 bis 1989). Der Inhalt lässt darauf schließen. Diese wurden ab 1974 produziert und vom Westdeutschen Rundfunk ausgestrahlt. Es dauerte einige Jahre, bis man diese Hörspiele mit Bruno Ganz in der Titelrolle verfilmte. Die sechsteilige Fernsehreihe Tassilo – Ein Fall für sich wurde im Frühjahr 1991 vom ZDF gesendet. Die sechs jeweils einstündigen Fernsehfolgen liefen um 21.15 Uhr. Regie führte Hajo Gies, der auch für viele Tatort-Folgen (Schimanski) als Regisseur verantwortlich zeichnete. Das Drehbuch schrieben Rolf Basedow und Hermann Naber. Bis auf die letzte Folge (100 Jahre Blickle) dienten die Hörspiele von Martin Walser als Vorlage.

1 Verteidigung von Friedrichshafen 17.02.1991
2 Hilfe kommt aus Bregenz 24.02.1991
3 Zorn einer Göttin 03.03.1991
4 Lindauer Pietà 17.03.1991
5 Das Gespenst von Gattnau 24.03.1991
6 100 Jahre Blickle 31.03.1991

    Tassilo – Ein Fall für sich - ZDF 1991

Mit der Ausstrahlung der Serie im Jahr 1991 im Fernsehen wurden die Hörspiele von Martin Walser auch als Suhrkamp-Taschenbücher (st 1884 – st 1889) veröffentlicht. Das sechste Hörspiel war (abweichend von der TV-Serie) das Stück Säntis. Über eine erste Auflage hinaus haben es die Hörspiele leider nicht geschafft. Auch wartet man vergebens auf eine Wiederholung der Reihe im Fernsehen. Man kann nur spekulieren: Schaut man z.B. bei Wikipedia nach, so findet man kein Wort zu diesen Hörspielen, als hätte es diese nie gegeben. Wahrscheinlich ist es Martin Walser ganz recht, dass keine Worte mehr über diese ‚Fingerübungen des Autors vom Bodensee‘ verloren werden. Nichtsdestotrotz sind die Hörspiele um Tassilo S. Grübel in Antiquariaten erhältlich. Ich habe alle sechs Bände für wenig Geld und in einem passablen Zustand erstanden und während meines Sommerurlaubs gelesen. Es sind kleine Bände von meist 80 Seiten und lassen sich ziemlich schnell lesen.

Martin Walser: Tassilo – sechs Hörspiele (1991)

Einen Martin Walser als Autor von Kriminal-Hörspielen, wenn auch mit ironischen Unterton, hätte kaum einer erwartet. Aber trotz aller Ironie versteckt sich hinter dem auch Gesellschaftskritik. Im Spiegel vom 11.02.1991 heißt es u.a.: Tassilo fungiert in Walsers Handlungskonstruktion als Katalysator, der die Verderbtheit der Reichen und Mächtigen in ihrer schmutzigen Reinheit hervortreibt, ohne daß sich der Detektiv je von klassenkämpferischem Ernst überwältigen ließe – ein Hofnarr unter reichen Narren.

Wer Martin Walsers Werk ein wenig kennt, wird in diesen Hörspielen trotz allzu salopper Sprache auch immer wieder den Roman-Autor herauslesen. Dax beginnt mit den ‚selbstsprechenden‘ Namen der Protagonisten und endet nicht bei Wortbildungen wie Beunruhigungstheater oder Selbstmordgesicht.

Dass sich bereits für die Hörspiele die Crème de la Crème der deutschen Schauspielerriege getroffen hat (u.a. auch Walser-Tochter Franziska Walser samt Ehemann Edgar Selge), wird durch die Verfilmung noch getoppt: allen voran Bruno Ganz, Axel Milberg und Marianne Hoppe.

