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WilliZ Welt der Literatur

Zu Martin Walser (3): Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede

Für Martin Walser gibt es zwei Ebenen, um mit der Schuldfrage zu den Verbrechen des Nationalsozialismus umzugehen: „eine öffentlich-rechtliche des Meinens, zu der auch die juristische Aufarbeitung gehört, und eine innerlich-moralische, vor der die eigentliche Schuld verhandelt wird.“ (S. 372) – „Jeder Deutsche hat die ganze Geschichte geerbt und zu verantworten, damit also auch Auschwitz. Doch es gibt keine richtige Haltung gegenüber der Vergangenheit. Besonders grotesk fand Walser die Erfindung der ‚Vergangenheitsbewältigung’. Erst Auschwitz zu betreiben und dann als Rechtsnachfolger des NS-Staates Bewältigung auf die Tagesordnung zu setzen war geradezu anstößig. […] ‚Ein Rechtsnachfolger, der zahlt, organisiert, feiert, gedenkt, so gut er kann: das heißt, der hat einen Terminkalender, der bewältigt. Und wir? Wir lassen bewältigen. Wir alle.’“ (S. 373) Ich habe hier zitiert aus Jörg Magenaus Martin Walser-Biographie (Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, rororo 24772 – aktualisierte und erweiterte Neuausgabe, Oktober 2008).

    Jörg Magenau: Martin Walser - eine Biographie

Unter diesem Gesichtspunkt wird vielleicht Walsers Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels am 11. Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche, in der er eine „Instrumentalisierung des Holocaust“ ablehnte (Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede) begreifbar. Diese Rede wirbelte viel Staub auf. Walser wurde Antisemitismus vorgeworfen. Kurze Zeit später in seiner Rede zum Jahrestag des Novemberpogroms am 9. November 1998 nannte Ignatz Bubis, der (damalige) Vorsitzende des Zentralrates der Juden, Walser sogar einen „geistigen Brandstifter“. Sicherlich war die Rede „literarisch kompliziert“ und die Auseinandersetzung Walsers mit dem Thema „rational kontrovers bewertbar“: „Die nationalsozialistischen Verbrechen würden von einigen Leuten dazu missbraucht werden, den Deutschen weh zu tun oder gar politische Forderungen zu stützen. Auch fühle derjenige, der ständig diese Verbrechen thematisiert, sich den Mitmenschen moralisch überlegen. Der Themenkomplex Auschwitz dürfe aber nicht zur ‚Moralkeule’ verkommen, gerade wegen seiner großen Bedeutung.“ (Quelle: de.wikipedia.org).

Ignatz Bubis erregte sich besonders an Walsers „Wegschauen“. Nur meinte Walser mit Sicherheit mit „Wegschauen“ nicht ignorieren und vergessen. Es ist ein schamhaftes „Wegschauen“ im Gegensatz zum „Gaffen“, was in unserer heutigen Gesellschaft so gängig geworden ist. Walser in seiner Rede: „Wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, daß sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt. Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen. Ich möchte verstehen, warum in diesem Jahrzehnt die Vergangenheit präsentiert wird wie nie zuvor. Wenn ich merke, daß sich in mir etwas dagegen wehrt, versuche ich, die Vorhaltung unserer Schande auf die Motive hin abzuhören, und bin fast froh, wenn ich glaube entdecken zu können, dass öfter nicht das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken. Immer guten Zwecken, ehrenwerten. Aber doch Instrumentalisierung. […] Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität des Lippengebets […].“

Martin Walser betonte, hier seine subjektiv eigene, wenn man so will: private Denkweise wiedergegeben zu haben und plädierte allgemein für eine ‚subjektive’ Geschichtsauffassung. Wie können wir für uns allein „innerlich-moralisch“ Geschichte aufarbeiten, wenn nicht subjektiv geprägt. – Die nachstehende Kontroverse wurde zu einer Diskussion um politische Korrektheit. Ich denke, dass political correctness zu einem Mäntelchen werden kann, unter das manches versteckt wird. Eine offene Debatte ist sinnvoller. Im gewissen Sinne hat Walser diese mit seiner Rede angeregt, wenn auch mit für ihn nicht vorhersehbaren Folgen.

Ich möchte hier nicht weiter auf diese „Sonntagsrede“ eingehen. Die Rede selbst (Martin Walser – Dank: Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede) zusammen mit der Laudatio von Frank Schirrmacher – Laudatio: Sein Anteil findet sich im Internet als PDF-Datei bzw. als Text mit einigen Vorbemerkungen.

Wer nach „Martin Walser Sonntagsrede“ googlet wird erstaunt sein, wer sich da alles (ich ja auch) zu Wort gemeldet hat. Die Auseinandersetzung zwischen Walser und Bubis wurde zudem ausführlich von Frank Schirrmacher als Herausgeber in dem Buch Die Walser-Bubis-Debatte. Eine Dokumentation, Frankfurt am Main 1999 (Inhaltsverzeichnis als PDF) dokumentiert.

Hier nur einige Links im Netz, die sich mit der Rede Walsers bzw. mit der anschließenden Debatte befassen:

Der Streitverlauf in Stimmen und Zitaten
Kritik an Martin Walser
Martin Walsers (Un-)Friedenspreisrede – von Stefan Kühnen

Beängstigend finde ich, wie manche emotional auf die Walser-Rede überreagiert haben. So sah Ignatz Bubis sein Lebenswerk – die Versöhnung mit den Deutschen auf der Basis gemeinsamen Erinnerns an den Holocaust – als gescheitert an. Selbst der blanke Hass tritt da Walser entgegen, als Beispiel der Blog walserbashing. Jahre später hat es Martin Walser bereut, ein ‚Friedensangebot‘ von Ignatz Bubis nicht angenommen zu haben.

siehe auch:
Zu Martin Walser (1): Ich bin nicht Walser
Zu Martin Walser (2): Links und DKP-nah

Zu Martin Walser (2): Links und DKP-nah

In den 70er Jahren galt Martin Walser als Kommunist, zwanzig Jahre später dann fast schon als Nationalsozialist, zumindest als einer, der den Rechten zuspielt (so mit seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels am 11. Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche, in der er eine „Instrumentalisierung des Holocaust“ ablehnte). Wer viel schreibt und auch viel in der Öffentlichkeit sagt, bietet genügend Angriffsfläche.

Walser ist eloquent, in seinem Schreiben wortreich und ausdrucksvoll, geradezu wortgewaltig. Er lädt dazu ein, missverstanden zu werden. In seiner Beharrlichkeit, auf Begriffe zu bestehen, gelingt es ihm dann nicht immer, diese Missverständnisse auszuräumen.

Was mich lange stutzig gemacht hat, ist die nachgesagte Nähe Walsers zur Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Es galt als deren Sympathisant. Er war nach Moskau gereist, engagierte sich gegen den Vietnamkrieg und hatte keine ‚Skrupel’ – die ‚Krönung’ aus der Sicht konservativer Kreise -, auch in der UZ, der Zeitung der DKP zu publizieren.

War nun Walser ein Kommunist? Antwort erhoffte ich mir aus Jörg Magenaus Martin Walser-Biographie (Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, rororo 24772 – aktualisierte und erweiterte Neuausgabe, Oktober 2008).

    Jörg Magenau: Martin Walser - eine Biographie

Es ist nicht ganz leicht, ein halbwegs genaues Bild vom politischen Weg Walsers zu bekommen. 1969, als sich linke Intellektuelle (Günter Grass u. a.) für die Wahl von Willy Brandt zum Bundeskanzler einsetzten, empfahl Walser die ADF – Aktion Demokratischer Fortschritt, ein linkes Bündnis. Das sollte dann aber auch seine letzte Wahlempfehlung für eine linksgerichtete Partei sein. Die DKP lehnte er deshalb ab, weil sie von Ost-Berlin gesteuert und moskautreu war. Ihm fehlte (schon damals) das nationale Element. Walser schwebte dagegen ein demokratischer Sozialismus vor, wie er vor allem von den kommunistischen Parteien Italiens, Spaniens und Frankreichs vertreten wurde, dem so genannten Eurokommunismus; auf Walser bezogen könnte man seine Vorstellung auch einen ‚demokratischen Nationalkommunismus’ nennen.

