Kategorie-Archiv: Literatur

WilliZ Welt der Literatur

Theo Löbsack: Die manipulierte Seele

    Wenn es wahr ist, daß Freude und Leid, Liebe und Haß, Aggression, Güte und ähnliche Regungen für unser Menschsein bezeichnend sind, und wenn dieses Menschsein bisher für eine gezielte Veränderung unzugänglich war, so wissen wir heute: Diese Gewißheit gibt es nicht mehr.
    Denn Gefühle wie Zuneigung und Wut, Angst und Wonne lassen sich seit jüngster Zeit auch unabhängig von äußeren Umständen mit der Präzision eines chirurgischen Eingriffs im Gehirn künstlich hervorrufen. Damit scheint es nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis wir sogar Vertrauen und Hoffnung, ja den Glauben an etwas in Form einer chemischen Substanz ins Gehirn träufeln oder als Medikament zu uns nehmen können.
    (aus der Einleitung zum Buch)

Die Möglichkeiten, das menschliche Verhalten durch chemische Substanzen oder chirurgische eingriffe und gezielte Stromstöße im Gehirn zu manipulieren, sind in den letzten Jahrzehnten auf beängstigende Weise gewachsen. Beruhigungsmittel, leistungssteigernde, bewußtseinserweiternde, geistig und sexuell anregende Drogen haben einen ebenso erfolgreichen wie bedenklichen Siegeszug angetreten. Ist diese Entwicklung aufzuhalten? Wann darf die Persönlichkeit eines Menschen beeinflußt oder gar verändert werden? Gibt es überhaupt Umstände, die dies rechtfertigen? – Theo Löbsack informiert sehr gründlich über alle medizinischen, psychologischen und moralischen Aspekte dieses überaus komplexen Problems. Neben aktuellen Zahlen und statistischen Ergebnissen bezieht er auch die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse in seine Darstellung ein.
(aus dem Klappentext)

    Theo Löbsack: Die manipulierte Seele

Natürlich ist dieses populärwissenschaftliche Sachbuch nicht mehr auf dem letzten Stand. Geht man von aktuellen Schätzungen aus, wonach sich das Wissen der Welt etwa alle fünf bis zwölf Jahre verdoppelt, wobei sich diese Rate noch beschleunigt, dann präsentiert ein 35 Jahre altes Buch nur noch einen Bruchteil des heutigen Wissens. Auch erscheint mir der Autor der ‚alten Schule’ anzugehören, nicht nur stilistisch, obwohl er für die damalige Zeit sicherlich aufgeschlossen und tolerant erscheint. In seiner Einleitung zum Buch schreibt er weiter:

Wir, die wir eingespannt sind in den entnervenden Betrieb einer auf Leistung bedachten Welt, die wir an Verklemmungen und Verdrängungen leiden, die wir vielfach schon zur bloßen Funktion herabgewürdigt sind, wir haben vieles von unserem ursprünglichen Menschsein hergeben müssen. Um so mehr aber sehnen wir uns nach ihm zurück. Gilt uns die persönliche Freiheit noch etwas? Dann dürfte es beispielsweise nicht sein, daß wir einen Mitmenschen als gefährlich, asozial oder kriminell bezeichnen, weil er etwa bestimmte Drogen einnimmt, weil er sich mit Hilfe chemischer oder anderer Mittel künstlich in ein Reich begibt, in dem er – ganz für sich und ohne seine Mitwelt zu belästigen – dieses Menschsein wieder zu spüren vermeint. Wir sollten vielmehr versuchen, solch Verhalten zu verstehen und die Möglichkeiten, die uns die moderne Pharmakologie, die Gehirn- und Seelenforschung erschlossen haben, unserem westlichen Kulturerbe nutzbar zu machen, bevor die technische Zivilisation dieses Erbe vollends überwuchert.

Dieses Buch will vor allem informieren. Es will zum Verständnis einer Entwicklung beitragen, deren Gefahren und Verlockungen uns heute gleichermaßen bewegen. Darüber hinaus will es schlicht zum Nachdenken anregen.
(aus der Einleitung zum Buch)

Ich habe Theo Löbsack: Die manipulierte Seele als dtv Sachbuch 1712 – Deutscher Taschenbuch Verlag, München, Oktober 1981 (1979 revidierte Neuausgabe) vorliegen und während meines Sommerurlaubs nach langen Jahren erneut gelesen.

Hier ein Blick ins Inhaltsverzeichnis, der uns aufzeigt, worum es in diesem Buch geht. Besonders die heutigen Erkenntnisse in der Hirnforschung mit all ihren Disziplinen dürften das hier Beschriebene überholt haben. Und wenn es um Drogen geht, so sind synthetische Drogen wie Crystal Meth auf dem Vormarsch. Trotzdem ist dieses Buch, betrachtet man es als Einstieg in diese Materie, auch heute noch interessant und lesenswert:

Inhaltsverzeichnis

Einbruch ins innerste Ich (anstelle eines Vorworts)

I. Der Mensch im Massenzeitalter
Neurose und Verbrechen
Die innere Leere
Invasion der Wünsche
Immer mehr Erdbewohner: Die Seelenbelastung wächst

II. Verborgene Kräfte in uns
Sekundär-Gedächtnisse
Sinnesleistungen, die verblüffen

III. Physik der Seele
Stationen der Hirnforschung: von Mumienschädeln und „protoplasmatischen Küssen“
Das Gehirn als Zielsuch-Maschine
Was das Gehirn sich nicht gefallen läßt
Sauerstoffmangel und künstliche Unterkühlung
Der Eingriff mit dem Zielgerät

IV. Gehirnwäsche
Was ist die „Persönlichkeit?“
Pawlows Versuche
Die „ultraparadoxe Phase“
Die „Kampf-Erschöpfung“ und das Mittel der Isolierung

V. Die manipulierte Seele
Liebesgefühle auf Kommando
Wut- und Wonnezentren im Gehirn

VI. Chemie der Seele
Hunger und Durst auf chemischen Befehl
Die gefährlichen Paradiese
Tabak, Kaffee und Tee
Opium oder das Geheimnis des Glücks
Der Haschisch-Rausch: ein Ozean aus Tönen
Coca vertreibt die Müdigkeit
Die Sucht oder die Flucht aus der Wirklichkeit
Schmerz und Wehleid

VII. Über sich hinauswachsen
„Psycho-Energizer“
Die Gedächtnis-Pille
Chemische Siebenmeilen-Stiefel
Die Leistung steigt im elektrischen Feld
Über sich hinauswachsen – auch sexuell?
Liebe im LSD-Rausch

VIII. Seelenarznei und Legalität
Mittel, die die Zunge lösen
Gefährliche Kombination: Arznei und Alkohol
Psychopharmakon und Strafrecht

IX. Hilfe für die Ruhelosen
Der Verfolgungswahn verliert seine Schrecken
Lassen sich Verbrechen voraussagen?
Gegen Lampenfieber und Examensangst
Schattenseiten
Darf die Persönlichkeit verändert werden?

X. Das geweitete Bewußtsein
Meskalin und die mexikanischen Zauberpilze
LSD – die „Wasserstoffbombe“ für die Seele
Reisen in die Vergangenheit
Vom blauen Windstoß und ungelösten Welträtseln
„Transzendentales Leben“ auf dem Hängeboden
LSD in der Psychiatrie
Was geschähe, wenn …?

XI. Die Seele darf nicht verkümmern

Anhang

Wenn ich mir eines wünschen dürfte, dann wäre es ein Buch wie dieses – allerdings auf einen möglichst neuesten Stand. Löbsack besaß die Fähigkeit, komplizierte naturwissenschaftliche Zusammenhänge in einer auch für den Laien verständlichen Form darzustellen, wofür er einige Auszeichnungen erhielt. Es ist ein interessantes Feld – das Wissen um unser Gehirn. Und nicht umsonst haben sich viele Wissenschaftler aufgemacht, um immer mehr von dem Organ zu erforschen, von seinem Aufbau und seiner Funktionsweise, aber auch von seinen Erkrankungen.

„Löbsacks Buch liest sich wie ein spannender Abenteuerroman – und in der Tat kann es ja kein aufregenderes Abenteuer geben als die Entdeckung der menschlichen Seele.“ (Die Weltwoche)

Margaret Atwood: Der Report der Magd

    Da Rahel sah, daß sie dem Jakob kein Kind gebar,
    beneidete sie ihre Schwester und sprach zu Jakob:
    Schaffe mir Kinder; wo nicht, so sterbe ich.
    Jakob aber ward sehr zornig auf Rahel und sprach:
    Bin ich doch nicht Gott, der dir deines Leibes Frucht nicht geben will.
    Sie aber sprach: Siehe, da ist meine Magd Bilha:
    Gehe zu ihr, daß sie auf meinem Schoß gebäre, und ich doch
    Durch sie aufgebaut werde.

