Kategorie-Archiv: Literatur

WilliZ Welt der Literatur

Heute Ruhetag (28): Charlotte Brontë – Jane Eyre

Jane Eyre. Eine Autobiographie (Originaltitel: Jane Eyre. An Autobiography), erstmals erschienen im Jahr 1847 unter dem Pseudonym Currer Bell, ist der erste veröffentlichte Roman der britischen Autorin Charlotte Brontë und ein Klassiker der viktorianischen Romanliteratur des 19. Jahrhunderts.

Der Roman erzählt die Lebensgeschichte von Jane Eyre, die nach einer schweren Kindheit eine Stelle als Gouvernante annimmt und sich in ihren Arbeitgeber verliebt, jedoch immer wieder um ihre Freiheit und Selbstbestimmung kämpfen muss. Der Stoff des Romanes wurde häufig für Theater, Film und Fernsehen bearbeitet.

Jane Eyre ist eine der ersten starken Frauenfiguren in der Literatur. In dem Roman spielen die Beziehungen zwischen sozialen Klassen und den Geschlechtern eine große Rolle. Jane überwindet am Ende Beschränkungen in beiden Bereichen, denn ihre Ehe mit Rochester ist eine Verbindung unter Gleichen.

Heute Ruhetag = Lesetag!

Es war ganz unmöglich, an diesem Tage einen Spaziergang zu machen. Am Morgen waren wir allerdings während einer ganzen Stunde in den blätterlosen, jungen Anpflanzungen umhergewandert; aber seit dem Mittagessen – Mrs. Reed speiste stets zu früher Stunde, wenn keine Gäste zugegen waren – hatte der kalte Winterwind so düstere, schwere Wolken und einen so durchdringenden Regen heraufgeweht, daß von weiterer Bewegung in frischer Luft nicht mehr die Rede sein konnte.

Ich war von Herzen froh darüber: lange Spaziergänge, besonders an frostigen Nachmittagen, waren mir stets zuwider: – ein Greuel war es mir, in der rauhen Dämmerstunde nach Hause zu kommen, mit fast erfrorenen Händen und Füßen, – mit einem Herzen, das durch das Schelten Bessie’s, der Kinderwärterin, bis zum Brechen schwer war, – gedemütigt durch das Bewußtsein, physisch so tief unter Eliza, John und Georgina Reed zu stehen.

[…]

Erster Teil – Erstes Kapitel

Charlotte Brontë: Jane Eyre, die Waise von Lowood

Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität

    Man fühlt sich mitten unter lauter anderen, die an dem gleichen Defekt leiden, recht wohl; tatsächlich ist es der geistig völlig gesunde Mensch, der sich in einer geistesgestörten Gesellschaft isoliert fühlt – und er kann so sehr unter seiner Unfähigkeit, mit den anderen in Beziehung zu treten, leiden, daß er nun seinerseits psychotisch wird.
    Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität (S. 401)
    Erich Fromm

Krieg, Gewalttätigkeit, Verbrechen haben ein Ausmaß erreicht, das die Aufdeckung ihrer Ursachen zu einer Frage des Überlebens macht. Keine Lösung, allenfalls Entlastung für das schlechte Gewissen bietet die These, mit der Konrad Lorenz berühmt wurde. Er erklärte die menschliche Aggression zum Naturgesetz, zum angeborenen Trieb, der vielleicht zu kanalisieren, aber nicht zu unterbinden sei. Ihm erteilt Erich Fromm, einer der bedeutendsten Sozialpsychologen unserer Zeit, eine radikale Absage.

Fromm unterscheidet zwischen defensiver Aggression, die der Erhaltung des Lebens beim Menschen wie beim Tier dient, und einer destruktiven Lust am Quälen und Töten, die spezifisch menschlich ist. Gestützt auf die wichtigsten Daten der Neurophysiologie, Paläontologie, Anthropologie und Tierpsychologie klärt er die Grundvoraussetzungen der menschlichen Existenz. Er beschreibt detailliert – am eindringlichsten in den brillanten Studien zu Stalin, Himmler und Hitler -, aus welchen individuellen und sozialen Ursachen die Unfähigkeit, zu lieben und sich rational zu verhalten, erwächst und wie sie notwendig zu der Leidenschaft führt, Leben entweder absolut zu kontrollieren oder zu vernichten.

Die „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ ist ein epochemachendes Werk von größter empirischen Sorgfalt und höchster theoretischer Originalität. Es ist eine Verteidigung der menschlichen Würde, ein wohlbegründeter Appell an die Menschheit, ihr Leben und dessen gesellschaftspolitische Bedingungen zu verändern.

Erich Fromm, Psychoanalytiker, Sozialphilosoph und Autor […] wurde 1900 in Frankfurt geboren.

Neben Marcuse, Löwenthal, Adorno, Benjamin und Pollock gehörte Fromm, nach seinem Studium in Heidelberg, Frankfurt und München und seiner Promotion 1922, zum Kreis junger Gelehrter um Max Horkheimer, zur weltbekannten „Frankfurter Schule“.

1933 ging Fromm an das Psychoanalytische Institut in Chicago und zog 1934 nach New York, wo er an der Columbia University Vorlesungen hielt.

1946 gründete er mit anderen das William Alanson White Institute […]. 1949 nahm er eine Professur an der Nationaluniversität in Mexico City an und wurde dort 1950 Ordinarius für Psychoanalyse.
(aus dem Klappentext)

1980 verstarb Erich Fromm in der Schweiz.

Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität

Erich Fromm war einer der einflussreichen Denker des 20. Jahrhunderts, „auch wenn er in der akademischen Welt oft unterschätzt wurde. Viele seiner Bücher wurden zu Bestsellern; seine Gedanken wurden auch außerhalb der Fachwelt breit diskutiert.“ Eines seiner wichtigsten Werke ist Anatomie der menschlichen Destruktivität, das ich als Taschenbuch (Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, 29. – 35. Tsd. September 1977) vorliegen und bereits 1978 zum ersten Mal gelesen habe. In meinem Beitrag Bestie Mensch habe ich mich bereits einmal auf dieses Buch bezogen.