Überhaupt: Neben Axel Milberg, den wir als Kieler Tatort-Ermittler Klaus Borowski kennen, geben sich bei den Hörspielen bzw. bei der TV-Serie auch noch andere Tatort-Kommissare die Hand in die Klinke; so Charles Brauer (KHK Brockmüller aus Hamburg) und Dieter Eppler (Kommissar Liersdahl aus Saarbrücken). Und wer von den vielen anderen Schauspielern hatte nicht irgendwann einmal einen Auftritt in einer Tatortfolge.

Für mich war die Lektüre der sechs Hörspiele ein sommerlicher Genuss. Damit wird das literarische Bild von Walser abgerundet. Jetzt wünsche ich mir noch unbedingt die Wiederholung der Tassilo-TV-Reihe. Es muss ja nicht zur besten Fernsehzeit sein. Irgendwo ins Nachtprogramm geschoben würde mir genügen. Hier Textpassagen, Inhaltsangaben (aus den Klappentexten) und Produktionsübersichten der sechs von Martin Walser verfassten Hörspiele:

    Also, Tassilo, die Würfel sind gefallen. Zuerst ein Kompliment für Ihre Logik: Außer mir haben tatsächlich sieben Häuser den Brief von der Bande. Mein rechter Nachbar, James Blickle, leitet die Verteidigung. Die Polizei ist verständigt, und zwar international.
    Die Verteidigung von Friedrichshafen (st 1884)

Tassilo Grübel erlebt eine folgenschwere Enttäuschung: Der Erfinder Sigrist, der ihn gerade als Werbemanager eingestellt hat, bringt sich um. Tassilo ist seinen Job los, bevor er ihn angetreten hat. Und er ist schon umgezogen, nach Friedrichshafen, wohnt dort vorerst mit seiner amerikanischen Frau Biddie bei seiner Mutter. Tassilo hat hier Kindheit und Jugend verbracht, er kennt die Leute, die Gegend. Daß so viele Wohlhabende am See wohnen, bringt ihn auf die Idee, ein Büro für Auskunft und Wissen zu gründen, ein Detektiv-Büro. Weil es aber in dieser Gegend viel weniger Unsicherheit gibt als etwa in Amerika, beschließt er, die Reichen nach Gangsterart zu beunruhigen, um dann als ihr Schützer und Retter auftreten zu können, das natürlich für gutes Honorar. Ohne seinen Freund Hugo könnte Tassilo, weil es ihm an praktischen Fähigkeiten fehlt, dieses Beunruhigungstheater nicht inszenieren. Auch mit Hugos martialischer Hilfe wird es eine so schwierige Kampagne, daß das Geld nachgerade fast als ehrlich verdient empfunden werden kann.
(Klappentext)

Sendedaten für das Hörspiel im Westdeutschen Rundfunk Köln
Die Verteidigung von Friedrichshafen

Mitwirkende:
Tassilo S. Grübel Wolfgang Reichmann
Biddie Sabine Sinjen
Tassilos Mutter Susi Nicoletti
Hugo Billingsreuther Karl-Michael Vogler
Benedetta von Woflsberg Biggi Fischer
Mia von Mufflings Louise Martini
James Blickle Heinz Baumann
Georg Feuerstein Hans Dieter Zeidler
Baron Oschatz-Tötensen Erik Frey
Frau Koppenwallner Isolde Stiegler
u.a.

Regie Heinz Wilhelm Schwarz
Dauer 75‘50
Produktion WDR/SWF/BR
Redaktion Klaus Schöning
Erstsendung 02.10.1974

    Ein bißchen Vertrauen! Gnädige Frau. Ein kleines bißchen Vertrauen!!! Und die Minuten werden weniger furchtbar sein. Sträuben Sie sich doch nicht so, einem Tassilo S. Grübel einmal fünfunddreißig bis fünfundvierzig Minuten lang zu vertrauen!
    Hilfe kommt aus Bregenz (st 1885) [Titel aus: KafkaTagebuch vom 06.07.1916]