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts haben fanatische religiöse Sektierer im Norden der USA die sogenannte Republik Gilead installiert, deren oberstes Ziel die Sicherung des Fortpflanzung ist, nachdem die ‚europiden Rassen’ seit Jahren einen drastischen Geburtenrückgang zu verzeichnen hatten. Perfid Machtstrukturen sollen die größtmögliche Ausbeutung der weiblichen Gebärfähigkeit gewährleisten; dazu gehören die totale Entmündigung der Frauen und ihre Klassifizierung in Hausfrauen, Gebärmaschinen und Dienerinnen. Wer nicht funktioniert oder sich widersetzt, wird zur ‚Unfrau’ erklärt und in die Kolonien zur Giftmüllbeseitigung abgeschoben. Eine dieser jungen, zu Reproduktionszwecken rekrutierten Frauen, der sogenannten Mägde, die den männlichen Führungskräften von Gilead als Zweitfrau zugewiesen werden, ist Desfred, die Hauptfigur und Erzählerin des Romans. Sie wird am Ende aus Gilead entkommen können.
(aus dem Klappentext)

‚Desfred’ ist wie ‚Desglen’ und ‚Deswarren’ ein Patronymikum (… ‚die von Fred’), das aus dem Possessivartikel im 2. Fall (Genitiv) und dem Namen des betreffenden Herrn gebildet wird (im englischen Original als ‚Offred’, ‚Ofglen’ bzw. ‚Ofwarren’). Solche Namen wurden von den Frauen bei ihrem Eintritt in eine Verbindung mit dem Haushalt eines spezifischen Kommandanten angenommen und, wenn sie ihn verließen, wieder aufgegeben.

Margaret Atwood hat mit ihrem spannenden und beklemmenden Roman Der Report der Magd ein Beispiel einer negativen Utopie gegeben, dem die Kritik den visionären Rang von Orwells ‚1984’ und Huxleys ‚Brave New World’ attestiert hat. Margaret Atwood, 1939 in Ottawa geboren, zählt zu den prominentesten Autorinnen der kanadischen Gegenwartsliteratur. Sie schreibt Gedichte, Romane, Prosastücke, Kritiken und Essays. ‚Der Report der Magd’ ist ihr wohl größter Romanerfolg und wurde von Volker Schlöndorff 1990 unter dem Titel Die Geschichte der Dienerin verfilmt. Margaret Atwood wird in diesem Jahr 75 Jahre alt.

    Margaret Atwood: Der Report der Magd

Während meines Sommerurlaubs habe ich den Report der Magd (Original: The Handmaid’s Tale, 1985) nach langen Jahren erneut gelesen. Ich habe den Roman als Taschenbuch 5987 – aus dem Amerikanischen von Helga Pfetsch – Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, April 1989, vorliegen.

Was wäre, wenn uns christliche Fundamentalisten regieren würden? In ihrem Anspruch, die wahren Werte zu vertreten, würden diese nicht Halt machen, ihre Vorstellung von einer christlichen Religion notfalls auch mit radikalen und intoleranten Mitteln durchzusetzen. Der Roman von Margaret Atwood gibt uns einen Vorgeschmack darauf. Natürlich wird ähnlich wie beim islamischen Fundamentalismus, der sich im Terror wie zz. dem des Islamischen Staates offenbart, auch hier Religion als Vorwand benutzt, um nichts anderes als Macht und Einfluss zu gewinnen. In den Chefetagen nimmt man es dann nicht mehr so genau mit christlichen (oder islamischen) Werten. Religion diente schon immer den Oberen zur Ausbeutung.

Margaret Atwood hat sicherlich nicht ohne Grund die USA als Schauplatz ihres Romans gewählt. Hier versucht eine religiöse Rechte, heute u.a. die Tea Party-Bewegung, Einfluss auf die Politik des Landes zu gewinnen. Ich denke, dass es vielleicht nicht gerade ein Gilead wie im Roman sein wird, was ihre Anhänger wollen, wenn sie könnten … Aber es dürfte genügend Menschen geben, die unter deren Politik zu leiden hätten.

„Wer diesen Roman zu lesen anfängt, wird ihn nicht aus der Hand legen können. Mit Sicherheit ist es das kühnste Buch, das Margaret Atwood bisher geschrieben hat: ein großer utopischer Roman, der wie Orwells ‚1984’ und Huxleys ‚Schöne Neue Welt’ als Prophezeiung und Warnung Bestand haben wird.“ (The Sunday Star, Toronto)

Isaac B. Singer: Feinde, die Geschichte einer Liebe

Vor geraumer Zeit schrieb ich (Heute Ruhetag (39): Scholem Alejchem – Anatewka):

Wer Kafka verstehen will, muss sich auch mit seinem Judentum auseinandersetzen. So wurde Kafka – aber nicht nur er allein – für mich zum Ausgangspunkt, mich mit jüdischer, speziell mit jiddischer Literatur zu beschäftigen. Als Einstieg boten sich da die Erzählungen und Romane von Isaac B. Singer an, der 1978 als erster und bisher einziger jiddischer Schriftsteller für sein Gesamtwerk den Literaturnobelpreis erhielt. Auch in Deutschland wurde besonders sein Roman „Feinde – die Geschichte einer Liebe“ aus dem Jahr 1966 (1974 in Deutschland erschienen) bekannt, der 1989 durch Paul Mazursky verfilmt wurde. 1983 wurde Singers Kurzgeschichte „Yentl, the Yeshiva Boy“ mit Barbra Streisand in der Hauptrolle als Yentl verfilmt; dem Film stand Singer allerdings sehr kritisch gegenüber. Isaac Bashevis Singer beschreibt u.a. das jüdisch-polnische Leben im Schtetl, später das Leben der Juden in den USA. Es ist eine wundersame Welt mit einem ganz eigenen Humor, die sich da dem Leser auftut. Singers Werk steht im Spannungsfeld zwischen Religion und Moderne, Mystizismus und rationaler Einsicht.

Isaac Bashevis Singer wurde 1904 in Radzymin (andere Quellen: in Leoncin) in Polen geboren und wuchs in Warschau auf. Er erhielt die tradionelle jüdische Erziehung und besuchte das Rabbinerseminar. Mit 22 Jahren begann er für eine jiddische Zeitung in Warschaz Geschichten zu schreiben, zuerst auf hebräisch, dann auf jiddisch. 1935 emigrierte er in die USA und gehörte dort bald zum Redaktionsstab des ‚Jewish Daily Forward’. Für den Roman ‚Feinde, die Geschichte einer Liebe’ erhielt er 1974 den National Book Award. 1978 wurde ihm für sein Gesamtwerk der Nobelpreis für Literatur verliehen. Singer starb 1991 in Florida.

    Isaac B. Singer: Feinde, die Geschichte einer Liebe

Herman Broder, der als Jude in Polen nur knapp der Verfolgung durch die Nationalsozialisten entging, lebt zurückgezogen und noch immer von Ängsten gepeinigt mit seiner Frau Jadwiga in Coney Island bei New York. Jadwiga, das polnische Bauernmädchen, hatte ihn vor den Deutschen versteckt und so sein Leben gerettet; vor allem aus Dankbarkeit für diese Tat wurde sie von Broder geheiratet. Daneben liebt er die schöne, eigenwillig-exaltierte Mascha, weiß diese Verbindung aber vor Jadwiga zunächst geheimzuhalten. Da taucht Tamara auf, seine erste Frau, von der Zeugen berichtet hatten, sie sei im KZ umgekommen. Hilflos und unentschlossen steht Herman zwischen diesen drei Frauen, bis er schließlich alle drei auf mysteriöse Weise ‚verläßt’. Die verzweifelte Fatalität einer solchen Konstellation erscheint in Singers intensiver Darstellung als äußerste dramatische Zuspitzung der allgemeinen Ausweglosigkeit seines von tiefer Resignation und abgründigem Pessimismus gezeichneten ‚Helden’. Broders Geschichte ist, wie der Autor betont, nicht die des typischen Flüchtlings – doch auch der vermeintlich kuriose ‚Einzelfall’ weist zurück auf den Schock und das Trauma der Vernichtung, das alle diese Überlebenden zeichnet, auch wenn sie ihm äußerlich entkamen.
(aus dem Klappentext)

In diesen Tagen habe ich den kleinen Roman Feinde, die Geschichte einer Liebe, Deutsch von Wulf Teichmann (amerikanische Originalausgabe: Enemies, A Love Story) – Deutscher Taschenbuch Verlag, München – dtv 1216 – ungekürzte Ausgabe – 2. Auflage November 1978: 13. – 17. Tsd. – erneut gelesen.