„Neue Freunde bringen Rettung und Heilung. Mit ihnen erlernt er soziale Verhaltensweisen. Das kranke bürgerliche Individuum gesundet im kraftvollen Kollektiv der Genossen. Walser demonstriert an Gallistl [Die Gallistl’sche Krankheit, Roman 1972] die Einübung in den Sozialismus und tastet sich voran zu ‚Tonarten der Hoffnung’“, heißt auf Seite 301 der Biographie und weiter: „Die Erlösungshoffnung ist brüchig, aber sie besteht.“

Zum angesprochenen Roman schrieb Paul Konrad Kurz im Spiegel: Gesundung in der Partei?:

„Der Ich-Erzähler Josef Georg Gallistl beschreibt sein Krankheitsbild. Da die zu beschreibende Krankheit noch keinen Namen hat, leiht er ihr den eigenen. Gallistls Fall ist in Kürze dieser: Es ist ihm völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, Lust zu empfinden, Sinn zu erfahren, Zukunft vor sich zu sehen, menschliche Kontakte nicht der Lüge, die Gesellschaft nicht der Unmoralität zeihen zu müssen. Es ist die Krankheit des Intellektuellen, vorab des Schriftstellers in dieser Zeit und Gesellschaft. […]

Gallistls ‚Vorstellung von einer besseren Welt’ und dem ‚Leben einen Sinn geben’ mündet in die ‚Partei’. Die im Roman anvisierte sozialistische Idee meint nicht einen bereits vorhandenen Staatsmarxismus oder eine einfach übernehmbare Parteivorstellung. In der neuen Hier-und-Jetzt-Partei darf und muß man selber denken.“

Die Betonung liegt auf ‚selber denken’.

Um diese Art von Utopie zu verstehen, muss man den gesellschaftlich-politischen Hintergrund eingeziehen. 1968 wurden von der großen Koalition von CDU/CSU und SPD die Notstandsgesetze verabschiedet. 1972 erfolgte ein Beschluss der Regierungschefs der Bundesländer und Bundeskanzler Willy Brandts, der so genannte Radikalenerlass, der insbesondere auf die Deutsche Kommunistische Partei zielte.

Ähnlich wie es viele heute sehen, so sah Walser keinen wesentlichen Unterschied mehr zwischen den Konservativen und den Sozialdemokraten, zwischen CDU/CSU und SPD. Was damals die DKP war, findet sich heute vielleicht in der Linken wieder – eine Position links der verbürgerlichten SPD. Wählbar aber waren bzw. sind beide kaum. So muss eine eigene Alternative her, wenn auch nur eine vorstellbare.

Ich kann Martin Walser sehr gut verstehen. Seine so genannte Nähe zur DKP war eine Ausschau nach dieser Alternativen – spätestens mit dem Besuch eines internationalen Schriftstellerkongress 1971 in Moskau, war ihm bewusst, dass es diese Partei wohl nicht sein kann: „Auf das pathetische öffentliche Bekenntnis zum Sozialismus folgte dort postwendend die Ernüchterung. Der Besuch in Moskau war, so sagte er rückblickend, ‚Tödlich für jede Hoffnung.’“ (S. 295)

Als die Grünen gegründet wurden, sah Walser in ihnen eine mögliche Alternative. Heute hat sich seine Ansicht da sicherlich relativiert, auch wenn sein Lebensgefühl eigentlich grün ist, wie er sagt. Immerhin ist er von Winfried Kretschmann, Ministerpräsident Baden-Württembergs, ganz angetan.

In der Biographie auf S. 369 steht geschrieben: „Er bekennt, daß seine Meinungen von früher ihm fremd geworden sind. Oder genauer: Nicht die Meinungen sind ihm fremd, sondern das Meinen. Er ist immer weniger dazu in der Lage, die dafür erforderliche Eindeutigkeit und Entschiedenheit herzustellen. Er sieht, was er dafür alles weglassen muß, und entwickelt das Bedürfnis, nur noch das zu sagen, was ihn ganz enthält. Das ist seine neue Utopie: eine so umfassende Ausdrucksfähigkeit, daß kein ungesagter Rest zurückbleibt. Meinungen dagegen hinterlassen immer das Gefühl, etwas Wesentliches zu verschweigen: sich selbst.“

Wer das als mögliche politische ‚Trendwende’ versteht, liegt falsch. Walser ging es nie um Allgemeingültiges, um Öffentlichkeit, „deren Sprechen Gefahr läuft, zum Ritual zu verkommen“ (so heißt es nämlich weiter). Es geht ihm um sich selbst, Integrität oder wie immer man es nennen will. Sein Problem: Was er einmal gesagt (oder geschrieben) hat, bleibt beharrlich missverstanden, wenn es erst einmal missverstanden wurde. Die Worte lassen sich nicht mehr löschen (und das Ungesagte bleibt ungesagt), wohl auch nicht das Missverständnis ….

siehe auch: Zu Martin Walser (1): Ich bin nicht Walser

Kafkas Unterschrift

Alfred Dorn kennen wir aus Martin Walsers Roman Die Verteidigung der Kindheit. In diesem finden wir einen Samstag im Leben des Roman(un)helden beschrieben, der zunächst wie folgt abläuft:

Am Samstagvormittag holte er bei seinem Buchhändler die bestellte Kaspar-Hauser-Biographie ab, ging ins ESWE-Bad, aß Italienisch, fuhr heim.

Bei dem Bad handelt es sich übrigens um das heutige Freizeitbad Mainzer Straße in Wiesbaden (früher: ESWE-Bad). – In seiner Schulzeit zeigte Alfred Dorn ein besonderes Talent im Fälschen von Unterschriften. So verhalf er seinen Mitschülern zu manch gefälschter Elternunterschrift. Im Roman geht es wie folgt weiter:

… In der Buchhandlung hatte er einen Verlagsprospekt mitgenommen, in dem Kafkas Werke angeboten wurden. Ihn hatte die auf dem Prospekt faksimilierte Unterschrift Fran Kafkas angezogen. Zu Hause fing er an, diese Unterschrift zu üben. Wie das K unten ausschwingt, um die restlichen Buchstaben des Namens wie eine Schale aufzunehmen, dann aber vom f geschnitten wird und gleich aufhört! Er füllte viele Seiten mit diesen Unterschriftsübungen. Morgen würde er sehen, ob seine Hand ein einziges Mal in die Bewegung des Originals hineingefunden habe. Er fand die Unterschriften anderer interessanter, schreibenswerter als seine eigene. Er würde sich einmal dokumentieren als jemand, der nicht auf sich bestehen konnte.

    Kafkas Unterschrift – aus dem Verlagsprospekt

Und …

Dann Telephonate wie immer am Samstag.

aus: Martin Walser: Die Verteidigung der Kindheit
(Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main – st 2252– erste Auflage 1993 – S. 516)

Vor einem Jahr unternahm meine Frau mit ihrer Mutter einen Tagesausflug nach Graal-Müritz an der Ostsee. Kafka weilte vom Juni bis September 1923 (ein Jahr vor seinem Tod) mit seiner Schwester Elli in Müritz und lernte dort seine letzte Lebensgefährtin Dora Diamant kennen (siehe meinen Beitrag: Kafka lächelt mir traurig zu – aber er lächelt). Die kleine Kafka-Vitrine im Heimatmuseum von Graal-Müritz konnte sie zwar nicht besichtigen, aber immerhin brachte sie mir ein gezeichnetes Bildnis Kafkas – eben mit der erwähnten Unterschrift versehen – von der Tagestour mit. Das Bild hängt jetzt in meinem Zimmer.

    Kafka – Zeichnung aus Graal-Müritz/Ostsee

Martin Walser promovierte 1951 in Tübingen mit einer Dissertation zu Franz Kafka:
Beschreibung einer Form: Versuch über Kafka. Dabei mühte sich Walser erst gar nicht über eine Interpretation, Kafka näher zu kommen, sondern tastete sich (wie der Titel schon sagt) an Kafka über die Form heran, über die Untersuchung des Wortes „Schreiben“, wie Kafka seine Ausdrucksmöglichkeit nannte. Walser führt hin zu dem Bild, dass Kafka seine bürgerliche Person reduziert zu Gunsten der stetig wachsenden poetischen Person, Kafka sich selbst an den Schreiber Kafka abgibt und sich dort verwirklicht. Auch Walsers Leben ist geprägt vom ‚Schreiben’. Die (klein-)bürgerliche Person Martin Walser ist auch hier zur poetischen Person angewachsen. Beide, Kafka wie Walser, bevorzugen dabei das handschriftliche Schreiben (Walser: Ein handgeschriebener Brief ist noch in der sachlichsten Form eine Intimität.). Beide führten oder führen Notizbücher mit sich. So ist die Schrift für sich zum markanten Merkmal geworden (siehe auch: So schreiben wie Kafka), ein Fingerabdruck – im Gegensatz zu maschinell verfassten Texten. Schreiben als Schrift.

Zu Martin Walser (1): Ich bin nicht Walser

Die Eins hinter dem „Zu Martin Walser“ deutet es bereits an: Es kommt noch mehr … Martin Walser ist einer ‚meiner’ Autoren. Er ist der Schriftsteller, ich bin der Leser. Wer schreibt, verarbeitet seine Erfahrungen, wer liest wie ich, liest, um Erfahrungen zu machen. Und so stolpert man hin und wieder über einen Autoren, der einen auf besondere Weise anspricht. Das ist in vielerlei Weise Martin Walser für mich.