Wer sich als Mensch verstehen will, kommt eigentlich an diesem Buch nicht vorbei. Natürlich gibt es fast 40 Jahre nach seinem Erscheinen einige Kritik, die sich auf inzwischen neue natur- und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse beziehen. Im Ganzen bleibt aber viel auch heute noch Gültiges bestehen, das uns aufzeigt, wohin der Mensch in seiner Entwicklung ‚kommen’ kann. Fromm glaubt, das trotz der Destruktivität, trotz aller Grausamkeit auch unserer Tage, eine Änderung zum Besseren möglich ist. Was bleibt uns sonst übrig. Fromm schreibt am Schluss:

Die meisten Menschen sind schnell bereit, den Glauben an eine Vervollkommnung des Menschen als unrealistisch abzutun; aber sie erkennen nicht, daß die Verzweiflung oft genauso unrealistisch ist. Es ist einfach zu sagen: „Der Mensch war von jeher ein Mörder.“ Aber diese Behauptung ist nicht richtig, denn sie versäumt, die Kompliziertheit in der Geschichte der Destruktivität zu berücksichtigen. Ebenso leicht ist es, zu sagen: „Der Wunsch, die anderen auszubeuten, entspricht eben der menschlichen Natur“; aber auch diese Behauptung übersieht (oder verzerrt) die Tatsachen. Kurz gesagt, die Behauptung „Die menschliche Natur ist böse“ ist keine Spur realistischer als die Behauptung „Die menschliche Natur ist gut“. Aber es ist viel leichter, das erstere zu sagen; jeder, der die Schlechtigkeit des Menschen beweisen will, findet nämlich bereitwillig Zustimmung, weil er damit einem jeden ein Alibi für die eigenen Sünden bietet – und scheinbar damit nichts riskiert; und dennoch – irrationale Verzweiflung zu verbreiten ist destruktiv, wie es das Verbreiten jeder Unwahrheit ist; es entmutigt und verwirrt. Irrationalen Glauben zu predigen oder einen falschen Messias anzukündigen, ist kaum weniger destruktiv – es verführt und lähmt.

Die Haltung der Majorität ist weder die des Glaubens noch die der Verzweiflung, sondern leider die einer völligen Gleichgültigkeit gegenüber der Zukunft der Menschheit. Wer nicht völlig gleichgültig ist, nimmt die Haltung des „Optimismus“ oder des „Pessimismus“ ein. Die Optimisten sind die Gläubigen des Dogmas vom ständigen „Fortschritt“. Sie haben sich daran gewöhnt, die menschliche Leistung mit der technischen Leistung zu identifizieren, die menschliche Freiheit mit der Freiheit vom unmittelbaren Zwang und der Freiheit des Konsumenten zur Wahl zwischen vielen, angeblich unterschiedlichen Gebrauchsgütern. […] (S. 489)

Um die Vervollkommnung des Menschen zu erreichen, muss es allerdings Änderungen in unserer Gesellschaft geben. In seinem Buch Haben oder Sein hat Fromm eine Utopie entworfen, die er Stadt des Seins nannte. Hier beschrieb er die Wesensmerkmale der neuen Gesellschaft. Fromms Anatomie der menschlichen Destruktivität ist im Wesentlichen auch eine Kritik unserer, der vor allem auf Konsum ausgerichteten Gesellschaft. Wie wahr seine Gedanken auch heute noch sind, zeigt z.B. die Rücksichtslosigkeit der Bankenbranche, die u.a. mit Lebensmittel zockt, ohne einen Gedanken an die Mitmenschen zu verlieren. Ich brauche kaum zu erwähnen, dass ich das Buch von Erich Fromm, wie übrigens alle seine Bücher, empfehlen kann.

Siehe auch meine Beiträge:
Die Kunst des Liebens – zum 25. Todestag von Erich Fromm
Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus

Anleitung zum Unglücklichsein – der Film

Aus gegebenem Anlass habe ich noch einmal Paul Watzlawicks Anleitung zum Unglücklichsein gelesen.

„Unserer Welt, die in einer Flutwelle von Anweisungen zum Glücklichsein zu ertrinken droht, darf ein Rettungsring nicht länger vorenthalten werden …. Der Sozialstaat braucht die stetig zunehmende Hilflosigkeit und das Unglücklichsein seiner Bevölkerung so dringend, daß diese Aufgabe nicht den wohlgemeinten, aber dilettantischen Versuchen des einzelnen Staatsbürgers überlassen bleiben kann. Wie in allen anderen Sparten des modernen Lebens ist auch hier staatliche Lenkung vonnöten.

Unglücklich sein kann jeder; sich unglücklich machen aber will gelernt sein, denn dazu reicht etwas Erfahrung mit ein paar persönlichen Malheurs nicht aus.“

[…] Jeder Leser dürfte etwas von sich selbst in diesem Buch wiederfinden – nämlich seine eigene Art und Weise, den Alltag unerträglich und das Triviale enorm zu machen.
(aus dem Klappentext)

    Paul Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein

Vor vier Jahren habe ich bereits einmal einiges zu diesem Buch (Paul Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein) geschrieben. Und auch sonst habe ich Paul Watzlawick, der nicht nur Psychoanalytiker, sondern u.a. auch ein prominenter Kommunikationswissenschaftler war (siehe die fünf Axiome der Kommunikationstheorie), hier in weiteren Beiträgen zitiert.

Eines dieser Axiome, dass jede Kommunikation eine Objekt- und eine Beziehungsebene hat, spielt auch in diesem kleinen Büchlein eine nicht unbedeutende Rolle – und in diesem Zusammenhang wird ein Mechanismus genannt, den man zurecht den Namen Illusion der Alternativen gab („Tut er A, hätte er B tun sollen, und tut er B, hätte er A tun sollen.“). Aber ich will nicht zuviel verraten, lesen … (Übrigens: Loriot war ein Meister darin, uns diese Illusion der Alternativen vor Augen zu führen …).