Als Vorbemerkung schrieb Singer:

Wenn ich auch nicht das Privileg hatte, durch die Hölle von Hitlers Massenvernichtungen gegangen zu sein, so habe ich doch jahrelang in New York mit Flüchtlingen zusammengelebt, die diese Feuerprobe durchgemacht haben. Darum möchte ich gleich sagen, daß dieser Roman keineswegs die Geschichte des typischen Flüchtlings, seines Lebens und seiner Kämpfe ist. Wie in den meisten meiner erzählenden Werke wird in diesem Buch ein Ausnahmefall dargestellt – mit einzigartigen Helden und einer einzigartigen Verflechtung der Ereignisse. Die Figuren sind nicht nur Nazi-Opfer, sondern auch Opfer ihrer eigenen Persönlichkeiten und Schicksale. Wenn sie in das allgemeine Bild passen, so deswegen, weil die Ausnahme die Regel bestätigt. In der Literatur ist die Ausnahme tatsächlich die Regel.

Der Roman wurde erstmals 1966 in ‚The Jewish Daily Forward’ unter dem Titel ‚Sonim, die Geschichte fun a Liebe’ veröffentlicht. Aliza Shevrin und Elizabeth Shub haben ihn ins Amerikanische übersetzt, und Rachel Mac Kenzie und Robert Giroux haben die Übersetzung redigiert. Mein Dank gilt ihnen allen. I.B.S.

Der Roman beginnt wie folgt (Erstes Kapitel – 1):

Herman Broder drehte sich um und machte ein Auge auf. Halb noch im Traum fragte er sich, ob er in Amerika sei, in Tzivkev oder in einem deutschen Lager. In der Phantasie versetzte er sich sogar in das Versteck auf dem Heuboden in Lipsk. Alle diese Orte verschmolzen gelegentlich in seinem Geist. Er wusste zwar, daß er in Brooklyn war, aber er hörte Nazis schreien. Sie stocherten mit ihren Bajonetten herum und versuchten, ihn aufzustöbern, während er sich immer tiefer ins Heu preßte. Eine Bajonettklinge streifte seinen Kopf.

Ganz wach zu werden, erforderte einen Willensakt. „Genug!“ sagte er sich und setzte sich auf. Es war mitten am Morgen. Jadwiga war schon eine ganze Weile angezogen. Im Spiegel an der Wand gegenüber dem Bett erblickte er sich – langgezogenes Gesicht, seine wenigen ihm noch verbliebenen Haare, einst rot, jetzt gelblich und mit grauen Strähnen. Unter buschigen Brauen blaue Augen, bohrend und dennoch sanft, schmale Nase, eingefallene Wangen, die Lippen dünn.

Herman wachte immer mitgenommen und zerzaust auf, als hätte er die ganze Nacht gerungen. An diesem Morgen hatte er sogar eine blaue Beule an der Stirn. Er berührte sie. „Was ist das?“ fragte er sich. Kam das vielleicht von dem Bajonett in seinem Traum? Bei dem Gedanken mußte er lächeln. Wahrscheinlich war er in der Nacht auf dem Weg zum Klo gegen die Kante der Schranktür gebumst.

Vor jetzt auch schon wieder vierzig Jahren schrieb Horst Bienek in der Zeit (In der Fremde daheim) zu dem Roman:

Das Buch ist „ein aufrichtiger, verzweifelttragischer, schonungsloser Roman der amerikanischen Gegenwart. Hier hat ein Autor den Mut und die gestalterische Kraft, zwanzig Jahre nach dem Ende der Vernichtungshöllen (das Buch ist 1965 entstanden), nicht mehr von der Banalität des Bösen zu sprechen, sondern über die Banalität der Opfer zu schreiben; von Menschen, die Helden oder Märtyrer waren im Getto, im Gefangenenlager, im KZ oder einfach in einem Versteck, in jedem Fall von wenigen Noch-einmal-Davongekommenen, die nach der ‚Außerordentlichkeit des Lebens’, wie Buber sagt, dessen sie sich oft gar nicht bewußt waren, wieder zurückkehren in den Alltag mit seinen banalen, aufgebauschten und nichtsdestoweniger existentieller. Problemen – vor denen sie genauso hilflos dastehen wie vorher.“ – „… all seine Figuren [sind] im Ostjudentum verwurzelt; sie leben zwar in New York, aber diese Stadt ist für sie nichts anderes als Kulisse – sie denken, fühlen, ja, sie leben noch so wie damals in Tzivkev, in Lemberg oder Lipsk, …“.


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Coney Island zwischen Neptune und Mermaid Avenue (‚Herman Broders’ Welt)

Ich weiß nicht, wie es heute ist, ob nach dem Schtetl, dem jüdisch-polnische Leben, das die Nazis vernichtet haben, auch diese ‚Singer’sche’ Welt in Coney Island zwischen Neptune Avenue und Mermaid Avenue und anderswo in Amerika untergegangen ist: Isaac B. Singer hat in wunderbaren Erzählwerken diese beiden Welten für uns eingefangen, die das Lesen lohnen.

„In diesem großen und ruhigen Roman wird viel über das Leben, das Schicksal, Gott nachgedacht und spekuliert, doch in einer ganz unaufdringlichen, selbstverständlichen art und Weise. Die Erinnerung ist gleichzeitig eine individuelle und eine kollektive, und mit dieser Erinnerung muß man lebe: ‚Ja, die bösen Geister spielen eben mit uns,’ Singer bleibt stets konkret, anschaulich, figurenreich und detailgenau; da ist das Raunen einer langen Leidensgeschichte in der Gestaltung nacherlebbarer und unpathetischer Schicksale aufgegangen.“ (Die Weltwoche)

Sommer …

So langsam wird es wieder heiß, sommerlich-heiß. Da es Wochenende ist, so soll uns das erfreuen. Schließlich ist es Sommer, wenn mein Urlaub auch noch in einiger Ferne liegt (aber er kommt langsam mit größer werdenden Schritten auf mich zu …). Mag der Urlaub also noch auf sich warten lassen, so hält es mich nicht davon ab, mich an frühere Urlaube oder Ferien im Sommer zu erinnern (so z.B. an einen Sommer im Jahre 1965).

Sommer – da gibt es natürlich viele „Worte mit Flügeln“, wie das von der Schwalbe, die (im Umkehrschluss) in Mengen dann doch einen Sommer macht. Sommer ist ja die Zeit, in der wir die Arbeit Arbeit sein lassen und uns zu entspannen suchen – vielleicht bei einem guten ‚Stück’ Literatur im Liegestuhl.


Blumenpracht und Früchte in AlbinZ Garten

Bei Sommer denke ich irgendwie auch immer an Shakespeare und seinem Sommernachtstraum (und auch in diesem Zusammenhang an Emma Peel aka Diana Rigg). Und welche Dichter haben sich nicht irgendwann einmal der vier Jahreszeiten angenommen – und dabei besonders des Sommers. Eigentlich ist Sommer die pure Lebensfreude (zumindest, wenn die Sonne scheint). Manchmal neigen aber gerade Dichter zu Schwermut – auch (oder gerade) im Sommer. Hier einige Gedichte von Rilke bis Goethe, die den Sommer im Schilde, sprich: Titel führen.

Friedrich Hölderlin: Der Sommer

Wenn dann vorbei des Frühlings Blüte schwindet,
So ist der Sommer da, der um das Jahr sich windet.
Und wie der Bach das Tal hinuntergleitet,
So ist der Berge Pracht darum verbreitet.
Daß sich das Feld mit Pracht am meisten zeiget,
Ist, wie der Tag, der sich zum Abend neiget;
Wie so das Jahr verweilt, so sind des Sommers Stunden
Und Bilder der Natur dem Menschen oft verschwunden.

Gustav Falke: König Sommer

Nun fallen leise die Blüten ab,
Und die jungen Früchte schwellen.
Lächelnd steigt der Frühling ins Grab
Und tritt dem Sommer die Herrschaft ab,
Dem starken, braunen Gesellen.

König Sommer bereist sein Land
Bis an die fernsten Grenzen,
Die Ähren küssen ihm das Gewand,
Er segnet sie alle mit reicher Hand,
Wie stolz sie nun stehen und glänzen.

Es ist eine Pracht unterm neuen Herrn,
Ein sattes Genügen, Genießen,
Und jedes fühlt sich im innersten Kern
So reich und tüchtig. Der Tod ist so fern,
Und des Lebens Quellen fließen.

König Sommer auf rotem Roß
Hält auf der Mittagsheide,
Müdigkeit ihn überfloß,
Er träumt von einem weißen Schloß
Und einem König in weißem Kleide.

Rainer Maria Rilke: Vor dem Sommerregen

Auf einmal ist aus allem Grün im Park
man weiß nicht was, ein Etwas fortgenommen;
man fühlt ihn näher an die Fenster kommen
und schweigsam sein. Inständig nur und stark

ertönt aus dem Gehölz der Regenpfeifer,
man denkt an einen Hieronymus:
so sehr steigt irgend Einsamkeit und Eifer
aus dieser einen Stimme, die der Guß

erhören wird. Des Saales Wände sind
mit ihren Bildern von uns fortgetreten,
als dürften sie nicht hören was wir sagen.