Warum jetzt und insbesondere Martin Walser? Ich lese zz. von Jörg Magenau Martin Walser: Eine Biographie (Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, rororo 24772 – aktualisierte und erweiterte Neuausgabe, Oktober 2008). „Eine Biographie ist eine Anmaßung.“ (S. 15) schreibt Jörg Magenau, besonders wenn es um einen noch lebenden Schriftsteller geht. Zum Biographiebegehren sagte Walser: „Was Sie da vorhaben, habe ich auch schon dreimal gemacht. Nur habe ich es immer ‚Roman’ genannt.“ Eine Biographie ist ein Puzzle aus vielen unzähligen Einzelteilen, die nicht immer zusammenzupassen scheinen. Und immer fehlen Teile. Trotzdem ist es kein Roman. „Nichts lässt sich erfinden, alles muß gefunden werden.“ (S. 15). Natürlich kann eine Biographie immer nur ein ‚Bild’ vieler möglicher Bilder sein.

    Jörg Magenau: Martin Walser - eine Biographie

Nach fast zwei Drittel des Buchs bin ich dankbar, dass es diese Biographie gibt. Sie gibt Aufschluss über einen Mann, der bereits 86 Jahre zählt und immer noch nicht am Ende ist – zu erzählen. Denn „Walser ist unentwegt damit beschäftigt, Leben in Sprache zu verwandeln. Was ihm zustößt, beantwortet er mit Literatur.“ (S. 15). „Sein Schreiben ist ein ‚Entblößungs-Verbergungs-Spiel.’ […] ‚Es muß raus, aber als Verborgenes. Verbergen heißt ja nicht verschweigen.’“ (S. 16).

Walser der ‚dröhnende Meinungsmacher’ und ‚Politprovokateur’„Ob ‚Gesellschaftskritiker’, ‚Kommunist’ oder ‚Nationalist’ – in jeder Phase der Bundesrepublik klebte ihm das jeweils schädlichste Etikett an.“ – „Diese wuchernden Augenbrauen! Diese alemannische Starrköpfigkeit! Dieser Schmerzensreiche, Wehleidige, Dauerbeleidigte! Dieser Geschichtsempfinder und Deutschlanderleider.“ (S. 18) – Und dann ist da noch der Bodensee, von dem sich Martin Walser nie hat lösen können. Ohne das „Schwäbisches Meer“ wären all die Romanfiguren von Anselm Kristlein bis hin zu Gottlieb Zürn nicht möglich.

Ich bin nicht Walser, betitele ich diesen Beitrag. Aber auch wenn ich viele Jahre jünger bin (wenn auch nicht mehr der Jüngste), so gibt es doch Anknüpfungspunkte, die mich mit Walser näher bringen. Die Adenauer-Jahre habe ich noch nicht bewusst erlebt. Dafür bin ich aber schon als Jugendlicher mit einem repressiven Staat in Berührung gekommen, als ich mich 1968 an den Straßenbahnunruhen in Bremen beteiligte. Die 68er-Bewegung der Studenten hatte auch meine Schule erreicht. Durch den Vietnam-Krieg und hier durch die deutsche Politik als Unterstützer der USA wandte sich Martin Walser politisch immer mehr nach links. So reiste Walser nach Moskau und galt in den sechziger und siebziger Jahren als Sympathisant der DKP, der er aber nie als Mitglied angehörte. Ein Punkt, auf den man näher eingehen sollte. Ich selbst hatte damals Kontakt zu linksgerichteten, so genannten Basisgruppen, wurde aber durch die Dogmatik, dem Glaubenseifer sehr schnell abgeschreckt. Ähnlich muss es Walser 1971 ergangen sein, als er in Moskau zu einem internationalen Schriftstellerkongress eingeladen war. „Auf das pathetische öffentliche Bekenntnis zum Sozialismus folgte dort postwendend die Ernüchterung. Der Besuch in Moskau war, so sagte er rückblickend, ‚Tödlich für jede Hoffnung.’“ (S. 295)

Walser gilt heute als Nationalist. Man sollte das nicht mit Chauvinismus und Ähnlichem verwechseln. In dem Buch heißt es zum Begriff der Nation: „Nichts Staatliches ist damit gemeint, kein Machtapparat, keine aufputschende Ideologie. Die Nation ist ein geschichtliches, sprachliches und kulturelles Zusammengehörigkeitsgebilde, dem man nicht entrinnen kann. Eine Schicksalsgemeinschaft, in die man durch Geburt gerät.“ (S. 287) – Hier finde ich mich ohne weiteres wieder. Das gilt insbesondere auch für die deutsche Sprache, die nun einmal meine Muttersprache ist. Ich habe keine Probleme damit, mich zu ihr zu bekennen und habe mich in diesem Blog mit ihr und ihren Ausformungen immer wieder auseinandergesetzt (siehe u.a. Wortschatz).

Als in Deutschland Geborener habe ich wie „jeder Deutsche … die ganze Geschichte geerbt und zu verantworten, damit also auch Auschwitz. Doch es gibt keine richtige Haltung gegenüber der Vergangenheit. Besonders grotesk fand Walser die Erfindung der ‚Vergangenheitsbewältigung’. Erst Auschwitz zu betreiben und dann als Rechtsnachfolger des NS-Staates Bewältigung auf die Tagesordnung zu setzen war geradezu anstößig. Seine vehemente Ablehnung von Gedenkritualen […] wird von hier aus begreiflich.“ (S. 373) – Dem brauche ich von meiner Seite aus nichts hinzuzufügen. Die Nazi-Vergangenheit nach dem Terminkalender zu bewältigen ist nicht genug. Wie lasch heute gegen Neonazis vorgegangen wird, verdeutlicht das.

Erwähnungswert ist ohne Zweifel Walsers Verbundenheit mit seiner Heimat. Es ist der Bodensee und es ist die Sprache, der Dialekt. „Gegen die Konjunktivkultur und die Konditionalfiligrane des Alemannischen, sagt Walser, ist das Hochdeutsche doch bloß eine Straßenwalze. Im Dialekt stimmten die Wörter. Sein Verlust – unausweichlich in einer kapitalistischen Ökonomie der Innovation – war eine ‚Vertreibung aus dem Paradies’ … Nicht nur Tierarten sterben aus, sondern auch Worte und mit ihnen Denkmöglichkeiten.“ (S. 359). In meiner Kindheit lebte ich rund drei Jahre in Pforzheim und lernte noch vor dem Hochdeutschen Schwäbisch, einen westoberdeutschen Dialekt bzw. einen Unterdialekt des Alemannischen. Leider ist davon, da ich mit knapp fünf Jahren nach Norddeutschland kam, nichts mehr geblieben.

So fehlt mir schon so etwas wie eine immerwährende Heimat und ich musste mich hier im Norden Deutschlands einrichten. Statt einer alemannischen Starrköpfigkeit ist es eben norddeutsche Sturheit, die mich geprägt hat.

Aber das sind nur einige Berührungs- bzw. Anknüpfungspunkte, die mich Walser so nahe halten. Es sind seine kleinbürgerlichen Helden, für die es nach Walsers Erkenntnis „kein Scheitern gibt, sondern immer nur eine Gesellschaft, die einzelne für gescheitert erklärt.“ (S. 130). Es sind seine Romane, „die sich von der Wirklichkeit nichts vormachen [lassen], sie mach[en] vielmehr der Wirklichkeit vor, wie die Wirklichkeit ist. Sie spiel[en] mit der Wirklichkeit …“ Und „es ist die Hoffnung des Verfassers, er sei Zeitgenosse genug, daß seine von der Wirklichkeit ermöglichten Erfindungen den oder jenen wie eigene Erfahrungen anmuten.“ (S. 135). – Mich muten Walsers literarische Erfindungen wirklich oft genug wie eigene Erfahrungen an.

Thomas Mann & Zauberberg’sche Redensarten

Komme ich heute noch einmal auf Thomas Manns Roman Der Zauberberg zu sprechen. Ich bin in diesem Roman über viele so genannte Redensarten gestolpert, die, obwohl der Roman inzwischen 89 Jahre auf dem Buckel hat, überraschend aktuell sind, d.h. wir verstehen auch heute noch (meist) die eigentliche Bedeutung, die sich hinter einem saloppen Spruch verbirgt. Ich deutet es als ein positives Zeichen, das belegt, dass unser Wortschatz sich eher vermehrt als abnimmt.