Was ist der Anlass, noch einmal auf Watzlawicks Anleitung zum Unglücklichsein zurück zu kommen? Das Buch bildet sozusagen den theoretischen Rahmen für einen Film, der am 29. November 2012 in unsere Kinos kommt: Anleitung zum Unglücklichsein – der Film; da darf man gespannt sein:

Neurotisch? Verträumt? Abergläubisch? Widersprüchlich? Single? Das ist Tiffany Blechschmid (Johanna Wokalek). Sie betreibt in Berlin ein Feinkostgeschäft und wartet auf das große Glück. Aber in Tiffanys Leben folgt auf Glücksgefühle in der Regel die Katastrophe. Sie, die zuversichtlich Glückskekse in ihrem Laden verkauft, muss sich da Watzlawicksche Fragen stellen. Was heißt schon Glück? Und wieso steht man sich immer selbst im Weg? Würde sie es sehen, wenn plötzlich der Mann ihrer Träume auftaucht? Als dann ihr ehemaliger Klavierlehrer Hans Luboschinski (Richy Müller) in die Nachbarschaft zieht, sie sich zum draufgängerischen Polizisten Frank (Benjamin Sadler) hingezogen fühlt und auch noch der Fotograf Thomas (Itay Tiran) ihr Interesse weckt, ist die junge Frau ratlos. Die Tatsache, dass immer in den unpassendsten Momenten ihre tote Mutter (Iris Berben) erscheint und ungefragt Lebensweisheiten von sich gibt, macht die Sache für Tiffany auch nicht gerade einfacher.

Aus: filmstarts.de


Anleitung zum Unglücklichsein – Trailer zum Film

Alain Corbin: Pesthauch und Blütenduft

    „Es gibt einen stinkenden Geruch, ähnlich dem, der von Kleidungsstücken ausgeht, und einen fauligen Geruch, der weniger hervortritt, aber durch den allgemeinen Ekel, den er auslöst, unangenehmer ist als der erste. Ein dritter, den man Verwesungsgeruch nennen kann, läßt sich als eine Mischung aus Saurem, Fadem und Stinkendem beschreiben, die eher Übelkeit erregt als daß sie die Nase beleidigt; sie geht einher mit der Zersetzung und ist der widerwärtigste unter all den Gerüchen, die im Hospital anzutreffen sind. Ein weiterer Geruch, der in Nase und Augen sticht, kommt von der Unsauberkeit; man könnte meinen, die Luft enthielte etwas Pulverförmiges, und wenn man sich auf die Suche macht, findet man gewiß feuchte, verstockte Wäsche, einen Haufen Unrat oder von gärenden Miasmen verseuchte Kleider und Betten. Die verschiedenen Ansteckungsstoffe haben je eigene Ausdünstungen: die Ärzte kennen den besonderen Geruch des Brandes, den des Krebserregers und den Pesthauch, der sich bei Knochenfraß verbreitet. Doch was die Ärzte durch Erfahrung über diesen Gegenstand lernen, kann jeder erproben, wenn er nur die unterschiedlichen Gerüche in den Krankensälen vergleicht. Bei den Kindern riecht es sauer und stinkend; bei den Frauen süß und faulig; von den Schlafsälen der Männer dagegen geht ein starker, aber nur stinkender und daher längst nicht so abstoßender Geruch aus. Obwohl mehr auf Sauberkeit geachtet wird als früher, herrscht in den Krankensälen der guten Armen von Bicêtre ein fader Geruch, durch den zarte Personen schwach ums Herze wird.“
    (S. 12 – Alain Corbin: Pesthauch und Blütenduft – aus: Jean-Noël Hallé: Artikel „Air – Air des hôpitaux de terre et de mer“ in : Encyclopédie méthodique, Médecine, Paris 1787.)

Von diesem Buch geht ein ganz besonderer Geruch aus, pardon, eine ganz besondere Faszination: Alain Corbin: Pesthauch und Blütenduft – Eine Geschichte des Geruchs – Aus dem Französischen von Grete Osterwald – Verlag Klaus Wagenbach – Berlin – 9. – 12. Tausend Oktober 1984 (Original : Le Miasme et la Jonquille. L’odorat et l’imaginaire social XVIIIe – XIXe siècles – Paris 1982). Leider längst vergriffen, aber im Antiquariat bestimmt erhältlich.

Alain Corbin: Pesthauch und Blütenduft

Alain Corbin ist ein französischer Historiker und Hochschullehrer, der sich überwiegend mit der Geschichte Frankreichs im 19. und 20. Jahrhundert beschäftigt. Neben dieser Geschichte des Geruchs hat er auch Bücher zur Geschichte des Strandes und der Badekultur oder zur „sexuellen Gewalt in der Geschichte“ geschrieben, die sicherlich auch den interessierten Laien-Historiker lesenswert erscheinen dürfte. Mir liegt noch das Buch Die Sprache der Glocken. Ländliche Gefühlskultur und symbolische Ordnung in Frankreich des 19. Jahrhunderts vor.

Auch wenn weder ein Pesthauch noch ein Blütenduft von dem Buch ausgeht, so seien „zarte Personen“ gewarnt: Manche Beschreibung (siehe die Voranstellung) kann „schwach ums Herze“ machen.

Aber eines nach dem anderen: Wer sich in seiner ‚bürgerlichen’ Existenz verstehen will, sollte den Blick zurück in die Vergangenheit nicht scheuen. Die Geschichtsschreibung befasst sich gottlob nicht nur mit Ereignissen und Daten, die wir im Geschichtsunterricht vorgesetzt bekamen, sondern beschäftigt sich längst mit dem Alltag der Menschen in früheren Zeiten. Corbins Geschichte des Geruchs ist zwar im Wesentliche eine Geschichte, die im Frankreich des 19. Jahrhunderts spielt. Aber was die Franzosen da zu riechen bekamen, dürfte auch deutsche Nasen entsetzt oder entzückt haben, je nachdem. Es ist natürlich besonders auch eine Geschichte der Hygiene, dann was aus den Häusern oder Gullis der Straßen entströmte, hatte immer auch etwas mit (fehlender) Reinlichkeit zu tun.

„Die erste Kulturgeschichte der Hygiene und ihrer sozialen Folgen: von der frühen Bekämpfung ‚verdächtiger’ Gerüche im achtzehnten Jahrhundert, der Reinigung des ‚öffentlichen Raums’ und der Kanalisation bis zu den Feinheiten der Parfümerie und der Entwicklung neuer Sitten.“ (aus dem Klappentext)

„Die Vorgeschichte unserer Geruchsempfindlichkeit beginnt Ende des 18. Jahrhunderts, als ein heute unvorstellbarer Gestank den Alltag in Stadt und Land beherrschte. Von da an ging es aufwärts: Während Robespierre das Laster ausrotten will, wird in Paris der erste Lehrstuhl für Hygiene eingerichtet, und in der Folge verschwistert sich der Geruchssinn mit der Polizeiwissenschaft, er wird zum Desinfektionswahn.

Mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft wird aber auch immer deutlicher unterschieden zwischen Gestank und Wohlgeruch: der Pöbel stinkt, der Bourgeois parfümiert sich, und so entstehen immer wieder neue Vorstellungen von Eleganz und Individualität, bis heute.“ (Quelle: u.a. wagenbach.de)

Corbin schreibt anschaulich und zitiert viele Quellen, sodass ein überaus authentisches ‚Bild’, ja geradezu ein Geruch von Scheiße und Veilchenduft dem Leser vermittelt wird. Hier ein Beispiel für die Gerüche des Zerfalls:

Becher [Becher, Johann Joachim, u.a. Physica subterranea, Frankfurt am Main, 1669.] selbst hatte sich bemüht, die Gerüche in den einzelnen Stadien des Zerfalls zu beschreiben. 1760 legt Féou in Montpellier eine Doktorarbeit vor, in der er Bechers Analyse aufgreift und verfeinert. Unmittelbar nach dem Tode verströmt der Leichnam einen ‚süßlichen Geruch’, den manche für eine ‚Weingärung’ halten. Dann entwickelt sich ein stärkerer, beißender Geruch, der ‚recht oft an den Gestank von überreifem Käse erinnert’; Gardane bezeichnet ihn als ‚säuerlich’. ‚Schließlich tritt der Geruch der Fäulnis auf, der zunächst nur fade und nicht scharf ist, jedoch von einer Fadheit, die Übelkeit erregt (…); unmerklich wird er penetrant, ätzend und widerwärtig. Auf den faulen Geruch folgt ein krautartiger, und schließlich einer, der nach Ambra riecht …’ Der Autor schließt mit der Bemerkung: ‚Dies soll die Ärzte in die Lage versetzen, die bei Krankheiten entstehenden Gerüche genauer zu bestimmen.’ (S. 31)

Aber es geht auch um Wohlgerüche und ihre Wirkung:

‚Der Geruch’, so heißt es bei Saint-Lambert [Les saisons, zitiert von Robert Mauzi: L’idee du bonheur au XVIIIe siècle, Paris, 1960], ‚vermittelt uns ein innigeres Gefühl, einen unmittelbaren, vom Geist unabhängigeren Genuß als der Gesichtssinn. Schon beim ersten Eindruck ergötzen wir uns zutiefst an einem angenehmen Duft. Die Freuden des Sichtbaren dagegen sind stärker an Reflexionen gebunden, an das Verlangen nach sehenden Gegenständen und die Hoffnungen, die selbige erzeugen.’ (S: 115]

Übrigens diente Corbins „Pesthauch und Blütenduft“ Patrick Süskind als Recherchequelle für seinen Roman „Das Parfum“, denn es enthält auch eine lebendig erzählte Kulturgeschichte von den Anfängen der Körperpflege und öffentlichen Hygiene, der Parfümmanufakturen und der Ökologie im 19. Jahrhundert.

Hier noch einige weitere aufschlussreiche Zitate:

All die […] wissenschaftlichen Überzeugungen machen eine ausgeprägte Benutzung des Geruchssinns verdächtig. Das Schnüffeln und Beriechen ist ebenso verpönt wie die scharfe Geruchswahrnehmung oder eine Vorliebe für schwere tierische Riechstoffe; auch die Anerkennung der erotischen Rolle von Sexualgerüchen erregt Mißtrauen. Derartige Verhaltensweisen, die mit denen des Wilden verwandt sind, bezeugen eine Nähe zum Tier, einen Mangel an Raffinement, eine Unkenntnis der guten Sitten – kurz, sie beweisen das Scheitern jener Lernerfahrungen, die den gesellschaftlichen Stand definieren. Der Geruchssinn steht – gleich neben dem Tastsinn – ganz unten in der Hierarchie der Sinne. (S. 16)

Je mehr der Gestank der sich schindenden Bevölkerung hervorgehoben wird, je stärker man den Akzent auf die durch ihre bloße Anwesenheit gegebene Ansteckungsgefahr legt, um so leichter ist jener Rechtfertigungsterror aufrechtzuerhalten, in dem die Bourgeoisie sich wiegt, in dem sie den Ausdruck ihres schlechten Gewissens erstickt. (S. 191)

Immerhin wissen wir von der „… Gleichheit der Menschen im Vorgang der Darmentleerung.“ (S. 44), nur das ‚Örtchen’ unterscheidet sich noch manchmal stark: ‚Wir leben mitten in der Verseuchung, da wir einen stets unerträglichen Gestank im eigenen Leib beherbergen’, entsetzt sich Caraccioli [Louis-Antoine de C., Lüttich, 1759]. Nach und nach wird der Ort der Darmentleerung spezifischer, individueller. Im Zuge der Privatisierung des Unrats entwickelt er sich mehr und mehr zu einem Ort des inneren Monologs. Die einzigen englischen water closets, über die Versailles verfügt, sind dem König und Marie-Antoinette vorbehalten. In Frankreich gehören diese beiden Personen zu den ersten Individuen, die Erfahrungen mit einer neuen Art von Intimität machen. Diese Anekdote ist Bestandteil eines allgemeinen Individuierungsprozesses sozialer Praktiken, der dem Narzißmus in die Hände spielt. (S. 116)

Die menschlichen Exkremente, so sehr sie stinken mögen und so oft Wissenschaftler der früheren Zeit vor der Gesundheitsgefährdung der ‚Miasmen’ warnen, Scheiße ist als Dünger auch Geld – und es dauert dann nicht mehr lange, bis „die Psychoanalytiker [den Zusammenhang] zwischen Geld und Fäces herstellen.“ (S. 155)

“Corbins Kulturgeschichte ist ein von A bis Z ernsthaftes Buch. Aber da sich der anekdotische Ernst mit dem Thema ‚Gestank’ verbindet, liest es sich wie eine Satire. Auf diese Weise haben wir es mit einer Lektüre zu tun, die auf beinahe jeder Seite eine Neuigkeit – und allgemeine Heiterkeit zugleich verbreitet.“ (Harald Wieser in ‚Der Spiegel’)

In diesem Sinne lasse ich zuletzt Gustave Flaubert zu Worte kommen, der etwas ungehörig gegen die guten Manieren seiner Zeit herausfordernd an seinem Freund Ernest Chevalier am 15. März 1842 schrieb :

„Kack in die Stiefel, piß aus dem Fenster, schrei Scheiße, laß den Dünnpfiff wässrig sein und die Fürze eisern, rauche wie ein Schlot […] rülps den Leuten ins Gesicht“.
(Gustave Flaubert – Correspondance, Bd. I, S. 97)