Es spiegeln die verblichenen Tapeten
das ungewisse Licht von Nachmittagen,
in denen man sich fürchtete als Kind.

Theodor Storm: Sommermittag

Nun ist es still um Hof und Scheuer,
Und in der Mühle ruht der Stein;
Der Birnenbaum mit blanken Blättern
Steht regungslos im Sonnenschein.

Die Bienen summen so verschlafen;
Und in der offnen Bodenluk‘,
Benebelt von dem Duft des Heues,
Im grauen Röcklein nickt der Puk.

Der Müller schnarcht und das Gesinde,
Und nur die Tochter wacht im Haus;
Die lachet still und zieht sich heimlich
Fürsichtig die Pantoffeln aus.

Sie geht und weckt den Müllerburschen,
Der kaum den schweren Augen traut:
»Nun küsse mich, verliebter Junge;
Doch sauber, sauber! nicht zu laut.«

Johann Wolfgang von Goethe: Im Sommer

Wie Feld und Au
So blinkend im Thau!
Wie perlenschwer
Die Pflanzen umher!
Wie durch’s Gebüsch
Die Winde so frisch!
Wie laut im hellen Sonnenstrahl
Die süßen Vöglein allzumal!

Ach, aber da,
Wo Liebchen ich sah,
Im Kämmerlein,
So nieder und klein,
So rings bedeckt,
Der Sonne versteckt,
Wo blieb die Erde weit und breit
Mit aller ihrer Herrlichkeit!

Blumenpracht und Früchte in AlbinZ Garten

Gotthold Ephraim Lessing: Der Sommer

Brüder! lobt die Sommerszeit!
Ja, dich, Sommer, will ich loben!
Wer nur deine Munterkeit,
Deine bunte Pracht erhoben,
Dem ist wahrlich, dem ist nur,
Nur dein halbes Lob gelungen,
Hätt er auch, wie Brocks, gesungen,
Brocks, der Liebling der Natur.

Hör ein größer Lob von mir,
Sommer! ohne stolz zu werden.
Brennst du mich, so dank ichs dir,
Daß ich bei des Strahls Beschwerden,
Bei der durstgen Mattigkeit,
Lechzend nach dem Weine frage,
Und gekühlt den Brüdern sage:

Brüder! lobt die durstge Zeit!

Im Sinne von Lessing also Brüder! lobt die Sommerszeit! Brüder! lobt die durstge Zeit! Dann Prost!!!

Fußball in der Literatur: Das Runde muss ins Eckige

    „Inmitten gewalt’gen Gestöhnes
    verschoss den Elfmeter der Hoeneß.
    Das Spiel ist verloren …
    Mit hängenden Ohren
    betrachtet der Trainer, Herr Schön, es!“

    Annemarie Schimmel zum katastrophale Fehlschuss des Uli Hoeneß (zz. in Haft) im Europameisterschaftsendspiel 1976

So langsam kommt die Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien in die entscheidende Phase. Daher wie angekündigt heute etwas zum Thema Fußball in der Literatur.

Fußball wird allgemein als „schönste Nebensache der Welt“ betrachtet (sieht man einmal vom Sex ab). Aber längst weiß der Kundige, dass Fußball viel mehr ist, dass es Lebensphilosophie ist und als solches „Sinnbild für das Ungewisse, für das Glück und die Zukunft“ (Peter Handke).

In einem anderen Beitrag habe ich uns schon etwas ausführlicher mit den Lebensweisheiten fußballspielender Mitmenschen bekannt gemacht. Ein Beispiel mustergültiger Klarheit des Denkens gibt uns die Lösung des Problems der Quadratur des Kreises. Zwar behaupten Mathematiker, dass eine Lösung unmöglich sei, aber der frühere Reichs- und Bundestrainer Sepp Herberger wusste die Antwort: Das Runde muss ins Eckige! Welcher Scharfsinn, welche Stringenz! Da ist Einsteins Äquivalenz von Masse und Energie (kurz: E=mc2) ein Dreck dagegen.

    Quadratur des Kreises (‚Das Runde muss ins Eckige’)

Schriftsteller, davon geht man fälschlicherweise aus, haben keinen Sinn für Fußball. Hier und heute werde ich das Gegenteil beweisen. Von Albert Camus, von dem ich hier schon öfter berichtet habe, wissen wir, dass er in jungen Jahren Torwart beim Fußballverein Racing Universitaire d’Alger, immerhin mehrmals Meister in den französischen Gebieten Nordafrikas, war. Ein Philosoph also sogar als Aktiver. Aber eigentlich sind Philosophen weniger Fußballspieler – eher umgekehrt.

Dann gibt es natürlich auch Schriftsteller, die zumindest in jungen Jahren große Begeisterung fürs Fußballspiel zeigten: der kleine Max Frisch wollte als Erwachsener unbedingt Fußballtorwart werden (Quelle: xlibris.de – schon wieder Torwart, dabei gab es damals noch keinen Manuel Neuer, der Vorbild hätte sein können).

Aber auch genügend eher unsportliche Schriftsteller haben sich der Faszination des Rasenballsports nicht immer entziehen können. Ich will hier nicht zu sehr in die Tiefe (des Raums) gehen. Das Goethe-Institut hat sich bereits vor einiger Zeit der deutschsprachige Fußballliteratur angenommen und diverse Buchempfehlungen herausgebracht.

    Einsam stand der Dichter im Tor: Fußball und Literatur – von Joachim Ringelnatz bis Nick Hornby

Aus der gleichen Zeit stammt ein Manuskript zu einem Feature von Rainer Moritz mit dem Titel Einsam stand der Dichter im Tor: Fußball und Literatur – von Joachim Ringelnatz bis Nick Hornby:

Passt der runde Ball ins Eckige, ins Buch? Oder sind Sport und Literatur generell, wie Marcel Reich-Ranicki mutmaßte, „feindliche Brüder“?

Als der Fußball in den 1920er Jahren rasant an Popularität gewann, begann sich auch die Literatur mit diesem Massenphänomen auseinander zu setzen – mal mit kritischem Witz wie in Joachim Ringelnatz Fußball (nebst Abart und Ausartung), mal mit spätexpressionistischer Angriffslust wie in Melchior Vischers Theaterstück Fußballspieler und Indianer.

Das Feature verfolgt das Sprechen (und mitunter das Singen) über Fußball, lässt Lyriker wie Friedrich Torberg, Ror Wolf oder Matthias Politycki zu Wort kommen, zitiert aus Prosaglanzstücken von Eduardo Galeano, Vladimir Nabokov, Erich Loest oder Nick Hornby, zeigt die Poesie großer Rundfunkreportagen und scheut sich nicht, analytische Betrachtungen von philosophischer, psychologischer und theologischer Seite ins (Spiel-)Feld zu führen.

Und das Gute daran ist, das Ganze lässt sich als PDF Einsam stand der Dichter im Tor herunterladen und nachlesen.

Der als Motto vorangestellte Limerick entstammt diesem 32-seitigen Text, der sich gern und gut zwischen zwei Halbzeiten und vor der nächsten Verlängerung lesen lässt. Übrigens: Selbst ein Nobelpreisträger wie Günter Grass war in jungen Jahren nicht davor gefeit, das Fußballgeschehen mit bedeutungsschwangeren Versen zu überhöhen, etwa in seinem 1955 erschienenen Gedicht „Nächtliches Stadion“:

Langsam ging der Fußball am Himmel auf.
Nun sah man, dass die Tribüne besetzt war.
Einsam stand der Dichter im Tor,
doch der Schiedsrichter pfiff: Abseits.

Nun ja, Herr Grass … Herr Handke ist bereits erwähnt worden. Der Titel seiner Erzählung Die Angst des Torwarts beim Elfmeter (ist von Wim Wenders auch verfilmt worden) wurde im Fußballsport zum geflügelten Wort, jedoch immer mit dem Zusatz versehen, dass es in Wahrheit eher der Schütze ist, der beim Schießen eines Elfmeters Angst verspürt. Also auf zum nächsten Elfmeterschießen.

Natürlich kann man das Thema auch googeln (Fußball Literatur) und bei Amazon zu dem Thema Fußball in der Literatur stöbern.

Heute Ruhetag (51): Helmut Wördemann – Der ermordete Fußball

Nun heute und morgen finden bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien die vier Spiele des Viertelfinals statt, also von Ruhetag kann nicht die Rede sein. Trotzdem oder gerade deshalb möchte ich hier eine kleine Fabel von einem gewissen Herrn Helmut Wördemann zum Besten geben, die sich um jenes Sportgerät dreht, um das in diesen Tagen soviel Aufsehens gemacht wird. Dass dieser Fußball hier von einem rostigen Nagel gemeuchelt wird, geschieht ihm ganz recht.

Fußball am Strand (Copacabana)

Diese kleine Fabel mag also zur Entspannung nach spannenden Spielen dienen. Viel Spaß beim Lesen! Zum Thema Fußball und Literatur vielleicht an einem der nächsten Tagen noch etwas mehr …

Heute Ruhetag = Lesetag!