James Blickle, Herr eines weltweit florierenden Unternehmens und Sproß einer schwäbischen Großbürgerfamilie, wird zum Gegenspieler Tassilos. Jede Begegnung wird zu einer Beleidigung des Kleinbürgers durch den Großbürger. Tassilo versucht zurückzuschlagen. Evi, eine Frau, die mit Männern à la Blickle betrübliche Erfahrungen gemacht hat, will sich beteiligen. Blickle soll verführt werden. Solange er mit Evi in seinem Berghaus in Graubünden ist, will Tassilo dafür sorgen, daß Frau Blickle fürchten muß, ihr Mann sei von einer besonders unbarmherzigen Terroristenbande entführt worden. Will sie ihn wieder, soll sie bezahlen. Wenn Blickle am Montag zurückkehrt, kann er seiner Frau nicht verraten, wofür sie bezahlt hat. Aber auch dieses Geld zu verdienen wird viel schwieriger, als Tassilo dachte.
(Klappentext)

Sendedaten für das Hörspiel im Westdeutschen Rundfunk Köln
Hilfe kommt aus Bregenz

Mitwirkende:
Tassilo S. Grübel Paul-Felix Binz
Biddie Sylvia Joost
Tassilos Mutter Renate Steiger
Evi Suttner Franziska Walser
Cornelia Rundel Dorothée Reize
Hugo Billingsreuther Charles Brauer
Ilse Blickle Sibylle Courvoisier
James Blickle Hans Wyprächtiger
Mia von Mufflings Iris Eick
Bedienung Elisabeth Gyger
Telefonistin Inka Friedrich
Telefonist Stephan Heilmann
Rosina Ruth Aders
Bahnhofsansager Stephan Heilmann,
Hans-Stefan Rüfenacht
Regie Otto Düben
Assistenz Thomas Werner
Dauer 72‘00
Produktion WDR/SWF/BR
Redaktion Klaus Schöning
Erstsendung 01.11.1988

    Hugo: „Du bist also der Veranstalter, Tassilo.“
    Tassilo: „Der Verkehrspolizist, Hugo, daß es glimpflich läuft. Verstehst du? Nicht gleich Kollision, Explosion, Schluß. Die Sache muß sich entwickeln können.“

    Das Gespenst von Gattnau (st 1886)

Gertrud Hotz, ehedem Gefährtin des Schriftstellers Färber (siehe st 1889 Säntis), bringt Tassilo zu dem alten Erfinder Kaspar Knechtle in Gattnau. Ein Journalist, Julius Weil, ist in alten sowjetischen Armee-Zeitungen auf diesen Erfinder der Schallkanone gestoßen und will wissen, was aus dieser Erfindung geworden ist. Knechtle war immerhin nach 1945 zwei Jahre eingesperrt gewesen. Die Schallkanone in den Händen eines Alt-Nazis – eine beunruhigende Vorstellung. Tassilo und Hugo zäumen diesen Fall so auf, daß nicht nur eine Zeitung, sondern die ganze Medienwelt zum Geldgeber werden soll. Sie verdienen zwar wieder einmal nicht so viel, wie sie sich ausgerechnet hatten, aber sie machen eine gründliche Erfahrung mit verschiedenen Arten von Journalismus.
(Klappentext)

Sendedaten für das Hörspiel im Westdeutschen Rundfunk Köln
Das Gespenst von Gattnau

Mitwirkende:
Tassilo S. Grübel Franz Matter
Biddie Dhana Moray
Tassilos Mutter Renate Steiger
Gertrud Hotz Franziska Walser
Kaspar Knechtle Sigfrit Steiner
Hugo Billingsreuther Günther Sauer
Julius Weil Peter Roggisch
1. Journalist Jochen Striebeck
2. Journalist Dieter Eppler
3. Journalist Martin Umbach
Journalistin Wibke Gröndahl
Ilse Blickle Sibylle Courvoisier
Journalisten, Bedienung, Eva Maria Beyerwaltes, Linda Joy und
Frauenstimme, Kellner Michael Habeck

Regie Otto Düben
Assistenz Uwe Schareck
Dauer 80‘45
Produktion WDR/SWF/ORF,
Studio Vorarlberg
Redaktion Klaus Schöning
Erstsendung 24.11.1987