Heute Ruhetag (27): Charles Dickens – Oliver Twist

Im Februar vor 200 Jahren wurde Charles John Huffam Dickens in Landport bei Portsmouth geboren. Also noch ein Jahrestag, denn wir gedenken sollten. Zu seinen bekanntesten Werken gehören Oliver Twist, David Copperfield, Eine Geschichte aus zwei Städten, Große Erwartungen sowie – Weihnachten steht ja fast schon wieder vor der Tür: Eine Weihnachtsgeschichte. Nur wenige Schriftsteller wurden so oft verfilmt wie Charles Dickens. Ein Grund dafür dürften Dickens’ Charaktere sein, die sich nicht nur durch ihre skurrilen Namen auszeichnen, sondern auch sehr einprägsam sind. Wer kennt eigentlich nicht Gestalten wie Ebenezer Scrooge, Oliver Twist, David Copperfield oder Uriah Heep, nach dem sich sogar eine Rockgruppe benannt hat. In seinen Werken finden sich oft konkrete Hinweise auf die sozialen Missstände des viktorianischen Zeitalters, etwa durch die beispielhafte Darstellung der kritischen Situation der armen Stadtbevölkerung oder der damals vorherrschenden Sozialstrukturen. So gewinnen wir einen bleibenden Eindruck von der damaligen Zeit.

Heute Ruhetag = Lesetag!

In einer Stadt, die ich aus mancherlei Gründen weder nennen will, noch mit einem erdichteten Namen bezeichnen möchte, befand sich unter anderen öffentlichen Gebäuden auch eines, dessen sich die meisten Städte rühmen können, nämlich ein Armenhaus. In diesem wurde an einem Tage, dessen Datum dem Leser kaum von Interesse sein kann, der Kandidat der Sterblichkeit geboren, dessen Namen die Kapitelüberschrift nennt.

Lange noch, nachdem er bereits durch den Armenarzt in dieses irdische Jammertal eingeführt war, blieb es höchst zweifelhaft, ob das Kind lange genug leben würde, um überhaupt eines Namens zu bedürfen. Es hielt nämlich ungern ein schwer, Oliver zu bewegen, die Mühe des Atmens auf sich zu nehmen, allerdings eine schwere Arbeit, die jedoch die Gewohnheit zu unserm Wohlbefinden nötig gemacht hat. So lag er, eine geraume Zeit nach Luft ringend, auf einer kleinen Matratze, wobei sich die Waagschale seines Lebens entschieden einer besseren Welt zuneigte. Wäre Oliver damals von sorglichen Großmüttern, ängstlichen Tanten, erfahrenen Wärterinnen und hochgelehrten Ärzten umgeben gewesen, so wäre er unzweifelhaft mit dem Tode abgegangen, so aber war niemand bei ihm als eine arme alte Frau, die infolge ungewohnten Biergenusses ziemlich benebelt war, und ein Armenarzt, der vertragsgemäß bei Geburten Hilfe leisten mußte. Oliver hatte deshalb die Sache mit der Natur allein auszufechten. Das Ergebnis war, daß Oliver nach einigen Anstrengungen atmete, nieste und endlich damit zustande kam, den Bewohnern des Armenhauses die Ankunft einer neuen Bürde für die Gemeinde durch ein so lautes Schreien anzukündigen, als sich füglich von einem Jungen erwarten ließ, der die ungemein nützliche Beigabe einer Stimme erst seit drei und einer viertel Minute besaß. Da erhob sich das bleiche Gesicht einer jungen Frau mit Mühe von den Kissen und eine schwache Stimme flüsterte kaum vernehmbar: „Lassen Sie mich das Kind sehen, dann will ich gern sterben.“

[…]

Erstes Kapitel – Handelt von dem Orte, wo Oliver Twist geboren ward, und von Umständen, die seine Geburt begleiteten

Signatur: Charles Dickens

Charles Dickens: Oliver Twist

Der Steppenwolf (Film)

So langsam neigt sich das Jahr seinem Ende entgegen. Wie bereits erwähnt hat dieses Jahr gleich zwei Jahrestage im Zusammenhang mit Hermann Hesse zu begehen, seinen 50. Todestag und gleichzeitig den 135. Jahrestag seiner Geburt. Eines seiner bekanntesten Werke ist der Roman Der Steppenwolf, den ich in diesem Blog auch schon ausführlicher beschrieben habe (siehe auch: Romananfänge (4): Harry und Hermine).


„Steppenwolf“(Gedicht) von Hermann Hesse

Bei Youtube gibt es übrigens ein ‚Hörbuch’ von Hermann Hesses Steppenwolf als so genannte Playlist in 34 Teilen, die knapp sieben Stunden lang ist. Wer also nicht nur das Buch lesen, sondern es gern ‚vorgelesen’ bekommen möchte, hat dazu die Gelegenheit.

Hermann Hesse: der Steppenwolf - S. Fischer Verlag,  Erstausgabe Deckblatt 1927

Hermann Hesse: der Steppenwolf - Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 4. Auflage, 151. - 190. Tausend 1975

Hermann Hesse: der Steppenwolf – S. Fischer Verlag,  Erstausgabe Deckblatt 1927 Hermann Hesse: der Steppenwolf – Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 4. Auflage, 151. – 190. Tausend 1975

Vom Steppenwolf gab es im Zuge der Hermann-Hesse-Renaissance in den 70er Jahren eine Verfilmung mit Max von Sydow in der Hauptrolle. Der Film besticht durch seine Worttreue. Ende Juni ist der Film noch einmal als DVD Steppenwolf auf den Markt gekommen. Ich finde den Film durchaus gelungen, wenn auch die mittels elektronischer Farbmanipulationen erreichten Traumbilder des Magischen Theaters mit der hierfür verwendeten Technik schon damals eher entnervend waren. Max von Sydow reißt dieses Manko dank seiner schauspielerischen Leistung mehr als heraus. Durch ihn bekommt der Steppenwolf Gestalt. Er zeigt ihn als verletzlichen, im Grunde eher naiven und schüchternen Menschen, der sich von der Welt abwendet, dann aber durch eine bezaubernde Hermine (Dominique Sanda) auf den Weg der ‚Heilung’ geführt wird. Er gewinnt durch sie dem Leben den gehörigen Humor ab, um weiterleben zu können.