Der ermordete Fußball

Es war einmal ein Fußball, der war rundum glücklich, wenn er auf’s Feld geworfen und von 22 Spielern hin und her getreten wurde. Er stieg und fiel, tanzte über den Rasen, rutschte quietschend von einem Fuß zum anderen, gab sich selbst einen jauchzenden Drall, wenn er seinen Flug stabilisieren wollte. Kurzum, er nutzte seine Kugelform aus, um auf der Erde und in der Luft umherzutollen und sich auszutoben.

Dass er von den mehr oder weniger geschickten Tritten und gelegentlichen Handwürfen der Spieler abhängig war, störte ihn nicht im geringsten.

»Ich habe doch keinen Antriebsmotor im Leib,« erklärte er keuchend, wenn sich jemand über seinen blinden Gehorsam wunderte, »ich bin doch auf die Kraft anderer angewiesen. Wenn ich nicht tue, was sie wollen, bleibe ich im Schrank liegen oder komme auf den Müll. Neinnein, das ist schon in Ordnung so.« Mit keck zur Seite rollenden Augen fügte er manchmal hinzu:»Und wenn ich ausbrechen will, finde ich schon einen Dreh und fliege kurz oder lang ins Aus. Aber das lohnt sich kaum, da ich ja ununterbrochen gebraucht werde. Tjaaa, es gibt viele Fußbälle, aber in einem Spiel wird immer nur einer geduldet.«

In diesen wunderbaren Ball, der Himmel und Erde zu beherrschen schien, verliebte sich ein kläglicher Nagel, ein Nichtsnutz, der sich halb aus seinem Arbeitsplatz im Torbalken gelöst hatte, um den Spielen zusehen zu können. Dafür nahm er gerne in Kauf, dass er in der wechselhaften Witterung schnell zu rosten begann. Ja, nachdem er sich in den Fußball verliebt hatte, war er sogar froh darüber, denn der Ball war ja auch dauernd dreckig.

Bei jedem Spiel starrte der Nagel erwartungsvoll auf die Torjäger.Er hoffte aber nicht etwa, dass ein Tor fiel. Er lauerte vielmehr auf die Fehlschüsse, auf einen ganz bestimmten Fehlschuss, auf den für ihn einzig interessanten Schuss, auf den Schuss, der ihm den Ball zuspielte.

Eines Tages, nach unendlich langer Wartezeit, geschah dann das Wunder seines kränkelnden Lebens: Der Ball traf ihn mit voller Wucht. Und er durchbohrte ihn mit der ganzen Leidenschaft seiner Liebe.

»Der ist hin,« sagte der Linienrichter zu einem Jungen, »hol‘ einen neuen Ball. Und bring‘ auch gleich den Platzwart mit, der soll den Nagel entfernen!«

»Warum hast du das getan?« fragte Bläschen murmelnd der Fußball, als er im Abfalleimer neben dem Nagel lag.

»Ich liebte dich,« stammelte der Nagel, »ich konnte ja nicht wissen, dass du so empfindlich bist. Um ehrlich zu sein, so zusammengeknautscht gefällst du mir gar nicht mehr. Ich hab‘ mich in dir getäuscht. Du bist ein Windbeutel, sonst gar nichts.«

Der Fußball stöhnte tief und weh auf und hauchte sterbend seine letzten Worte:

»Wer nicht mit mir umgehen kann, wie soll der mich verstehen? Wenn doch solche Geschöpfe ihre dummdreiste Nase nicht in anderer Leute Angelegenheiten steckten. Wäre er doch geblieben, wo er hingehörte! Der Kerl hätte sich in seinen Balken verlieben sollen, das wäre eine dauerhafte und glückliche Ehe gewesen. Ach, ich habe mich immer gerne mit Füßen treten lassen, warum muss so ein kleiner Nagel mich kaputtmachen? Was für ein Leben! Was für ein Tod!«

Helmut Wördemann: 100 Fabeln

Anthony Burgess: 1985

    […], daß die zwölf Apostel die erste Gewerkschaft gewesen seien, daß Christus für das Prinzip der Koalitionsfreiheit den Tod erlitten habe, und daß das Königreich des Himmels eine proletarische Demokratie bedeute. (S. 245 f.)

„1984“ hieß der Welterfolg von George Orwell, eine düstere Zukunftsvision, in der sich drei totalitäre Staaten die Macht auf Erden teilten und entwürdigende Praktiken schufen, um den Bürger zu entmündigen und total zu überwachen, jede freiheitliche Regung im Keim zu ersticken.
1984 wird ganz anders sein, behauptet Anthony Burgess und geht mit George Orwell ins Gericht. Er weist ihm nach, daß dieses 1948 unter dem unmittelbaren Eindruck des Zweiten Weltkrieges und der Stalin-Ära entstandene Werk sehr kurzsichtig war und eine Zukunft an die Wand malte, die (gottlob!) nie eine Chance hatte, Wirklichkeit zu werden, weil sich seit 1945 ganz andere Entwicklungen abzeichneten.
„1985“ nennt Burgess seinen eigenen „kakotopischen’ Entwurf, seine Utopie unter schlechtesten Vorzeichen. Die Gewerkschaften haben die Macht im Staate und unterdrücken allen Individualismus. Arbeiter-Englisch gilt als Hochsprache, Bill, der symbolische Arbeiter, prangt an allen Wänden. Colonel Lawrence mit seiner Streikbrecherarmee „Freie Briten“ ist allgegenwärtig. König Charles regiert huldvoll seine Fish-and-chips essenden Untertanen – und ganz England gehört längst den Ölscheichs.
Eine brillante und bitterböse Satire auf die Trends der Gegenwart im Stil seiner Romane „Clockwork Orange“ und dem Nachfolgeband „The Clockwork Testament“.

(aus dem Klappentext)

    Anthony Burgess: 1985

In dem Film Inside Llewyn Davis der Coen-Brüder kehrt der Titelheld Anfang der 1960-er Jahre, nachdem ein Vorspielen bei einem bekannten Musikproduzenten erfolglos verlief, zurück nach New York und meldet sich bei der Matrosen-Gewerkschaft der Handelsmarine. Er bezahlt ausstehende Beiträge mit seinem letzten Geld, um wieder in See stechen zu können. Allerdings muss er dafür seine Lizenz vorlegen. Seine Schwester hat er aber seine alten Unterlagen wegwerfen lassen. Das Geld für eine neue Lizenz hat Davis nicht. Ohne Nachweis keinen Job. Das ist, was Burgess meint. Besonders in den USA (auf der britischen Insel war es bis 1980 ähnlich) bekam man keine Arbeit ohne Mitgliedschaft bei der entsprechenden Gewerkschaft.

Was Burgess nicht ahnen konnte: Ein Jahr nach dem Erscheinen des Buchs 1978 kam Margaret Thatcher an die Macht und unterband sehr bald jegliche Tendenz zum Syndikalismus, wie ihn Burgess befürchtete.

Ich habe das Buch 1985, das sich zunächst mit Orwells Roman „1984“ in Essays und Interviews auseinandersetzt, dann den eigentlichen Roman enthält als Heyne-Buch Nr, 5981 – Wilhelm Heyne Verlag, München, 1982 – Deutsche Übersetzung von Walter Brumm (Original: 1985) vorliegen.

Inhalt:

Erster Teil
1984 – ein kritischer Essay
– Katechismus
– Absichten
– 1948: Gespräch mit einem alten Mann
– Engsoz ins Auge gefaßt
– Kakotopia
– Staat und Superstaat: Ein Gespräch
– Bakunins Kinder
– Uhrwerk-Orangen
– Der Tod der Liebe

Zweiter Teil
1985 – ein Roman
– 1. Das Julnachtsfeuer
– 2. Tucland das Prächtige
– 3. Du warst im Fernsehen
– 4. Aus
– 5. Kultur und Anarchie
– 6. Freie Briten
– 7. Ertappt
– 8. Das Gerichtsurteil
– 9. Eine Schau von Metall
– 10. Zwei Welten
– 11. Eine Aufwallung von Uneinigkeit
– 12. Die geballte Faust des Arbeiters
– 13. Ein Fehler im System
– 14. Mein Leben und mein Gut
– 15. Ein Bewunderer von Engländerinnen
– 16. Streiktagebuch
– 17. Seine Majestät
– 18. Auf Lebenszeit

Epilog – ein Interview

Zu Beginn des Romans verliert der Protagonist Bev Jones seine Frau – sie war im Krankenhaus, als ein Brand ausbrach. Weil die Gewerkschaft der Feuerwehr streikte (was in Großbritannien 1977 tatsächlich das erste Mal geschah), brannte das Krankenhaus nieder. Bev muss sich nun alleine um seine Tochter Bessie kümmern, die geistig behindert ist und die Realität nicht von der Fantasie unterscheiden kann, weil ihre Mutter während der Schwangerschaft ein Contergan-ähnliches Medikament genommen hatte.