    Lieber Tassilo, bitte tun Sie was. Wir treffen uns übermorgen wieder hier. Sie sollen auch mehr bekommen … Die siebzehntausend teilen wir. Wir beide. Achtfünf für jeden. Das ist unser Geheimnis, Tassilo.
    Zorn einer Göttin (st 1887)

Tassilo hält sich an den Unternehmer Blickle beziehungsweise an Frau Blickle. Die Unternehmensgattin ist eine schöne und kluge Frau. Daß sie unten den Affairen ihres Mannes zu leiden hat, wird für Tassilo eine Chance, noch einmal etwas Geld zu verdienen. Er muß ja auch von etwas leben. Als Blickle mit der Geliebten im Berghaus ist, stiehlt Tassilo mit Frau Blickles Einverständnis Blickles Lieblingsgemälde: Zorn einer Göttin vom Magritte. Diese Katastrophenmeldung bringt Blickle sofort zurück. Es gelingt auch, ihn durch Produktion weiterer Katastrophenstimmung im Haus zu halten, aber am Ende kommt für Tassilo viel weniger Geld heraus, als er erwarten durfte. Auch Frau Blickle ist, was Rechnen betrifft, Tassilo überlegen.
(Klappentext)

Sendedaten für das Hörspiel im Westdeutschen Rundfunk Köln
Zorn einer Göttin

Mitwirkende:
Tassilo S. Grübel Paul-Felix Binz
Biddie Sylvia Joost
Tassilos Mutter Renate Steiger
Hugo Billingsreuther Charles Brauer
James Blickle Hans Wyprächtiger
Ilse Blickle Sibylle Courvoisier
Evi Suttner Franziska Walser
Silke Ruth Hungerbühler

Regie Otto Düben
Assistenz Thomas Werner
Dauer 51‘35
Produktion WDR/BR/SWF
Redaktion Klaus Schöning
Erstsendung 25.05.1989

    Um ein Haar, Tassilo. Tassilo, das wünsch ich dir nicht, das wünsch ich meinem schlimmsten Feind nicht, daß er als alter hilfloser Mensch in die Hände eines mitleidlosen Feindes fällt …
    Lindauer Pietà (st 1888)

Tassilo S. Grübel, wie er, seit er Detektiv ist, heißt, gerät in eine der großbürgerlichen reichen Familien am See, lernt die wahrhaftige Dame Maximiliane Metzger-Fürst kennen. Weil er als Detektiv immer noch keine Kundschaft hat, bleibt ihm nichts anderes übrig, als die kostbare Pietà aus der Villa Seefrieden zu entwenden, um sie als Detektiv wieder zurückerobern zu können. Freund Hugo sorgt wie immer für die technische Ermöglichung der dem Zwang zum Geldverdienen entsprungenen Tassilo-Idee. Tassilo verdient dann weniger, als er hoffte, aber er erfährt dafür zur Genüge, wie es in einer süddeutschen Großbürgerfamilie zugehen kann. Vor allem aber hat er eine wirkliche Dame kenngelernt.
(Klappentext)

Sendedaten für das Hörspiel im Westdeutschen Rundfunk Köln
Lindauer Pietà

Mitwirkende:
Tassilo S. Grübel Heinz Meier
Biddie Ricarda Benndorf
Tassilos Mutter Lina Carstens
Hugo Billingsreuther Dieter Eppler
Maximiliane Metzger-Fürst Brigitte Horney
Berti Metzger-Fürst Peter Heusch
Klothilde Metzger-Fürst Franziska Oehme
Isabell Metzger-Fürst Uta Sax
Anke Metzger-Fürst Louise Deschauer
Rudi Metzger-Fürst Victor Weiß
Dr. Buchinger Karl E. Ludwig
Else Buchinger Marianne Mosa
Miesbach Hans Goguel
Dr. Neukamm Walther Schultheiß

Regie Günther Sauer
Assistenz Frank Hübner
Dauer 75‘55
Produktion WDR/SWF/BR
Redaktion Klaus Schöning
Erstsendung 29.10.1975