Filmausschnitte – The Same Wolf


Traktat vom Steppenwolf

Heute Ruhetag (26): Gustave Flaubert – Madame Bovary

Kaum ein Roman wurde so oft ins Deutsche übertragen. Und kaum eine Frauengestalt interessierte die Filmregisseure so sehr – wie Madame Bovary.

Madame Bovary, in älteren Übersetzungen auch Frau Bovary, ist ein Roman von Gustave Flaubert. Er gilt als eines der großen Werke der Weltliteratur aufgrund der seinerzeit neuartigen realitätsnahen Erzählweise. Ein Zeitungsbericht über den Selbstmord einer jungen Ehefrau veranlasste Flaubert zur Ausgestaltung dieses Gesellschaftsromanes, der den Untertitel Ein Sittenbild aus der Provinz trägt.

Heute Ruhetag = Lesetag!

Zuweilen machte sie sich Gedanken, ob das wirklich die schönsten Tage ihres Lebens sein sollten: ihre Flitterwochen, wie man zu sagen pflegt. Um ihre Wonnen zu spüren, hätten sie wohl in jene Länder mit klangvollen Namen reisen müssen, wo der Morgen nach der Hochzeit in süßem Nichtstun verrinnt. Man fährt gemächlich in einer Postkutsche mit blauseidnen Vorhängen die Gebirgsstraßen hinauf und lauscht dem Lied des Postillions, das in den Bergen zusammen mit den Herdenglocken und dem dumpfen Rauschen des Gießbachs sein Echo findet. Wenn die Sonne sinkt, atmet man am Golf den Duft der Limonen, und dann nachts steht man auf der Terrasse einer Villa am Meere, einsam zu zweit, mit verschlungenen Händen, schaut zu den Gestirnen empor und baut Luftschlösser. Es kam ihr vor, als seien nur gewisse Erdenwinkel Heimstätten des Glücks, genau so wie bestimmte Pflanzen nur an sonnigen Orten gedeihen und nirgends anders. Warum war es ihr nicht beschieden, sich auf den Altan eines Schweizerhäuschens zu lehnen oder ihre Trübsal in einem schottischen Landhause zu vergessen, an der Seite eines Gatten, der einen langen schwarzen Gehrock, feine Schuhe, einen eleganten Hut und Manschettenhemden trüge?

Alle diese Grübeleien hätte sie wohl irgendwem anvertrauen mögen. Hätte sie aber ihr namenloses Unbehagen, das sich aller Augenblicke neu formte wie leichtes Gewölk und das wie der Wind wirbelte, in Worte zu fassen verstanden? Ach, es fehlten ihr die Worte, die Gelegenheit, der Mut! Ja, wenn Karl gewollt hätte, wenn er eine Ahnung davon gehabt hätte, wenn sein Blick nur ein einzigesmal ihren Gedanken begegnet wäre, dann hätte sich alles das, so meinte sie, sofort von ihrem Herzen losgelöst wie eine reife Frucht vom Spalier, wenn eine Hand daran rührt. So aber ward die innere Entfremdung, die sie gegen ihren Mann empfand, immer größer, je intimer ihr eheliches Leben wurde.

Karls Art zu sprechen war platt wie das Trottoir auf der Straße: Allerweltsgedanken und Alltäglichkeiten, die niemanden rührten, über die kein Mensch lachte, die nie einen Nachklang erweckten. Solange er in Rouen gelebt hatte, sagte er, hätte er niemals den Drang verspürt, ein Pariser Gastspiel im Theater zu sehen. Er konnte weder schwimmen noch fechten; er war auch kein Pistolenschütze, und gelegentlich kam es zutage, daß er Emma einen Ausdruck des Reitsports nicht erklären konnte, der ihr in einem Romane begegnet war. Muß ein Mann nicht vielmehr alles kennen, auf allen Gebieten bewandert sein und seine Frau in die großen Leidenschaften des Lebens, in seine erlesensten Genüsse und in alle Geheimnisse einweihen? Der ihre aber lehrte sie nichts, verstand von nichts und erstrebte nichts. Er glaubte, sie sei glücklich, indes sie sich über seine satte Trägheit empörte, seinen zufriedenen Stumpfsinn, ja selbst über die Wonnen, die sie ihm gewährte.

[…]

aus dem 7. Kapitel

    Signatur: Gustave Flaubert

Gustave Flaubert: Madame Bovary

Heute Ruhetag (25): Daniel Defoe – Robinson Crusoes Leben und seltsame Abenteuer

Es gibt bei uns in Deutschland eine Reihe von Romanen, die z.T. stark gekürzt als Jugend- oder gar Kinderbücher auf den Markt kommen, obwohl sie ursprünglich für Erwachsene geschrieben wurden. Es handelt sich dabei um so genannte Abenteuer- oder Phantasieromane, die sicherlich für junge Menschen von besonderem Interesse sind. Was vielleicht nicht so ganz jugendfrei darin ist, wurde getilgt; das Ganze dann auf ein übersichtliches Maß reduziert, da es sich meist um sehr umfangreiche Romane handelt. Gullivers Reisen von Jonathan Swift gehört ohne Zweifel dazu, oft gekürzt um die Teile 3. und 4. und natürlich ohne die sozialkritischen und satirischen Positionen, die Swift in diesem Buch einnimmt. Ein ähnliches Schicksal ereilt meist auch den Ritter von der traurigen Gestalt, Don Quixote, von Miguel de Cervantes. Und obwohl auch voll Abenteuer und Phantasie blieb François Rabelais’ Gargantua und Pantagruel davon verschont, weil es wohl zu viele anzügliche Stellen beinhaltet, die nun einmal nicht jugendfrei sind.

Wie von Gullivers Reisen so finden wir im Buchladen eher eine Jugendausgabe vom Robinson Crusoe als den nach dem Original ins Deutsche übersetzten Roman. Daniel Defoe hat mit diesem Robinson einen Archetypen von Abenteurer geschaffen, der auch heute noch die Phantasie der Menschen, ob jung oder alt, beflügelt. Als etwas abgeschmackte Variante kommt dann so etwas wie das Dschungelcamp heraus, in dem sich C- und D-Prominente als Robinson versuchen dürfen.