Der Tod seiner Frau löst in Bev eine tiefe Feindschaft gegen das System der Gewerkschaften aus, nachdem er früher bereits seine Beschäftigung als Dozent für Geschichte verloren hat – die Regierung legt mehr Wert auf „praktische“ Erziehung.

Eines Tages geht er zu seiner neuen Arbeit (als Konditor), obwohl seine Gewerkschaft im Streik ist. Daraufhin wird er aus der Gewerkschaft geworfen, womit er effektiv nicht einstellbar wird. Da er weiß, dass er seine Wohnung verlieren wird, gibt er Bessie in eine staatliche Einrichtung.

Bev selbst wird eine Art Stadtstreicher in London und schließt sich einer Gruppe von Leidensgenossen an, die sich durch Ladendiebstahl über Wasser hält. Er wird aufgegriffen und landet in einem staatlichen Umerziehungszentrum, einer Mischung aus Gefängnis und Psychiatrie. Hier wird er gezwungen, Propaganda zu konsumieren (ähnlich wie der Protagonist von Uhrwerk Orange). Trotzdem lässt er sich nicht überzeugen und wird nach Verbüßung seiner Strafe entlassen. […] (Quelle: de.wikipedia.org)

„Kapital ist nicht Geld. Kapital, das sind Ressourcen, das ist Energie, der Wille zu schaffen. Geld ist nichts.“
„Interessant“, strahlte Bev zurück. „Geld ist nichts, und doch ist es das einzigste, was die Arbeiter interessiert.“
„Tauschen Sie es gegen das Wort Konsum aus“, sagte Pettigrew, „und Sie haben alles gesagt, was über das äußere Leben gesagt werden muß. […]“
„Konsum“, sagte Bev bitter, „und was für ein Konsum! Farbfernsehen und denaturiertes Essen ohne Geschmack oder Nährwert, verdummende Fetzen, die sich Zeitungen nennen und Nachrichten durch nackte Mädchen ersetzen, Schmierenkomödianten in Arbeiterclubs, minderwertige, schlecht verarbeitete Möbel und Kühlschränke, die defekt werden, weil niemanden mehr daran liegt, anständige Arbeit zu leisten […]“.

„[…] Keine Kunst, kein Denken, kein Glaube, kein Patriotismus …“
„Mein lieber Bev“, sagte Mr. Fowler, „Sie vergessen eine sehr einfache Wahrheit. Nämlich die, daß die modernen Herstellungsverfahren weder Freude an der Arbeit noch Stolz darauf zulassen. Der Arbeitstag ist ein Fegefeuer, und der Arbeiter, der sich ihm unterwirft, will dafür gut bezahlt sein, in Geld und in Annehmlichkeiten. Der wahre Tag beginnt, wenn der Arbeitstag um ist. Arbeit ist eine üble Notwendigkeit.“ (S. 251 f.)

Das erinnert mich einwenig an Aldous Huxleys Schöne neue Welt und an Neil Postmans Buch Wir amüsieren uns zu Tode. Vor lauter Streiks wird kaum noch gearbeitet. Und was produziert wird ist ‚Raumsch’. Zudem steigen die Preise andauernd, was zu neuen Lohnforderungen führt, die durch Streiks eingefordert werden. Ein Teufelskreislauf

Nun Burgess’ Roman wurde sehr schnell von der Wirklichkeit widerlegt. Die ‚eiserne Lady’ regierte vom Mai 1979 an und kreierte eine Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik, die bald ihren Namen trug: Thatcherismus. Und nach dem Fall des eisernen Vorhangs ist es heute nicht der Syndikalismus, sondern der pure Kapitalismus, der den Ton angibt. Die Gewerkschaften haben heute wesentlich an Einfluss verloren.

Immerhin in einem hatte Burgess Recht: der zunehmende Einfluss der Ölscheichs. Es genügt nicht, dass z.B. katarische Ölscheichs Fußballvereine aufkaufen, sich die übernächste Fußball-Weltmeisterschaft ins eigene Land holen, nein, sie investieren ihr ansonsten brachliegendes Geld in Wirtschaftsunternehmen und Banken (wie zuletzt bei der Deutschen Bank).

Nach der Lektüre von Huxleys „Schöne neue Welt“, Orwells „1984“ und jetzt Burgess’ „1985“ fragt es sich, was von diesen Kakotopien Wirklichkeit geworden ist. Es ist sicherlich eine Mischung von den dreien: Zum einen liegt uns eine ‚schöne neue Welt’ zu Füßen, in der wir uns ‚zu Tode amüsieren’ dürfen. Unser ‚Große Bruder’ geht allerdings etwas diskreter, dezenter vor bei unserer Überwachung. Zum anderen fließen unentwegt die Milliarden der Ölscheichs in unsere Wirtschaft. Damit nimmt nach und nach auch deren Einfluss zu. Wohin das führt, lässt sich nur erahnen …

Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

In meinem Beitrag Idylle & Kitsch bin ich einmal kurz in die Gedankenwelt des Milan Kundera eingetaucht. Kundera ist 1929 als Sohn eines Konservatoriums-Professors in der Tschechoslowakei geboren, war Mitglied der kommunistischen Partei – wie viele seiner Altersgenossen auch. Und wie viele andere Künstler so war er in den 1950er Jahren und zu Beginn der 60er noch ziemlich angepasst. Das Jahr 1967 wurde für ihn dann aber zum Wendepunkt. Kundera erwuchs zu einer der „Galionsfiguren“ des Prager Frühlings, einer Bewegung, die sich gegen das politische System auflehnte und künstlerische Freiheit forderte, und die im Frühjahr 1968 einen Liberalisierungs- und Demokratisierungsprozess unter Alexander Dubček einleitete.

Der Einmarsch der sowjetischen Truppen 1968 beendete schlagartig den Prager Frühling und die damit verbundene Phase der Presse- und Kulturfreiheit in der Tschechoslowakei. Der Stalinismus kehrte in Reinform zurück. Kunderas Lehrtätigkeit an der Filmhochschule wurde eingestellt, seine Bücher aus Bibliotheken entfernt und nicht mehr verlegt.

1975 emigrierte Kundera nach Frankreich und lebt in Paris. 1984 kam der Roman heraus, der ihn international bekannt machte: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins (Nesnesitelná lehkost bytí) Ich habe das Buch als Fischer Taschenbuch 5992 (Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, April 1987 – 311. – 410. Tausend: Februar 1988 – aus dem Tschechischen von Susanna Roth) vorliegen. Dieser Roman spielt in der kommunistischen Tschechoslowakei; dem totalitären System wird hier in wundervoller Weise die Liebe entgegengehalten.

    Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Während des Kalten Kriegs lernt der erfolgreiche Prager Chirurg Tomas die Serviererin Teresa kennen. Sie beginnen eine lebenslange Beziehung, die unter Tomas‘ ständigen Affären leidet. Teresa ist sich völlig bewusst, dass sie beide ein unterschiedliches Verständnis von Liebe und Sexualität haben. Daher stellt sie Tomas lange Zeit nicht zur Rede, sondern erträgt sein Verhalten.

Während des Prager Frühlings beginnt Teresa als Fotoreporterin zu arbeiten. Doch nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts, der die tschechoslowakische Reformpolitik unter Alexander Dubček beendet, fliehen Teresa und Tomas in die Schweiz. Dort findet Tomas rasch Arbeit als Chirurg und erneuert sein altes Verhältnis zu der Malerin Sabina. Teresa dagegen tut sich schwer mit dem Leben im freien Westen, mit der „unerträglichen Leichtigkeit des Seins“.

Sie flieht vor Tomas und seinen Affären zurück in die Tschechoslowakei. Tomas folgt ihr aus Liebe nach Prag, gerät dort aber bald mit der neuen Parteilinie in Konflikt, da er sich weigert, einen während des Prager Frühlings verfassten Zeitungsartikel zu widerrufen. Er wird gezwungen, seine Karriere als Chirurg aufzugeben, und lernt als Fensterputzer eine neue Auffassung von Arbeit kennen. Da Teresa Tomas‘ Affären und die bedrückende Atmosphäre von Bespitzelung und Verrat in Prag nicht mehr erträgt, zieht das Paar in ein kleines, abgelegenes Dorf in Böhmen, wo es in einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft arbeitet und zur Ruhe kommt.