So wühlt man sich durch den deutschen Wortschatz

Ich habe mir die Mühe gemacht, viele dieser Redenarten zu sammeln und hier aufzuführen. Wer vielleicht den einen oder anderen Sinn dann doch nicht verstehen sollte, dem sei die Website redensarten-index.de anempfohlen, die vielleicht das ‚Rätsel’ löst. Hier nach einem Stichwort sortiert die gefundenen Redensarten (die Seitenzahl bezieht sich auf die Taschenbuchausgabe Band 800, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, hier – 193. – 212. Tausend: Februar 1980):

Stichwort – Redensart
Affe – mich laust der Affe (S. 269)
ahnen – Du ahnst es nicht! (S. 315)
alles – Sein ein und alles gewesen sei (S. 686)
Angst – Kann einem angst und bange werden (S. 392)
aufgebrummt – Aufgebrummt (S. 62)
Augen – Dem gehen die Augen über (S. 652)
ausgespien – Er-ledigt …. und ausgespien (S. 597)
Biegen – denn nun geht es auf Biegen und Brechen (S. 640)
Biegen – auf Biegen und Brechen gehe[n] (S. 737)
Binsen – Geht in die Binsen (S. 372)
Binsen – zum Kuckuck gehen, in die Binsen oder vor die Hunde (S. 442)
Blatt – Das unbeschriebene Blatt (S. 40)
Blaue – ins Blaue hinein (S. 628)
Bock – Einen Bock geschossen (S. 662)
Buch – Wie es im Buche stand (S. 512/ S. 524)
dick – Es so dicke hat (S. 432)
dick – Trage dick … auf (S. 664)
Dinge – Den Dingen ihren Lauf lassen (S. 731)
Ehre – Ehre und Misere (S. 729)
ewig – Ewig und drei Tage (S. 18)
Federlesen – Kein Federlesen machen (S. 681)
Fersengeld – Fersengeld geben (S. 463)
Finger – Nicht den kleinen Finger reichen (S. 64)
Finger – Da man dem Teufel nicht den kleinen Finger reichen darf, ohne daß er die ganze Hand nimmt und den ganzen Menschen dazu … (S. 105)
Flinte – Flinte ins Korn werfen (S. 262)
Fuß – auf guten Fuß mit ihm stellen [S. 632)
Fuß – auf Kriegsfuß gestellt (S. 264)
Gedanken – Einen Gedanken nachgehangen (S. 202)
gehen – Wie geht’s, wie steht’s? (S. 387)
Glocke – An die große Glocke gehängt (S. 439)
Gnade – Gnade vor Recht ergehen [lassen] (S. 704)
Gras – Ins Gras beißen (S. 235)
Grund – Er redet … in Grund und Boden (S. 312)
Gurken – Sauregurkenzeit (S. 671)
Haare – Die Haare zu Berge steigen (S. 466)
haben – Hast du was kannst du [was] (S. 262)
Hafer – Stach ihn der Haber [Hafer] (S. 599)
Haufen – Über den Haufen werfen (S. 731)
Hehl – Sich Zwang antun … ein Hehl [daraus] machen (S. 252)
Herzen – Aus seinem Herzen eine Mördergrube machen (S. 251)
Herzen – ist mir ein Stein vom Herzen gefallen (S. 643)
Höhe – Das ist die Höhe! (S. 315)
holterdiepolter – holterdiepolter, über Stock und Stein (S. 269)
holterdiepolter – es geht nachgerade holterdiepolter! (S. 606)
Hund – Kein Hund … vom Ofen locken (S. 731)
Hundert – Vom Hundertsten ins Tausendste kommen (S. 551)
Hut – Auf Ihrer Hut sein (S. 541)
Kauf – In Kauf genommen (S. 285)
Kauf – nahm das in Kauf (S. 290)
Kauf – [etwas] in den Kauf nehmen (S. 615)
Kauf – in den Kauf nehmen (S. 632)
Klipp – Klipp und klar gesagt (S. 262)
Kohlen – Saß wie auf Kohlen (S. 680)
Kopf – Gleich mit dem Kopf durch die Wand (S. 453)
Kopf – Hals über Kopf! (S. 463)
Leber – Was ist dir über die Leber gelaufen? (S. 250)
leibt – Wie sie leibt und lebt (S. 272)
Licht – In einem völlig neuen Lichte erscheinen lassen (S. 251)
Löffeln – Mit Löffeln gegessen (S. 200)
Löwe – Gut gebrüllt, Löwe (S. 236)
lumpen – Sich denn lumpen lassen (S. 214)
Mann – Selbst ist der Mann (S. 441)
Mann – Manns genug (S. 553)
Mark – daß es einem durch Mark und Pfennig geht (S. 617)
Mund – Redete nach dem Munde (S. 377)
Münze – Für bare Münze nehmen (S. 731)
Nase – Drehen [einem] eine Nase (S. 499)
nichts – Mir nichts, dir nichts (S. 60)
nichts – Nichts für ungut! (S. 445)
Ohr – Floh ins Ohr gesetzt (S. 555)
Ohr – Sich die Nacht um die Ohren schlagen (S. 603)
Ohr – Über beide Ohren verliebt sein (S. 613)
Palme – Die Palme glauben reichen zu sollen (S. 165)
Panier – Haben das Panier ergriffen (S. 159)
Pasche – Aus der Pasche ziehen (S. 600)
peinlich – Berührte ihn peinlich (S. 167)
Posten – Auf dem Posten sein (S. 696)
Pudel – wie ein begossener Pudel! (S. 641)
Qual – Tantalusqualen (S. 159)
Rechnung – darin Rechnung tragen (S. 615)
Rockschoß – Hängt sich den Leuten nicht an die Rockschöße (S. 558)
Roß – Vom hohen Roß herunter ( S. 561)
Rücken – [etwas] den Rücken kehren (S. 263)
Schicksal – Dem Schicksal in die Speichen fallen (S. 86)
Schmiede – Vor die rechte Schmiede kommen (S. 159)
Schrot – Von anderem Schrot und Korn (S. 558)
Schürchen – Hatte … am Schnürchen (S.110)
Schweiß – Im Schweiße seines Angesichts (S. 321)
Schwulität – In großen Schwulitäten (S. 653)
Spatzen – Daß der Himmel billig den Spatzen zu überlassen sein (S. 168)
Spatzen – Pfiffen die Spatzen es von den Dächern (S. 549)
Spitz – Sich leicht einen kleinen Spitz oder Zopf daran trinken (S. 610)
Spott – Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen (S. 651)
Stange – Bleibe gleich bei der Stange (S. 529)
Tag – Frisch mit dem jungen Tage (S. 42)
Tasche – daß er uns in die Tasche steckt? (S. 626)
Taubenfüße – Nicht auf Taubenfüßen, so auf Adlersschwingen kommen (S. 167)
Tee – Abwarten und Tee trinken (S. 233)
Teufel – In’s Teufels Namen (S. 488)
Wahrheit – Der Wahrheit ins Auge sehen (S. 316)
Wasser – Mit allen Wassern … gewaschen (S. 683)
Weg – Ein Weg, den wir zum ersten Male gehen, ist bedeutend länger als derselbe, wenn wir ihn schon kennen (S. 68)
Weg – ging seines Weges wie ein Mann (S. 617)
Wein – Ihnen reinen Wein einschenken (S. 643)
Wort – Das Wort vom Munde genommen (S. 323)
Würfel – Die Würfel fielen (S. 438)
X – Ein X für ein U [vor-]machen (S. 564)
Zahn – Fühle … ein bisschen auf den Zahn (S. 541)
Zügel – Die Zügel schießen lassen (S. 341)

Thomas Mann: Der Zauberberg

Martin Walser hält seinen Stil für manieriert und meint damit sicherlich das oft genug eitel Affektierte, Gekünstelte seiner Schreibweise. Etwas aufgeblasen war er schon in seinem Bildungsgroßbürgertum. Den „Doktor Faustus“ gab Walser sogar auf, weil er diese Prosa „nicht ertagen konnte“ (Gespräch mit Peter Roos: Genius Loci – in Auskunft, S. 61 – siehe: Jörg Magenau: Martin Walser – eine Biographie, S. 58f.) Ich selbst bin vor Jahren am ‚Tretapak’ Joseph und seine Brüder kläglich gescheitert. Und Bertolt Brecht bezeichnete ihn einen „regierungstreuen Lohnschreiber der Bourgeoisie“. Ich spreche von Thomas Mann.

Im Sommer 1981, ich weilte in Spanien in der Ferienwohnung meiner Eltern und hatte mir als Leküre Thomas Manns Der Zauberberg mitgenommen (den Roman habe ich als Fischer Taschenbuch Band 800, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main – 193. – 212. Tausend: Februar 1980 vorliegen). Immerhin ein Wälzer von über 750 Seiten (in anderen Ausgaben mit etwas größerer Schrift sind ’s oft 100 Seiten mehr). Und bis zum Ende meines Urlaubs habe ich den Roman tatsächlich geschafft – vielleicht auch, weil ich wegen eines Sonnenbrandes einige Tage die Sonne meiden musste. Jetzt habe ich nach 32 Jahren den Roman ein zweites Mal gelesen.