    Ich kann denen nicht nachspionieren, Herr Grübel. Ich bin nicht mehr jung genug, um mit dem Selbstmördergesicht vor dem Fenster dieses … Herrn auf- und abzugehen. Aber ich muß wissen, wie und was! Alles!!! Verstehen Sie, Herr Grübel.
    Säntis (st 1889)

Tassilo bekommt endlich einen wirklichen Auftrag. Dem berühmten Schriftsteller Fritz Färber, der zwischen Lindau und Wasserburg am Bodensee wohnt, ist seine junge Gefährtin, Gertrud Hotz, von einem jungen, noch ganz unbekannten, unbewährten Schriftsteller, Peter Streich, einfach weggenommen worden. Der berühmte Schriftsteller sehnt sich nach seiner Gertrud, er leidet. Gertrud, vom Beruf Fotografin, ist mit dem jungen Schriftsteller in ein altes Bauernhaus am Westende des Bodensees gezogen. Tassilo soll beobachten, wie die zwei leben, ob sie auskommen, ob Gertrud vielleicht zurückzuerobern wäre. Färber will schriftliche Berichte über alles, was in der Bauernhausidylle in Oberuhldingen passiert. Tassilo gestaltet die Berichterstattung so, daß seine Mutter und sein Frau Biddie zu Hause nicht mehr um jede Mark streiten müssen. Was dann daraus wird, zeigt, daß Tassilo in Färber an jemanden gekommen ist, der es viel besser versteht, Unglück so zu manipulieren, daß Glück daraus wird.
(Klappentext)

Sendedaten für das Hörspiel im Westdeutschen Rundfunk Köln
Säntis

Mitwirkende:
Tassilo S. Grübel Joseph Bierbichler
Tassilos Mutter Maria Singer
Dr. Fritz Färber Hans Wyprächtiger
Gertrud Hotz Franziska Walser
Peter Streich Edgar Selge
Nuntia Heidy Forster
Liss Lobkowitsch Ilse Pagé
Joe Keckeisen Karl Lieffen
u.a.

Regie Alf Brustellin
Dauer 84‘00
Produktion WDR/SWF/BR
Redaktion Klaus Schöning
Erstsendung 25.12.1978

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siehe auch:
Zu Martin Walser (1): Ich bin nicht Walser
Zu Martin Walser (2): Links und DKP-nah
Zu Martin Walser (3): Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede
Zu Martin Walser (4): Tod eines Kritikers
Martin Walser und der Tatort
Jörg Magenau: Martin Walser – eine Biografie
Zu Martin Walser (5): Walser und die Krimis – Teil 1

Zu Martin Walser (5): Walser und die Krimis – Teil 1

Wenn ein angesehener Schriftsteller zur Feder greift, um Kriminalromane zu schreiben, dann rümpft mancheiner die Nase. Oder es wird einfach die Tatsache unter den Tisch gekehrt, dass einer einmal zu diesem Zwecke die Feder ergriff …

Anders kann ich es mir nicht erklären, dass von keinem anderen als Martin Walser beflissentlich die Veröffentlichung von immerhin sechs Krimis, die allerdings als Hörspiele gestaltet wurden, verschwiegen wird, z.B. bei Wikipedia kein Wort.

    Tatort – TV-Reihe der ARD (seit 1970)

Nicht verschweigen konnte man bis jetzt seine Mittäterschaft bei dem Schreiben zu einem Drehbuch für eine Folge der ARD-Reihe Tatort. Ich habe es erst jüngst erwähnt (seinen Schwiegersohn Edgar Selge betreffend, Schauspieler wie seine Frau, Franziska Walser, Martin Walsers Tochter). Es handelt sich um eine Tatort-Folge aus Hamburg mit den Ermittlern Paul Stoever (Manfred Krug) und Peter Brockmöller (Charles Brauer) aus dem Jahr 1989: Armer Nanosh. Das Drehbuch hierzu schrieb Martin Walser zusammen mit Asta Scheib.