Quelle:de.wikipedia.de

Inhalt
Erster Teil: Das Leichte und das Schiere [Tomas]
Zweiter Teil. Körper und Seele [Teresa]
Dritter Teil. Unverstandene Wörter [Sabina]
Vierter Teil: Körper und Seele [Teresa II]
Fünfter Teil: Das Leichte und das Schwere [Tomas II]
Sechster Teil: Der große Marsch [Franz]
Siebter Teil: Das Lächeln Karinins [Teresa & Tomas]

Über dieses Buch: Das Datum ist bestimmbar. Als im Frühjahr 1984 die Originalausgabe des Romans ‚Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins’ in Paris erschien, war dem Autor Milan Kundera etwas gelungen, was seinen nach 1968 exilierten Landsleuten und Kollegen verwehrt blieb: er hatte den großen Durchbruch geschafft. Seit damals ist Kundera wohl der international bekannteste tschechisch schreibende Autor seit Jaroslav Hašek. Die ‚New York Times’, ein rarer Sonderfall, widmete diesem Roman gleich zwei hymnische Rezensionen und schickte noch ein Interview mit dem Autor hinterher. Gesprächspartner war Philip Roth. Aber auch in den anderen tonangebenden Blättern der westlichen Hemisphäre löste ‚Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins’ Begeisterung aus. Die verschlungene, mehrfach gebrochene Liebesgeschichte zwischen Tomas und Teresa gibt den Rahmen ab für einen der witzigsten und intelligentesten Romane der vergangenen Jahre, der zugleich Leselust und höchste intellektuelle Ansprüche befriedigt. ‚Wann werden wir endlich einen deutschen Roman erhalten’, fragte die ‚FAZ’, ‚der sich so einfühlsam und nachdenklich mit Liebe und Sexualität befaßt und der das Individuum vor dem Hintergrund des Lebens hier und heute zeigt? Ein Roman, der überdies so intelligent und souverän, so lesbar und so unterhaltsam wäre?’
(aus dem Klappentext)

Tomas sagte sich: „Mit einer Frau schlafen und mit einer Frau einschlafen sind nicht nur zwei verschiedene, sondern geradezu gegensätzliche Leidenschaften. Liebe äußert sich nicht im Verlangen nach dem Liebesakt (dieses Verlangen betrifft unzählige Frauen), sondern im Verlangen nach dem gemeinsamen Schlaf (dieses Verlangen betrifft nur eine einzige Frau).“ (S. 18)

Als ich den Roman 1988 zum ersten Mal las, irritierte mich die Ansicht Tomas’, „daß Liebe und Sex nichts miteinander zu tun hätten.“ (S. 146). Sex ohne Liebe – irgendwie konnte ich mir das nicht vorstellen. Heute hat sich diese Ansicht für mich sicherlich etwas relativiert, obwohl ich weiterhin Sex nicht des Sex’ wegen haben möchte. Tomas unterscheidet, nein, er trennt zwischen dem Bedürfnis nach Sex – und der Liebe zu einer Frau. Er liebt Teresa und erkennt, „… daß die Treue die höchste aller Tugenden sei. Die Treue gibt unserem Leben eine Einheit, ohne die es in tausend flüchtige Eindrücke zersplittert.“ (S. 88)

Kundera ist ein scharfer Beobachter der Liebenden: „Zwischen Liebenden entstehen rasch Spielregeln, derer sie sich nicht bewußt sind, die aber dennoch gelten, und die sie nicht übertreten dürfen.“ (S. 82) Das kann ein bestimmter Blick sein, eine Geste – eine Spielregel ist plötzlich verletzt. Ohne es eigentlich genau zu wissen, ist etwas wie Verunsicherung, Verwirrung im Spiel, vielleicht sogar Zweifel?

Aber der Roman ist nicht nur eine Liebesgeschichte. Immer wieder verquickt Kundera alltägliche Betrachtungen mit philosophischen Tiefsinn. Oder er beschreibt Empfindungen, die wir alle irgendwann kennen gelernt haben, aber deren Ursache uns nicht wirklich bewusst wurde – wie z.B. den Schwindel, der uns überfällt und den wir am Ende fast zu schnell wieder abgeschüttelt und damit vergessen haben:

„Was ist das, Schwindel? Angst vor dem Fall? Wieso überkommt uns dann Schwindel auch auf einem Aussichtsturm, der mit einem Geländer gesichert ist? Schwindel ist etwas anderes als Angst vor dem Fall. Schwindel bedeutet, daß uns die Tiefe anzieht und lockt, sie weckt in uns die Sehnsucht nach dem Fall, eine Sehnsucht, gegen die wir uns dann erschrocken wehren.“ (S. 59) … „Man könnte auch sagen, Schwindel sei Trunkenheit durch Schwäche. Man ist sich seiner Schwäche bewußt und will sich nicht gegen sie wehren, sondern sich ihr hingeben. Man ist trunken von der eigenen Schwäche, man möchte noch schwächer sein, man möchte mitten auf einem Platz vor allen Augen hinfallen, man möchte unten, noch tiefer als unten sein.“ (S. 74)

Kundera berührt viele Punkte in seinem Roman. So spielt die Hässlichkeit oder die Schönheit immer wieder eine Rolle, die Kundera in ein Verhältnis zur Zeit stellt. Bezogen auf die Zeit, in der sein Roman spielt, nennt Kundera diese „‚die historische Phase der totalen Häßlichkeit’: Die Totalität der Häßlichkeit äußerte sich zunächst als allgegenwärtige akustische Häßlichkeit: Autos, Motorräder, elektrische Gitarren, Preßluftbohrer, Lautsprecher, Sirenen. Die Allgegenwart der visuellen Häßlichkeit würde bald folgen.“ (S. 90) – Und sie ist längst gekommen: Schaufenster, Plakatanschläge – und immer wieder Videowände mit laufenden Bildern.

„Schönheit aus Irrtum. Bevor die Schönheit endgültig aus der Welt verschindet, wird sie noch eine Zeitlang aus Irrtum existieren. Die Schönheit aus Irrtum, das ist die letzte Phase in der Geschichte der Schönheit.“ (S. 98)

Kundera meint damit die Schönheit aus Zufall. Etwas ist nicht immer aus sich heraus schön. Der Zufall, wie z.B. das Verlaufen von verschiedenen Farben, lässt etwas Schönes entstehen. Aber im Grunde weiß einer der Protagonisten, „daß Schönheit eine verratene Welt ist. Man kann nur auf sie stoßen, wenn ihre Verfolger sie aus Versehen irgendwo vergessen haben.“ (S. 107)

Was wir haben und was wir vermissen würden, wenn wir es plötzlich nicht mehr haben: wir haben es in unserer allzu freien Welt nicht kennen gelernt. Kundera dagegen kennt das genau: „Die Kultur geht unter in der Menge, in Buchstabenlawinen, im Wahnwitz der Masse. Darum sage ich dir immer: ein einziges verbotenes Buch in deiner Heimat bedeutet unendlich viel mehr als die Milliarden von Wörtern, die an unseren Universitäten ausgespuckt werden.“ (S. 100)

Tomas, eine der Hauptfiguren, kann es eigentlich egal sein. Er ist ‚tiefer als unten’ angekommen. So würde es nichts ausmachen, die Petition, die vielleicht auch ihm helfen könnte, wieder in seinen wahren Beruf zurückzufinden, zu unterschreiben. Was hindert ihn also?: „Er war gar nicht sicher, richtig zu handeln, doch war er sicher, so zu handeln, wie er handeln wollte. Er sagte: ‚Seid mir nicht böse. Ich werde nicht unterschreiben.’“ (S. 211) – Es ist manchmal eine Empfindung, ein ‚Schwindel’, der uns leitet, so irrational dieser auch sein mag. Der Mensch besteht eben nicht nur aus ‚Kopf’, sondern auch aus ‚Bauch’. Und oft genug ist es der ‚Bauch’, der unser Leben bestimmt.

Vielleicht eine der Lehren aus diesem Roman, der auch heute noch, 30 Jahre nach dem ersten Erscheinen, wirklich lesenswert ist und zu den Klassikern der Moderne gerechnet wird.

Hier eine Leseprobe mit dem Anfang des Romans
siehe auch klassiker.blog.de und kundera.de

Idylle & Kitsch

Die Verbrüderung aller Menschen dieser Welt wird nur durch den Kitsch zu begründen sein.

Niemand weiß das besser als die Politiker. Ist ein Fotoapparat in der Nähe, stürzen sie sich sofort auf das erstbeste Kind, um es auf den Arm zu nehmen und auf die Wangen zu küssen. Der Kitsch ist das ästhetische Ideal aller Politiker, aller Parteien und aller politischen Bewegungen.

In einer Gesellschaft, in der verschiedene politische Richtungen nebeneinander existieren, deren Einfluß sich gegenseitig behindert und begrenzt, kann man der Inquisition durch den Kitsch noch entkommen; der einzelne kann seine Originalität wahren, der Künstler unerwartete Werke schaffen. Wo aber eine einzelne politische Bewegung alle Macht hat, befinden wir uns im Reich des totalitären Kitsches.