1912 äußerten Ärzte bei Katia, der Frau von Thomas Mann, den Verdacht auf Tuberkulose, was einen längeren Sanatoriums-Aufenthalt in Davos erforderlich machte. Thomas Mann war, als er sie dort besuchte, beeindruckt von der Atmosphäre des Sanatoriums und fasziniert von den amüsanten Schilderungen, die ihm seine Frau über die Klientel der Klinik gab. Sie inspirierten ihn zu seinem Roman Der Zauberberg, den er 1913 begann, aber erst 1924 vollendete.

Wie bereits an anderer Stelle (Heute Ruhetag (32): Thomas Mann – Der Zauberberg) erwähnt, sollte der Roman „eine Art von humoristischem, auch groteskem Gegenstück“ zum 1912 erschienenen Tod in Venedig werden, geriet dann mit 800 Seiten länger als beabsichtigt. Ohne Zweifel gilt der Roman heute als einer der wichtigsten des 20. Jahrhunderts, beleuchtet er mit Geist und Witz die Atmosphäre am Anfang des letzten Jahrhunderts – vor fast genau 100 Jahren. Er handelt vom Reifeprozess des jungen Hans Castorp. Während eines siebenjährigen Aufenthalts in einem Tuberkulose-Sanatorium trifft Castorp dort Menschen, die ihn mit Politik, Philosophie, aber auch Liebe, Krankheit und Tod konfrontieren.

Im Mittelpunkt – und dann auch wieder nicht – steht also jener junge Hans Castorp, der unheldische Held aus Hamburg, der eigentlich nur seinen Vetter Joachim Ziemßen auf drei Wochen in der Lungenheilanstalt Berghof nahe Davos besuchen wollte. Aus diesen drei Wochen werden dann sieben Jahre. Er lernt dabei u.a. die Russin Clawdia Chauchat kennen und lieben. Es ist eine verwickelte Liebesgeschichte, denn der junge Castorp traut sich erst nicht, Kontakt mit der ‚Kirgisenäugigen’ aufzunehmen, die ihn an einen ehemaligen Schulkameraden erinnert. Erst während einer ausgelassenen Karnevalsfeier kurz vor der unmittelbar bevorstehende Rückreise der Russin nach Daghestan kommen sich die beiden näher. Es beginnt ein jahrelanges Warten. Auch ein Grund, weshalb Castorp als einer ‚Der da oben’ Davos nicht verlassen wird. Clawdia Chauchat kommt zwar eines Tages zurück, aber in Gesellschaft eines Mynheer Peeperkorn, dem ein merkwürdig kruder Vitalitätskult umweht und dem es selten gelingt, seine Sätze zu beenden … Obwohl dieser Peeperkorn sein Konkurrent in der Gunst um die schöne Russin ist, freundet sich Catorp mit diesem an. Für ihn ist Peeperkorn eine faszinierende ‚Persönlichkeit’.

Bis zu dieser Wiederkehr vertreibt sich Castorp seine Zeit mit Gesprächen mit den Antipoden Settembrini und Naphta, die ihn, das „Sorgenkinder des Lebens“, zu ihrem Erziehungsobjekt auserkoren haben. Der eine, der italienische Literat Lodovico Settembrini, ist ein Humanisten, Freimaurer und „individualistisch gesinnter Demokraten“, mit dem der junge Deutsche über philosophische und politische Fragen der Zeit in Berührung kommt. Der andere ist „der asketische Jesuit Naphta, ein zum Katholizismus konvertierter galizischer Jude mit bewegter Vergangenheit. Naphta ist ein brillanter, rhetorisch begabter und sophistischer Logik verpflichteter Intellektueller, von dessen Einflüssen Settembrini seinen jungen Freund Castorp vergeblich fernzuhalten versucht. In anarcho-kommunistischer Tradition strebt Naphta nach der Wiederherstellung des ‚anfänglichen paradiesisch justizlosen und gottesunmittelbaren Zustands’ der Staat- und Gewaltlosigkeit, den letztendlich auf Terrorismus gestützter Gottesstaat.“ (weiteres siehe auch freitag.de und faz.net).

Man braucht schon einen etwas längeren Atem, um sich durch diesen Roman hindurchzukämpfen. Aber es lohnt sich. Die genannte Liebesgeschichte hat ihren ganz besonderen Reiz. Und die Gespräche zwischen dem jungen Castorp und Settembrini, an denen sich dann später auch noch der dunkle Naphta beteiligt, zeugen eine Nachhaltigkeit, die den Leser schon zum Grübeln bringt. Das Ganze ist untersetzt mit einem Ton, der eine Ironie versprüht, der man sich einfach nicht entziehen kann. So sollte der Leser nicht alles zu ernst nehmen. Manchmal ist der Roman (er wurde ja vor 100 Jahren begonnen) in seinen Formulierungen etwas ‚altfränkisch’ – den Begriff verwendet Thomas Mann übrigens selbst. Oft trieft es etwas zu sehr vor lauter Bildungsbürgertum. Und manche Passage auf Französisch oder Italienisch mag vor dem weiteren Lesen abschrecken. Aber keine Angst, man versäumt nicht viel (im längeren französisch und deutsch geführten Gespräch zwischen Castorp und Clawdia Chauchat geht es erst einmal um den Vetter, dann ums ›vous‹ und ›tu‹ – ums Sie und Du -, dann gesteht Castorp seine Liebe – und am Schluss sagt sie: »N’oubliez pas de me rendre mon crayon.« und erinnert ihn daran, nicht zu vergessen, ihr den ausgeliehenen Bleistift zurückzugeben; der Leser wird an dieser Stelle wissen, was es mit dem Bleistift auf sich hat). Aber wer sich traut, ein anspruchsvolles Buch zu lesen, kommt auf seine Kosten.

Der Roman fordert gegen Ende viele Todesopfer. So stirbt Catorps Vetter Joachim Ziemßen, nachdem dieser in wilder Flucht Davos verlassen hatte, um seinen Dienst als Offizier ‚im Flachland’ anzutreten, dort einen Rückfall bekam – und kurze Zeit nach seiner Rückkehr ins Sanatorium der Tuberkulose erlag. Es stirbt auch der Mynheer Peeperkorn und Naphta – beide durch Freitod. Und als nach sieben Jahren Aufenthalt in Davos der erste Weltkrieg ausbricht, kehrt auch Castorp in die Heimat zurück, um als Soldat eingezogen zu werden. Sein Schicksal bleibt ungeklärt. Er wird in Frankreich gefallen sein.

Noch ein kleiner Hinweis. Es geht um den lateinischen Begriff Placet experiri“, der eine erkennbar gewichtige Rolle in dem Roman spielt. Der Ausdruck ist ursprünglich eine wissenschaftliche Randbemerkung Petrarcas. Placet bedeutet ‚Bekundung eines Einverständnisses’ und experiri ist die Infinitivform von experior, also ‚versuchen, erproben’ – grob übersetzt: Bekundung eines Einverständnisses (etwas) zu erproben oder einfacher: Es gefällt, es ist recht, es ist erlaubt – einen (tastenden) Versuch zu machen, zu experimentieren. Settembrini rät Castorp, „vorderhand mit allerlei Standpunkten Versuche anzustellen.“ Es ist also die Aufforderung, Gehörtes geistig zu verarbeiten.

Bilder vom ‚Berghof’
Bilder vom ‚Berghof’

Weitere Empfehlungen zum Nachschlagen:
Hans Castorp – Thomas Manns „Zauberberg“
Literaturlexikon online: Thomas Mann Figurenlexikon: Der Zauberberg (1924)

Erwähnenswert ist sicherlich, dass Thomas Mann, als er 1929 den Nobelpreis für Literatur erhielt, diesen ‚ausdrücklich’ für seinen ersten Roman Buddenbrooks (1901) bekam. ‚Der Zauberberg’ (immerhin bereits 1924 erschienen) wurde allein deshalb nicht erwähnt, weil der Schwede Fredrik Böök, ‚Königsmacher’ im Nobelpreis-Komitee, den Roman nicht mochte und zuvor mehrfach verrissen hatte.

Übrigens wurde der Roman 1981 (da schon zum 2. Mal nach einer TV-Produktion des Sender Freies Berlin in Schwarzweiß unter der Regie von Ludwig Cremer aus dem Jahr 1968) in der Regie von Hans W. Geißendörfer in einer deutsch-französisch-italienische Koproduktion in einer 2½ Stunden langen Version für die Kinos – die dreiteilige Fernsehfassung war mehr als doppelt so lang – verfilmt. Die TV-Langfassung Thomas Mann: Der Zauberberg – Der komplette 3-Teiler kommt am 7. Juni in den Handel. Darsteller sind unter anderem Christoph Eichhorn als Castorp, Rod Steiger als Peeperkorn, Marie-France Pisier als Clawdia Chauchat, Hans Christian Blech als Hofrat Behrens, Flavio Bucci als Settembrini und Charles Aznavour als Naphta.