Das Walser durchaus große Sympathie für seinen Schwiegersohn hegt, lässt sich daraus ersehen, dass er eine Rolle hauptsächlich für diesen verfasst hat, wenn es dann am Ende auch die Rolle des … ist – aber ich will nicht zu viel verraten. Okay, es ist nicht einer der besten Tatort-Folgen. Interessant ist er aber trotzdem …


Tatort (220) aus Hamburg (1989): Armer Nanosh

Nun, ich taste mich langsam voran. Bevor ich zu den anfangs erwähnten sechs Kriminal-Hörspielen komme (als Stichwort sei bereits der Name Tassilo genannt), sei noch auf eine Kurzgeschichte von Martin Walser hingewiesen, die der Länge wegen wohl nur mit anderen Werken in Buchform erschienen ist; diese hier aber nicht aufgeführt zu haben, käme einem Verbrecher gleich, gelt?

Um es gleich zu sagen: Die Walser’sche Erzählung hat Marcel Reich-Ranicki als Herausgeber in Die besten deutschen Erzählungen, also die nach Ansicht Reich-Ranickis besten deutschen Erzählungen, veröffentlicht. Neben Goethe, Brecht, Namensvetter Robert Walser, Kafka u.v.a. darf Martin Walser in dieser Auswahl nicht fehlen, auch wenn sich zu Lebzeiten Reich-Ranickis beide nicht immer wohlgesonnen waren.

Es handelt sich um die Erzählung Selbstporträt als Kriminalroman:

„Unser Freund“ hat ein nicht näher beschriebenes Verbrechen begangen.

Unser Freund hat ein harmloses Verbrechen begangen. Er hält sein Verbrechen für harmlos. Er tut zumindest so, als halte er sein Verbrechen für harmlos. Er ist nicht bereit zuzugeben, dass sein Verbrechen ein ernsthaftes, ein schlimmes Verbrechen sein könne. Er ist sehr empfindlich, wenn jemand auf sein Verbrechen zu sprechen kommt.

Sobald jemand sein Verbrechen erwähnt, braust er auf. Erst wenn man ihn hemmungslos für sein Verbrechen lobt, beruhigt er sich. Dann lächelt er wie ein dreizehnjähriges Mädchen, dem man sagt, es sehe hundertmal verführerischer aus als Marilyn Monroe. Unser Freund behauptet allerdings, es sei ihm peinlich, gelobt zu werden und beschuldigt sich erneut des Verbrechens.

Ja, wer denn nicht, sagen wir dann! Ob er uns jemanden sagen könne, der in der Geschichte der Menschheit irgendeine Rolle spiele, und kein Verbrechen begangen habe! Schon eine Rolle zu spielen, oder spielen zu wollen in der Geschichte der Menschheit, sei ja der Beginn jedes großen Verbrechens …

Unser Freund verdächtigt uns alle, dass wir lügen, wenn wir ihn loben, und er unterstellt uns, dass wir auf der Seite des Inspektors stünden.

Der Inspektor, also. Die große Gegenfigur unseres Freundes. Er redet andauernd von diesem Inspektor. […]
Der Inspektor ist ein Verbrecher, der nicht den Mut gehabt hat, etwas zu begehen.

Der Inspektor verfolgt unseren Freund, und der beobachtet jeden seiner Schritte, ist genaugenommen mehr hinter dem Inspektor her als der hinter ihm. Inzwischen hat jedoch der Inspektor das Interesse an unserem Freund verloren.

Das ist für einen, dem das Verfolgtwerden zum Lebensinhalt geworden ist, offenbar das Schlimmste.

(Quelle. dieterwunderlich.de)

Das klingt nach Kafkas Prozess – und im ‚Inspektor‘ lässt sie der eben jene frühere Kritiker-Papst Reich-Ranicki erkennen (vergleiche Zu Martin Walser (4): Tod eines Kritikers). Eine literarische Fingerübung des ‚Autors vom Bodensee‘.

Für heute genug: zu den sechs genannten Kriminal-Hörspielen von Martin Walser in den nächsten Tagen mehr …