Sage ich totalitär, so bedeutet dies, daß alles, was den Kitsch beeinträchtigen könnte, aus dem Leben verbannt wird: jede Äußerung von Individualismus (jede Abweichung ist Spucke ins Gesicht der lächelnden Brüderlichkeit), jeder Skeptizismus (wer an Kleinigkeiten zu zweifeln beginnt, wird damit enden, das Leben an sich anzuzweifeln), jede Ironie (im Reiche des Kitsches ist alles unbedingt ernst zu nehmen), aber auch die Mutter, die ihre Familie verlassen hat oder der Mann, der die Männer den Frauen vorzieht und so die hochheilige Parole „Liebet und mehret euch“, in Frage stellt.

Unter diesem Gesichtspunkt kann man den sogenannten Gulag als Klärgrube betrachten, in die der totalitäre Kitsch seinen Abfall wirft. (S. 240 f.)

Bei der Vorstellung, die Welt des sowjetischen Kitsches könnte Wirklichkeit werden und sie [die Protagonistin des Romans] müßte darin leben, liefen ihr Schauer über den Rücken. Ohne einen Moment zu zögern, gäbe sie dem Leben in einem wirklich kommunistischen Regime den Vorzug, trotz all der Verfolgungen und Schlangen vor den Fleischereien. In einer wirklich kommunistischen Welt kann man leben. In der Welt des Wirklichkeit gewordenen kommunistischen Ideals, in dieser Welt der lächelnden Idioten, mit denen sie nie ein Wort hätte wechseln können, wäre sie binnen einer Woche vor Grauen gestorben (S. 242).

aus: Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins (Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, April 1987 – 5992 – 311. – 410. Tausend: Februar 1988 – aus dem Tschechischen von Susanna Roth)

    Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Milan Kundera widmet sich in seinem (auch heute noch) überaus lesenswerten Roman, der ebenso witzig wie geistreich ist, dem sozialistischen Ideal und sieht nichts anderes darin als propagiertes Idyll, ja Kitsch, totalitären Kitsch. Die Geschichte von Tomas und Teresa (bzw. von Sabina und Franz) spielt in Prag, der Hauptstadt der damaligen Tschechoslowakei, um die Zeit des Prager Frühlings, also vor und nach 1968. Es ist eine Liebesgeschichte, die von der damaligen Wirklichkeit in einem sozialistischen Land geprägt wurde.

Totalitäre Staaten neigen zu totalitären Kitsch. In sozialistischen Staaten offenbarte sich dieser als Sozialistischer Realismus, dem Versuch, der Kunst starke Wirklichkeitsnähe zu verleihen und auf Abstraktion und Ästhetisierung zu verzichten. Es ist nicht verwunderlich, wenn die Werke dieses Kunststiles derer des Nationalsozialismus sehr ähneln (bei den einen ist es der optimistisch nach vorn blickende Arbeiter, bei den anderen der Soldat, der Siegeswille ausstrahlt). Zu Kitsch verkommt so das ganze Leben, wenn kein Spielraum für Interpretationen bleibt, wenn Stereotype und Klischees jede Form der Originalität ablöst.

In einer Demokratie kann man lt. Kundera ‚der Inquisition durch den Kitsch noch entkommen’. Es gibt Auswege und Ausweichmöglichkeiten. Trotzdem ist auch hier der Kitsch allgegenwärtig, es ist ein alltäglicher Kitsch. Kitsch und Idylle sind die Rückzugsgebiete des Alltagsmenschen. Jeder schafft sich sein eigenes Idyll. Im Grunde ist der Kitsch (fast) jedermanns ästhetisches Ideal.

Und wenn dann noch Politiker die Bühne betreten (und sich am liebsten auch sofort auf das erstbeste Kind stürzen möchten), quillt der Saal über von Kitsch.

Kitsch lässt sich als Gemenge aus Euphemismen, Verharmlosungen, Vorurteilen, Klischees und Illusionen, Verlogenheit, Wirklichkeitsflucht und falscher Geborgenheit interpretieren. Viele Politiker erfüllen die ‚Kriterien’!

Zum Roman Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins später etwas mehr.

Juni lässt sein blaues Band …

Die unsägliche Sommerzeit haben wir ja schon längst (seit dem 30, März, also seit neun Wochen), jetzt sollte es endlich Sommer werden. Astronomisch beginnt der Sommer mit der Sommersonnenwende – dem Zeitpunkt, zu dem die Sonne senkrecht über dem Wendekreis der eigenen Erdhälfte steht und die Tage am längsten sind. Der Sommerbeginn ist auf unserer Nordhalbkugel in diesem Jahr am 21. Juni. Aber es gibt ja auch den meteorologischen Sommer, dem man bei uns die Monate Juni, Juli und August zuordnet. Danach beginnt also heute auf der Nordhalbkugel der meteorologische Sommer.

Einige schöne Sonnentage, auch Sommertage mit um die 30 ° C hatten wir ja bereits, aber was wir wohl alle wollen, ist ein Sonnensommer von längerer Dauer. Gerade heute nun (also am 1. Juni) soll es wirklich nicht so toll werden, bei bedecktem Himmel erstarrt die Quecksilbersäule bei gerade einmal gut 10 ° C. Schon die letzten Nächte kamen von der Temperatur dem Nullpunkt bei uns hier im Norden sehr nahe. Das erinnerte fast an die Eisheiligen (durchwachsen soll es weitergehen).

... blaues Band ...

Ja, das Wetter ist und bleibt ein beliebtes Wetter. Eines wissen wir aber gewiss, wir können daran nichts ändern. Wenn’s regnet, dann regnet es halt. Trotzdem beschwören wir gern das Wetter, wie z.B. Eduard Mörike, der zwar nicht (wie in der Überschrift verkündet) des Junis, sondern des Frühlings blaues Band flattern lässt (blauer, wolkenloser Himmel – was wollen wir mehr). Wenn dann die Luft auch noch wohltemperiert ist, dann mögen wir den Sommer genießen.

Heute Ruhetag (50): Klabund – Li Tai-pe

Li Tai-pe [Li Bai, auch Li Po] lebte in China von 699 bis 762 nach Christi Geburt. Als ewig trunkener, ewig heiliger Wanderer wandert er durch die chinesische Welt. Kunstsinnige Herrscher beriefen den erlauchten Vagabunden an ihren Hof, und oft genug erniedrigte und erhöhte sich der Kaiser zum Sekretär des Dichters: wenn Li Tai-pe nach einem Zechgelage ihm seine Verse im Morgengrauen in den Pinsel diktierte. Der Kaiser, der den Dichter und Menschen brüderlich liebte, machte ihn zum kaiserlichen Beamten, setzte ihm eine Rente aus und gab ihm als Zeichen seiner höchsten Gnade ein kaiserliches Prunkgewand zum Geschenk — für einen Chinesen damaliger Zeit die höchste Ehrung. Li Tai-pe schleifte das kaiserliche Gewand durch alle Gossen der Provinz und ließ sich an Abenden voll Trunkenheit als Kaiser huldigen. Oder er hielt, in des Kaisers Kleidern, rebellische Ansprachen an die Trinkkumpane und das herbeigelaufene Volk. Er starb im Rausch, indem er bei einer nächtlichen Bootfahrt aus dem Kahne fiel. Die Legende läßt ihn von einem Delphin erretten, der ihn, während in den Lüften engelhafte Geister ihn betreuen, aufs Meer hinaus und in die Weite der Unsterblichkeit entführt.

Sein Volk vergötterte ihn und errichtete ihm einen Tempel; der kunstreichste der chinesischen Lyriker wurde auch der volkstümlichste. Noch heute genießt er in China, dem klassischen Lande des Literatentums, ein Ansehen, wie es nicht einmal Goethe bei den Deutschen genießt. Während eifrige Kommentatoren fortgesetzt am Werke sind, seinen Versen spitzfindige, tiefsinnige und geistreiche Erklärungen unterzulegen, singen junge und alte Burschen seine unsterblichen Lieder auf den Straßen.

Nachwort zu den Nachdichtungen (geschrieben im März 1915 – diese beruhen nicht auf dem chinesischen Originaltext, sondern auf Übersetzungen): Du Fu an Li Tai-peKlabund

Zu Klabund selbst habe ich mich schon einmal hier im Zusammenhang mit seinem kleinen Roman Borgia geäußert. Klabund (”KLAbautermann und VagaBUND”) lebte von 1890 bis 1928 und hieß eigentlich Alfred Henschke.

Heute Ruhetag = Lesetag!

Im Frühling

Wenn Leben innerer Träume Widerschein –
Wozu sich an die blasse Stirne schlagen?
Berauschen will ich mich an allen Tagen
Und schlafe trunken vor den Säulen ein.

Die Wimpern heb ich auf – und bin erwacht.
Ein Vogel singt in blühenden Geweben.
Ich frage ihn, in welcher Zeit wir leben.
Er sagt: da Frühling Vögel singen macht.

Erschüttert bin ich: wenn ich weinen geh.
Ich gieß den Becher voll. Die Lippe trinkt.
Ich singe laut, bis Mond im Blauen blinkt.
Vergesse Mond und Lied und
Li Tai-pe.

Signatur: Klabund

Klabund: Li Tai-pe