Der Zauberberg (1981)

Siehe auch meine Beiträge:
Thomas Mann: Felix Krull und die HomosexualitätHerr Albin in Thomas Manns „Zauberberg“Thomas Mann: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull

Amazon Kindle eBooks für jedermann

Im Herbst letzten Jahres kam ja bei Amazon der Kindle Fire auf den Markt, ein Tablet, mit dem man weit mehr als mit einem eBookreader machen kann, den es als einfachen Kindle für 79 € auch weiterhin zu kaufen gibt. Damals fragte ich mich, ob ich mir ein Netbook oder einen Tablet-PC zulegen sollte, und hatte mich dann schon aus Kostengründen für ein Netbook entschieden.

Nun Amazon vertreibt seine Kindle-eReader Kindle Fire, Kindle Paperwhite (ab 129 €) und eben den einfachen Kindle natürlich auch, um neben Videos auch eBooks über den Kindle-Shop an die Kundschaft zu bringen. So bietet Amazon über 1,5 Millionen Kindle eBooks an. Darunter befinden sich auch viele Werke, die kostenlos oder als Gesamtwerke äußerst günstig zu haben sind, da gemeinfrei, diese also keinem Urheberrecht mehr unterliegen (die alten Klassiker von Goethe bis zu Werken von Kafka und Dostojewski, um nur einige zu nennen – auch englische Originale).

Die Frage stellt sich dann natürlich: Kann ich mir diese eBooks (speziell die kostenlosen) auch herunterladen, ohne einen Kindle zu besitzen? Immerhin haben diese eBooks das besondere Kindle-Format.

Die Antwort lautet: ja! Da Amazon natürlich auch unabhängig von seinen Kindle-eReadern seine eBooks vertreiben möchte (speziell die nicht kostenlosen), so gibt es diverse kostenlose Lese-Apps, neben solchen für Geräte mit Android auch für Mac, iPhone und iPad sowie natürlich auch ein Kindle für PC App (Download des Install-Programm ab Windows XP – rd. 32 MB).

Allerdings braucht man ein Amazon-Konto, denn die einzelnen eBooks, auch die kostenlosen, müssen wie andere Ware ‚bestellt’ werden. Diese Bestellungen werden dann automatisch z.B. (nach Installation des Kindle für PC App auf dem Windows-Rechner) an den PC gesendet.

Dieses Kindle für PC-Programm enthält verschiedene Funktionen (Lesen gehört natürlich auch dazu), u.a.:

· Bücher durchsuchen: Durchsuchen Sie ein Buch, um ein Thema, eine Figur oder einen Abschnitt zu finden und wiederaufzugreifen.
· Sammlungen organisieren: Sortieren Sie Ihre Bücher mit der Kindle für PC App in verschiedene Sammlungen und Listen ein.
· Notizen machen: Sie haben in jedem Buch die Möglichkeit, Passagen zu markieren, sich Notizen zu machen und Lesezeichen zu setzen.
· Seitenzahlen ansehen: Lassen Sie sich Seitenzahlen anzeigen, die denen der Druckausgabe entsprechen, um einfacher zitieren zu können. Diese Funktion ist bei tausenden Büchern im Kindle-Shop verfügbar.

Amazon Kindle eBooks für jedermann – auch dank Calibre

Jetzt kommen natürlich die Fragen, ob man die eBooks auch ausdrucken oder sogar in andere Formate konvertieren kann (PDF oder als editierbare RTF). Mit dem App von Amazon Kindle leider nicht. Aber es gibt da ein Freeware-Programm namens Calibre (Download bei chip.de), über das man u.a. all seine eBooks (also in allen gängigen Formaten von EPUB bis PDF) verwalten, konvertieren und dann auch ausdrucken kann. Allerdings bedarf es beim Konvertieren diverser Voreinstellungen (z.B. Schriftgröße usw.). Auch mit dem neuen KF8-Format (Kindle Format 8 ) für moderne eBook-Dateien kann Calibre umgehen. So können zum Beispiel MOBI-Dateien, die mit dem KF8-Format erzeugt sind skalierbare Vektorgrafiken enthalten. Auch ein Profil für den Kindle Paperwhite wurde in der aktuellen Version 0.9.x von Calibre integriert. Die Kindle eBooks sind übrigens als *.AZW-Dateien in einem besonderen Verzeichnis abgelegt (Dokumente und Einstellungen\%USERNAME%\Eigene Dateien\My Kindle Content\).

Auf diesem Weg kann ich also Kindle eBooks auch auf meinem Netbook und meinem normalen Windows-PC verwalten und natürlich – lesen. Das gilt dann auch für alle anderen portablen Geräte.

Walpurgisnacht 2013

Die Hexen sind los. Heute Nacht ist Walpurgisnacht … Mythologisch findet die Walpurgisnacht (ähnlich dem keltischen Fest Beltane – siehe hierzu: Jethro Tull: Beltane) als Mondfest in der Nacht des ersten Vollmondes zwischen der Frühjahrstagundnachtgleiche und der Sommersonnenwende statt. Traditionell gilt jedoch die Nacht vom 30. April auf den 1. Mai als die Nacht, in der angeblich die Hexen insbesondere auf dem Blocksberg (eigentlich Brocken), aber auch an anderen erhöhten Orten ein großes Fest abhalten und auf die Ankunft des “gehörnten Gottes” warten. Im Rahmen der Christianisierung des Abendlandes wurde der Kult der Walpurgisnacht und verwandter Kulte (z. B. antiker Pan-Kult) im wahrsten Sinne des Wortes “ver-teufelt”: aus dem gehörnten Gott, dem Symbol des Männlichen, welches sich in dieser Nacht mit dem Weiblichen vereinigt, wurde der Teufel.

mehr siehe bei Wikipedea

siehe auch: Angie – Tanz in den Mai

Walpurgisnacht - Kupferstich von W. Jury nach Johann Heinrich Ramberg- Walpurgisnachtszene aus Faust 1 (Ausschnitt)
Kupferstich von W. Jury nach Johann Heinrich Ramberg- Walpurgisnachtszene aus Faust 1 (Ausschnitt)

Natürlich finden wir die Walpurgisnacht auch in der Literatur wieder. Ich lese zz. Thomas Manns Zauberberg, einen Roman, der u.a. von der Liebe des jungen Hans Castorp zur Russin Clawdia Chauchat handelt. Bei de.wikipedia.org findet sich dazu folgender Text:

In jener grotesken mit „Walpurgisnacht“ überschriebenen Karnevalsszene, während der Castorp, vom Alkohol ermutigt, Madame Chauchat seine Liebe gesteht, wird das Sanatorium zum Blocksberg, wo sich im ersten Teil von Goethes Faust die Hexen und Teufel zu einem obszön-höllischen Fest zusammenfinden. Hier, in der Mitte des Romans, klingt in Settembrinis Goethezitat indirekt zum ersten Mal auch der Romantitel an: Allein bedenkt! Der Berg ist heute zaubertoll (Walpurgisnacht, Faust I).

Und damit sind wir schon bei Goethes Faust und der Szene Walpurgisnacht – hierzu bei de.wikipedia.org:

Faust wird von Mephisto zum Hexentanz der Walpurgisnacht auf den Blocksberg gelockt. Sie geraten in eine Windsbraut, ein Gewimmel von Hexen, die zur Bergspitze hinauf reiten, wo der Teufel Hof hält. Faust wünscht sich, bis zum Gipfel vorzudringen: Dort strömt die Menge zu dem Bösen; Da muss sich manches Rätsel lösen. Mephisto aber überredet Faust, stattdessen an einer Hexenfeier teilzunehmen. Er bietet ihm an, dort als Fausts Kuppler zu fungieren. Bald ergehen sich beide im Tanz und anzüglichem Wechselgesang mit zwei lüsternen Hexen.

Faust bricht den Tanz ab, als seiner Partnerin ein rotes Mäuschen aus dem Mund springt und ihm ein blasses, schönes Kind erscheint, das ihn an Gretchen erinnert und ein rotes Schnürchen um den Hals trägt (eine Vorausdeutung auf Gretchens Hinrichtung). Um Faust von diesem Zauberbild abzulenken, führt Mephisto ihn auf einen Hügel, wo ein Theaterstück aufgeführt werden soll.

Heute Ruhetag (36): Ferdinand Freiligrath – Gedichte

Hermann Ferdinand Freiligrath (1810 bis 1876) war ein deutscher Lyriker, Dichter und Übersetzer. Seine Sammlung politischer Gedichte „Ein Glaubensbekenntniß“ erschien im September 1844 in Mainz und begründete Freiligraths Ruf als politischer Dichter. Freiligrath betätigte sich auch als Übersetzer, u. a. von Werken von Robert Burns, Victor Hugo, Alfred de Musset. Von bleibender Bedeutung ist vor allem sein politischer Einsatz und idealistischer Schwung gegen die als ungerecht empfundenen Zustände seiner Zeit.