Die Vorstellung, allein ohne jegliche Hilfsmittel auf einer Insel überleben zu müssen, hat natürlich etwas Beängstigendes. In gewisser Hinsicht muss man dann die Zivilisation für sich neu erfinden, muss schöpferisch tätig werden, denn sonst ist man schnell am Ende. Und es ist natürlich etwas völlig anderes, ob man sein Robinson-Dasein als Spiel oder als bittere Realität erlebt.

Heute Ruhetag = Lesetag!

Ich bin geboren zu York im Jahre 1632, als Kind angesehener Leute, die ursprünglich nicht aus jener Gegend stammten. Mein Vater, ein Ausländer, aus Bremen gebürtig, hatte sich zuerst in Hull niedergelassen, war dort als Kaufmann zu hübschem Vermögen gekommen und dann, nachdem er sein Geschäft aufgegeben hatte, nach York gezogen. Hier heirathete er meine Mutter, eine geborene Robinson. Nach der geachteten Familie, welcher sie angehörte, wurde ich Robinson Kreuznaer genannt. In England aber ist es Mode, die Worte zu verunstalten, und so heißen wir jetzt Crusoe, nennen und schreiben uns sogar selbst so, und diesen Namen habe auch ich von jeher unter meinen Bekannten geführt.

[…]

Nachdem ich nun meine Seele in solcher Weise an der tröstlichen Seite meiner Lage erhoben hatte, begann ich umherzublicken und auszuschauen, auf was für einem Lande ich mich eigentlich befinde und was zunächst zu thun sei. Da sank nun bald wieder mein Muth und ich erkannte, daß meine Errettung eine furchtbare Begünstigung sei. Ich war durchnäßt und konnte die Kleider nicht wechseln; hatte weder etwas zu essen, noch etwas zu meiner Stärkung zu trinken; keine andere Aussicht bot sich mir, als Hungers zu sterben oder von den wilden Thieren gefressen zu werden; und, was mich besonders bekümmerte, ich besaß keine Waffen, um irgend ein Thier zu meiner Nahrung zu tödten, oder mich gegen andere, die mich zu der ihrigen zu verwenden Lust hätten, zu wehren. Nichts trug ich bei mir als ein Messer, eine Tabakspfeife und ein wenig Tabak in einem Beutel. Dies war meine ganze Habe, und ich gerieth darob in solche Verzweiflung, daß ich wie wahnsinnig hin und her lief. Die Nacht kam, und ich begann schweren Herzens zu überlegen, was mein Loos sein würde, wenn es hier wilde Thiere gäbe, von denen ich wußte, daß sie stets des Nachts auf Beute auszugehen pflegen.

Die einzige Auskunft, die mir einfiel, war, einen dicken buschigen Baum, eine Art dorniger Fichte, die in meiner Nähe stand, zu erklettern. Ich beschloß, dort die ganze Nacht sitzen zu bleiben und am nächsten Tag die Art, wie ich meinen Tod finden wolle, zu wählen, denn auf das Leben selbst hoffte ich nicht mehr. Ich ging einige Schritte am Strande her, um nach frischem Wasser zu suchen: das fand ich denn auch zu meiner großen Freude. Nachdem ich getrunken und etwas Tabak in den Mund gesteckt hatte, um den Hunger abzuwehren, erstieg ich den Baum und versuchte mich in demselben so zu lagern, daß ich im Schlafe nicht herunter fallen könnte. Vorher hatte ich mir einen kurzen Stock, eine Art von Prügel zu meiner Vertheidigung abgeschnitten, und dann verfiel ich in Folge meiner großen Müdigkeit auf dem Baum in einen tiefen Schlaf und schlief so erquickend, wie es wohl Wenige in meiner Lage vermocht hätten. Nie im Leben hat mir, glaube ich, der Schlummer so wohl gethan wie damals.

Daniel Defoe: Robinson Crusoes Leben und seltsame Abenteuer

Martin Walser: Das dreizehnte Kapitel

    Ich bin Schriftsteller genug, dass ich auch dann noch schreibe, wenn ich weiß oder annehmen muss, dass kein Mensch mich noch liest. Im Gegenteil, nicht mehr gelesen zu werden befreit von jener nie ganz zu überwindenden Schwäche, verständlich sein zu müssen.
    Martin Walser: Das dreizehnte Kapitel (S. 181)

Zu Martin Walsers letztem Buch Muttersohn sah es die Süddeutsche so, dass Walser sich wohl „selbst genügt und ein landläufiges Gelingen gar nicht im Sinn“ habe. Und jetzt diese beiden Sätze in Walsers neuem Roman Das dreizehnte Kapitel. Will sich Walser wirklich von dieser Schwäche, verständlich sein zu müssen, befreien?

Wer sich im Walser-Kosmos halbwegs auskennt, wird sich von diesen Sätzen nicht erschrecken lassen. Walser bleibt ‚verständlich’, wenn sich mancher neue Leser von dieser Wortgewalt auch eher erschlagen fühlen dürfte, von dieser Schreib- und Empfindungskunst, die so wenig zeitgemäß erscheint. Walser versteht es auch heute noch mit 85 Jahren Sätze zu schmieden, die mehr Geist besitzen als all das Geschwätz, mit dem wir tagtäglich konfrontiert werden.

    Martin Walser: das dreizehnte Kapitel

Die meisten leiden ohne Gewinn – so steht es im Roman Das dreizehnte Kapitel, der ebendiesen Satz widerlegen will. Mit einem Festessen im Schloss Bellevue fängt es an: Ein Mann sitzt am Tisch einer ihm unbekannten Frau und kann den Blick nicht von ihr lösen. Wenig später schreibt er ihr, und zwar so, dass sie antworten muss. Es kommt zu einem Briefwechsel, der von Mal zu Mal dringlicher, intensiver wird. Beide, der Schriftsteller und die Theologin, beteuern immer wieder, dass sie glücklich verheiratet sind. Aber sie gestehen auch, dass sie in dem, was sie einander schreiben aus sich herausgehen können wie nirgends sonst und dass sie ihre Ehepartner verraten. Nur weil ihr Briefabenteuer so aussichtslos ist, darf es sein. An ein persönliches Treffen ist nicht zu denken. Die Buchstabenketten sind Hängebrücken über einem Abgrund namens Wirklichkeit.