Mit Ferdinand Freiligrath verbinden sich für mich besonders seine Übersetzungen der Gedichte von Schottlands Nationaldichter, Robert Burns – und hier speziell die Übersetzung eines Liedes, das mich gewissermaßen mein bisheriges Leben immer wieder verfolgt: Trotz alledem (A Man’s A Man for A’ That). Schon öfter bin ich in meinem Blog hier auf dieses Lied zu sprechen gekommen – und habe auch die eine oder andere (auch eigene) Version vorgestellt:

Robert Burns: A Man’s A Man for A’ That
Robert Burns: A Man’s A Man for A’ That – Teil 2
Fiedel Michel: Trotz alledem
Keltischer Nachschlag: A Man’s A Man for A’ That – Trotz alledem
Schottland 2005: Robert Burns und ‚Die Toten Hosen‘

Heute Ruhetag = Lesetag!

Aber auch die anderen Gedichte von Ferdinand Freiligrath sind lesenswert. Hier aber einmal die ‚volle’ Version:

Trotz alledem! (Aus „Ein Glaubensbekenntnis“, 1844)
Nach Robert Burns

Ob Armut euer Los auch sei,
Hebt hoch die Stirn, trotz alledem!
Geht kühn den feigen Knecht vorbei;
Wagt’s, arm zu sein trotz alledem!
Trotz alledem und alledem,
Trotz niederm Plack und alledem,
Der Rang ist das Gepräge nur,
Der Mann das Gold trotz alledem!

Und sitzt ihr auch beim kargen Mahl
In Zwilch und Lein und alledem,
Gönnt Schurken Samt und Goldpokal –
Ein Mann ist Mann trotz alledem!
Trotz alledem und alledem,
Trotz Prunk und Pracht und alledem!
Der brave Mann, wie dürftig auch,
Ist König doch trotz alledem!

Heißt »gnäd’ger Herr« das Bürschchen dort,
Man sieht’s am Stolz und alledem;
Doch lenkt auch Hunderte sein Wort,
’s ist nur ein Tropf trotz alledem!
Trotz alledem und alledem!
Trotz Band und Stern und alledem!
Der Mann von unabhängigem Sinn
Sieht zu, und lacht zu alledem!

Ein Fürst macht Ritter, wenn er spricht,
Mit Sporn und Schild und alledem:
Den braven Mann kreiert er nicht,
Der steht zu hoch trotz alledem:
Trotz alledem und alledem!
Trotz Würdenschnack und alledem –
Des innern Wertes stolz Gefühl
Läuft doch den Rang ab alledem!

Drum jeder fleh‘, daß es gescheh‘,
Wie es geschieht trotz alledem,
Daß Wert und Kern, so nah wie fern,
Den Sieg erringt trotz alledem!
Trotz alledem und alledem,
Es kommt dazu trotz alledem,
Daß rings der Mensch die Bruderhand
Dem Menschen reicht trotz alledem!

St. Goar, Dezember 1843

    Signatur: (Hermann) Ferdinand Freiligrath

Ferdinand Freiligrath: Gedichte

Max Frisch: Lebensabendhaus

Nachdem ich in meiner Entgeltgruppe zum 1. Januar d.J. um eine Stufe höher eingruppiert wurde, was mir aber außer ‚viel Ehr’’ dank eines sensationellen „Reform“-Tarifvertrags eine Gehaltserhöhung von 0 € einbrachte, kommt es jetzt noch etwas dicker: Ich arbeite bei einem Wohlfahrtsverband, der sowohl in Hamburg, wo ich arbeite, als auch in München eine ‚Niederlassung’ hat. Zum 1. Januar 2015 sollen beide Standorte in einem zusammengeführt werden. Welche Mitarbeiter – die in Hamburg oder die in München – nun das ‚Glück’ haben, von einer Großstadt in die andere umziehen zu dürfen, ist noch lange nicht geklärt. Wer nicht umziehen will oder kann, soll mit einer Abfindung und Arbeitslosigkeit ‚belohnt’ werden.

Ich habe nichts gegen München. Mir gefällt Bayern durchaus. Nicht umsonst habe ich mit meiner Familie öfter Urlaub in den Bergen, in Grainau gemacht. Aber wenn man sich wie ich (bezogen auf den Termin, den 01.01.2015) unaufhaltsam der Rente nähert, dann muss man einen solchen Schritt, nämlich den Umzug mit Familie, nicht unbedingt wagen wollen.

Sollte der Standort in Hamburg geschlossen werden, so werde ich wohl die Abfindung kassieren und mich bis zum möglichen Renteneintritt arbeitslos melden. Das hieße, dass ich bereits in ein ¾ Jahren den Hut an den Nagel hängen werde. So schnell sollte das eigentlich nicht gehen. Aber wahrscheinlich wird man den ‚Laden’ in München dichtmachen.

Unter diesem Aspekt (frühes In-Rente-Gehen) kommt man natürlich schon auf den Gedanken, was man mit dem ‚Rest’ seines Lebens, dem so genannten Lebensabend, machen könnte. Viele zieht es in den Süden in eine Ferienwohnung am Mittelmeer oder so. Mich könnte eine Insel wie Helgoland interessieren. Oder eben die Berge wie in Grainau. Aber ‚warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah’. Mein Wohnort liegt im Norden der Lüneburger Heide. Und zum Meer ist es ja auch nicht so weit … So sollte unser jetziger Wohnsitz auch unser Altersruhesitz bleiben.

Max Frisch hat in seinen Entwürfen zu einem dritten Tagebuch einen Traum von einem Haus für die letzten Jahre („das weiße ‚Lebensabendhaus’ in der Landschaft von New England.“) skizziert. So heißt es dort:

„Was ich mir also wünsche: – so ein älteres Haus, meinetwegen aus Holz (weiss gestrichen) wie die Häuser in New England, eine ehemalige Villa mit dreizehn Zimmern etwa und einer Veranda.“ (S. 144)

    Lebensabendhaus a la Max Frisch

Dreizehn Zimmer brauchen meine Frau und ich natürlich nicht. Für Gäste (vor allem für unsere Söhne, wenn sie uns besuchen) ließe sich ein Zimmer herrichten. Statt einer (vielleicht überdachten) Veranda haben wir bereits eine Terrasse, die sich aber zum Wintergarten ausbauen ließe. Die Größe des Gartens hält sich in Grenzen, was sinnvoll ist, wenn man in ein bestimmtes Alter kommt, in dem die Gebrechen zunehmen und die Gartenarbeit nicht mehr so ‚von der Hand geht’.

Natürlich sollte man noch etwas weiter denken – wenn man die zunehmenden körperlichen, besonders wohl auch möglichen geistigen Gebrechen berücksichtigt: z.B. die Unterbringung in einer Anlage für betreutes Wohnen. Und dann?

1984 kehrte Frisch nach Zürich zurück, wo er nun bis zu seinem Tode lebte. Also nichts mit einem weißen Lebensabendhaus „wie … in New England.“ Max Frisch starb am 4. April 1991, mitten in den Vorbereitungen zu seinem 80. Geburtstag. Die Asche Max Frischs wurde bei einem Erinnerungsfest seiner Freunde im Tessin in ein Feuer gestreut; eine Tafel an der Friedhofsmauer des Ortes Berzona, einem ruhigen Bergort in der Schweiz, wo er abwechselnd mit New York bis 1984 wohnte, erinnert an ihn.

Das wäre eine Möglichkeit …

Literatur von Max Frisch

Siehe auch meine weiteren Beiträge zu Max Frsich:

Max Frisch: Der Mensch erscheint im Holozän – Eine ErzählungVergessene Stücke (9): Max Frisch – Biografie: Ein SpielMax Frisch: Homo faber – Ein BerichtMax Frisch und the American Way of Life!Max Frisch: Mein Name sei GantenbeinMax Frisch: StillerMax Frisch: Entwürfe zu einem dritten Tagebuch

Martin Walser: Die Verteidigung der Kindheit

1988 klopften zwei Damen an Martin Walsers Tür. Sie waren mit dem Zug angereist und hatten vier Kartons mit Schriftstücken bei sich. Es handelt sich um den Nachlass einer unlängst verstorbenen Person. Wohin damit? Eine der Damen war übrigens von der Telefonseelsorge. Lauter Briefe und Karten und Fotos und Aufzeichnungen. Vielleicht interessiert sich der Schriftsteller Herr Walser dafür?

Ein Jahr lang wühlte sich Walser in die Zeugnisse dieses vergangenen, fremden Lebens hinein. „Ein Jahr nur rezeptiv, das ist schlimmer als Militär!“ so Martin Walser später. Mit der Zeit eignete sich Walser restlos seine Figur an und verfasste dann ein starkes und gewitztes, heiteres und weises Buch gegen das Vergessen: Die Verteidigung der Kindheit. Das Buch habe ich als Taschenbuch (Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main – st 2252– erste Auflage 1993) vorliegen und in diesen Tagen erneut gelesen.

    Martin Walser: Die Verteidigung der Kindheit

„Die Verteidigung der Kindheit – ‚ein fesselndes Deutschlandbuch’, ‚ein Meisterwerk’, ‚ein Epochenroman’, wie die Kritik feststellte – ist zugleich der Roman einer großen Liebe. Da die Welt auf große Liebe nicht gefasst ist, nicht eingerichtet ist, bringt eine solche Liebe den Liebenden nicht das, was man Glück nennt. Weltgerechtes Verhalten und große Liebe – das geht nicht zusammen. Schon gar nicht, wenn diese Liebe die eines Sohnes zu seiner Mutter ist. Und diese Liebes-Geschichte hört auch nach dem Tod der Mutter nicht auf. Denn jetzt muß Alfred Dorn dafür sorgen, daß die Vergangenheit nicht vergeht. Er muß nun die Kindheit verteidigen gegen Gegenwart und Zukunft. Die Verteidigung der Kindheit ist in diesem Sinne als Geschichtsschreibung des Alltags zu verstehen. Das, was nachher Epoche heißt, ist ja zuerst Alltag. Und weil dieser Roman einer großen Liebe von 1929 bis 1987 in Deutschland spielt und von Dresden über Leipzig nach Berlin und Wiesbaden führt, ist er ein deutsches Epos dieser Zeit.“
(aus dem Klappentext)

Nun, Martin Walser zeigte damals Interesse an dem Nachlass und strickte daraus diesen Roman – so wie er Jahre später die ihm angebotenen Akten eines hessischen Landesbeamten, der jahrelang mit seiner vorgesetzten Behörde, der hessischen Staatskanzlei zu Wiesbaden, stritt, zu dem Roman Finks Krieg verarbeitete. Wie hier so sehen wir uns im letzten Drittel des Romans ‚Verteidigung der Kindheit’ in Wiesbaden wieder, wo Alfred Dorn, der Held des Romans, ebenfalls als Beamter arbeitet.

Wie der Roman ‚Finks Krieg’ so verlangt auch die ‚Verteidigung der Kindheit’ viel Geduld vom Leser, denn mit Alfred Dorn haben wir es wieder mit einer der vielen überempfindlichen Walser-Gestalten zu tun, „denen das Leben ganz und gar nicht leichtfällt, denen so vieles mißlingt und die deswegen komisch sind.“ „Sein Held Alfred Dorn ist eine armselige, rührende Erscheinung, eine unausstehliche Mimose, ein Muttersöhnchen, ein Hysteriker. Und doch nimmt man an seinem Schicksal fast ohne Unterlaß mitleidend teil. So fremd einem dieser Neurotiker sein mag, seine überempfindlichen Beobachtungen bieten doch immer wieder Züge an, in denen sich viele wiedererkennen können.“ (Quelle: Ein deutsches MuttersöhnchenJoseph von Westphalen über Martin Walsers neuen Roman „Die Verteidigung der Kindheit“)

Das vorrangige Interesse Walsers an dem Nachlass dürfte aber auch durch das besondere Verhältnis des Beamten Dorn zu seiner Mutter ausgelöst worden sein. Martin Walser selbst hatte, wie wir in seinem Tagebuch aus dem Jahre 1967 erfahren, ein inniges Verhältnis zu seiner Mutter und war am Boden zerstört, als diese verstarb. Da war Walser 40 Jahre alt. – Und viele Jahre später beschäftigte sich Walser noch einmal mit einem außergewöhnlichen Sohn-Mutter-Verhältnis in Muttersohn.

Für mich ist es eines der schönsten Romane Martin Walsers, dermaßen detailliert, wie aus dem wahren Leben gegriffen, der uns in eine Zeit führt, die die Älteren unter uns längst vergessen und die die Jungen nicht kennen gelernt haben. So ist es ein Roman gegen das Vergessen, auch wenn es hier ganz speziell auf den Romanhelden gemünzt ist, der in seiner ungewöhnlichen Liebe zu seiner Mutter beginnt, alles zu sammeln, was in seinem Leben von Belang zu sein scheint: „… jetzt kommt es auf jedes Foto an, auf jedes Backrezept, jeden Bettvorleger.“ (S. 263)

Und natürlich sind es Sprüche, Worte, die die Eltern sprachen und die nicht dem Vergessen anheimfallen dürfen: „Laßt den Jungen erst mal groß werden. Vaters Satz. Alfred spürte geradezu, wie Vaters Hand bei diesem Satz auf seinem Kopf hin und her rieb. Da kannste warten, biste schwarz bist. Hatte die Mutter gesagt. Der Vater: Dich laß ich an der ausgestreckten Hand verhungern. Die Mutter: Halt die Luft an. Der Vater: Du kriegst gleich eine gewienert. Die Mutter? Der Vater: Wenn Dummheit weh täte, müsstest du ununterbrochen schreien. Die Mutter? Der Vater: Dumm geboren und nichts dazugelernt. Die Mutter: Halt doch mal deine blöde Pappe. Der Vater: Und wenn ich dir eine vor den Latz knalle. Die Mutter: Das ist gehuppt wie gesprungen. [usw.]“ (S. 437)

Alfred Dorn wünscht sich „soviel Menschen, so viele Museen. Das fände er angemessen. Milliarden Museen. Das wäre seine Welt. Die Frage, wer diese Museen besuche, ist nicht angebracht. Das Bewahren ist ein Bedürfnis. Jeder Mensch will bewahrt werden. Er sagte es ja auch keinem, daß er sich bewahren will. Wahrscheinlich sagt das keiner, deshalb sieht es so aus, als sei jeder mit seiner Vernichtung einverstanden. Jeder Mensch verdient ein Museum.“ (S. 320)

„Gegenwart -, das war für ihn der Zwang, die Vergangenheit zurückzulassen, sich dem Leben zuzuwenden. Leben -, das war eine Zusammenstellung von Aufgaben, die ihm nicht lagen. Zukunft war für ihn nur eine ins Unerträgliche gesteigerte Fortsetzung der Gegenwart: fortgeschrittener Zerfall, den er an Haaren und Zähnen, Haut und Knochen immer schon erlebte und mit immer größerer Aufmerksamkeit und Angst beobachtete. In jedem Augenblick konnte diese Angst vor dem Verfall ausbrechen, der Schrecken, den das Vergehen weckt.“ (S. 198) Nein, Alfred Dorn will und kann nicht erwachsen werden. Die Welt der Erwachsenen bleibt ihm immer fremd. „Besessen trägt Alfred alle Spuren seiner Kindheit, deren er habhaft werden kann, zusammen. Berge von Fotos, Briefe, bis hin zu Kämmen der Mutter“ und eine Fischsturzform. „Auch dies ein rührendes und noch in seinem Wahn ehrenwertes Bemühen in einer Zeit, in der längst die Wegwerfgesellschaft triumphiert.“

Dorns Problem ist die Zeit, in der er lebt. Da gab es noch zwei Deutschland. Und weil er aus dem östlichen ins westliche geflüchtet war, ist es nicht leicht, die Objekte seiner Sammelleidenschaft, die sich noch im Dresden befinden, in den Westen zu bekommen. Und es ist die Zeit selbst, die vergeht und die ihn in Anspruch nimmt für Dinge und „Aufgaben, die ihm nicht lagen.“

„… vor der Pensionierung konnte er nicht beginnen. Aber vorbereitet wollte er sein, wie noch nie jemand vorbereitet gewesen war. Vielleicht war es ein Zeichen der Erschöpfung, daß er jetzt öfter die Hoffnung mobilisierte, die soviel Kraft beanspruchende Vorbereitung sei schon das, was sie vorbereiten sollte: die Verteidigung der Kindheit gegen das Leben.“ (S. 511)

Ja, diesen Walser mag ich, der das Alltägliche unseres Lebens auf eine Weise festzuhalten versteht wie kein anderer und daraus meisterliche Literatur zu gießen versteht. Seine Helden sind meist eigentümliche Versager, die sich kaum gegen die Großsprecher zu wehren verstehen. Aber in aller Tragik besticht Walser durch trockenen Witz, der die dargestellte Pein erträglich macht.

„Es hat lange keinen Roman in deutscher Sprache gegeben, der in diesem Ausmaß Durchblicke auf die historischen und politischen Ereignisse gestattet hat und von Realität durchdrungen ist.“ (Die Zeit)

„Martin Walsers 500seitiges Meisterwerk, das an einem individuellen Lebensschicksal nicht nur Erinnerungsarbeit an das deutsch-deutsche Verhängnis in seinen ‚Kleinkatastrophen’ leistet, sondern sich zu einer ergreifenden Klage über die Unmöglichkeit der Liebe und die Schrecken der Vergänglichkeit überhaupt steigert.“ (Neue Zürcher Zeitung)