    „Unsere Buchstabenketten sind Hängebrücken über einem Abgrund namens Wirklichkeit.“, nennt es der Schriftsteller (S. 111), was die Theologin konkretisiert: „… Unsere Brücke wird in die Luft gebaut. Sie hat drüben noch keinen festen Punkt erreicht. […] : das In-die-Luft-gestellt-Sein.“ (S. 119)

Eines Tages teilt die Theologin mit, ihr Mann sei schwer erkrankt. Während sie auf einer Fahrradtour durch Kanadas Wildnis mit ihm noch einmal das Leben feiert, wartet der Schriftsteller auf Nachrichten. Als wieder eine eintrifft, wirft sie alles um.

Martin Walsers Roman über eine Liebe, die als Unmöglichkeit so tiefgründig und lebendig ist wie kaum etwas, kreist auf schwindelerregende Weise um das Wesen der menschlichen Existenz. Und führt dabei vor Augen, dass ein Lieben ohne Hoffnung auf Hoffnung das eigene Leben erst empfindbar macht. Ein bewegender, lebenskluger, ja aufregender Roman über eine Frau und einen Mann, die gerade durch die Unmöglichkeit ihrer Liebe zu einer noch nie erfahrenen Gefühlsheftigkeit gesteigert werden.
(aus dem Klappentext zum Roman – 1. Auflage September 2012)

Oder mit eigenen Worten: Basil Schlupp, der Schriftsteller, und seine Frau Iris sind zu einem Empfang beim Bundespräsidenten eingeladen. Gefeiert werden soll der Molekularbiologe Korbinian Schneilin, der sich nicht mehr der Forschung widmet, sondern mit seiner Firma der Produktion von „Medikamenten nach Maß“ widmet. Aus der Ferne sieht Schlupp die Frau des zu Feiernden, eine Theologin, und ist fasziniert von ihr. Von Befallenheit ist später die Rede.

Schlupp wagt es, der Frau des Wissenschaftlers zu schreiben. Und, was vielleicht nicht zu erwarten ist, sie antwortet. So entwickelt sich ein Schriftwechsel, der beiden Gelegenheit zu kleinen Denkspaziergängen, Gefühlsanalysen und Reflexionen über Briefe an sich gibt. Dabei stürzt sich jener Basil Schlupp Hals über Kopf in ein irrwitziges Liebesabenteuer, das allein in seinem Kopf und auf dem Papier stattfindet. Bis auf wenige Einschübe handelt es sich bei diesem Buch also um einen Briefroman.

Die Kritiken sind überraschend wohlwollend. Selbst auf welt.de ist zu lesen: „Diesmal keine Dirty-Old-Man-Fantasie unseres Dichterfürsten, sondern ein sich von einem Brief- in einen E-Mail-Roman verwandelnder hochgeistiger Schlagabtausch zwischen Autor und Theologin. Gott sei Dank lebt die Sprache in Zeiten des Internets – noch.“

„Seit einem halben Jahrhundert ist Martin Walser unser Gewährsmann für Liebe, ehe, Glaube und deutsche Befindlichkeiten. Die Vermessung der Ausdruckswelt, des Daseins als Abfolge schwankender Empfindungen – das ist seine große Stärke.“ (Felicitas von Lovenberg – Frankfurter Allgemeine Zeitung)

„Martin Walser ist einer der wichtigsten Schriftsteller, die wir haben. Sein Gedächtnis, seine Genauigkeit in der Betrachtung von menschlichen Verhältnissen und Unverhältnissen ist unerreicht, seine sprachliche Risikobereitschaft ist beispielhaft. Er geht in jeder Hinsicht aufs Ganze. Kurz, Martin Walser ist ein Dichter.“ (Frank Hertweck, SWR)

Personen im Roman:

Basil Schlupp, Schriftsteller (Verfasser von „Strandhafer“ – arbeitet zz. an „Sternstaub“)
Iris, geborene Tobler, Ehefrau (ca. 55 Jahre alt) – Haldenberg-Projekt (TV-Jugendsendung)
Beatus Niederreither, Architekt (ehemaliger Geliebter von Iris)

Maja Schneilin, geborene Schneilin (ca. 44 Jahre alt), Theologin
Korbinian, ihr Ehemann
Roderich Wegelin, der Fahrer

Luitgard und Ludwig Froh, Freunde von Korbinian (und Maja)

Ein realer Ausgangspunkt ist die Beziehung des Theologen Karl Barth zu Charlotte von Kirschbaum, seiner Assistenten. Barth ist mit seiner existenzphilosophisch grundierten Theologie Vorbild für Maja Schneilin. Bei ihm, Karl Barth, findet sich gewissermaßen das Drehbuch für ihren Schriftwechsel mit dem Schriftsteller. „Mit ihm, dem «Lehrer aller Lehrer», wie sie sagt, imponiert sie erst dem Schriftsteller, später gesteht sie, wie sehr er sie aus allen Halterungen gerissen habe.

Es kommt noch besser: Sie lese nun, schreibt sie später, Barths Briefwechsel mit seiner Mitarbeiterin und Geliebten Charlotte von Kirschbaum. Das Buch ist ihr Offenbarung und Ansporn zugleich. Dieser neue Karl Barth mache sie «als Briefschreiber so schwach und so stark, wie ich noch nie war». Und sie empfiehlt die Lektüre auch Basil, auf dass die Briefe ihn ähnlich stimmen sollen. Und er – immerhin Katholik – noch gleichentags per Mail: Er lasse für Karl Barth eine Messe lesen. – Das sieht nach Ironie und Sarkasmus aus, doch dann folgt der entscheidende Satz, zum Zeichen, wie gelehrig er ist: «Mein Interesse für das Mögliche schrumpft.» Das Mögliche, erfüllte Liebe, physisches Zusammensein also: Es verblasst neben dem anderen, dem Imaginären, dem Unmöglichen.“ (Quelle: nzz.ch)

Walser wäre nicht Walser, wenn er nur scheinbar hochtrabend daherschriebe. Alles hat eine ironische Seite. Und manche ‚Erwähnungen’ in den Briefen, besonders die, die bezogen sind auf die Freundschaft von Majas Ehemann Korbinian zu Ludwig Froh, haben sarkastische Züge, die allein schon das Lesen des Romans lohnenswert machen.

Übrigens: das „13. Kapitel“ ist eigentlich ein Buch, ein loses Zettelwerk, an dem die Frau des Schriftstellers arbeitet. Einige dieser Zettel ‚verrät’ Basil Schlupp an die Theologin, u.a. steht dort:

„Wenn du mit niemanden offen sein kannst, bleibt nur noch das Schreiben.“ (S. 94) – oder auch der schon im Klappentext erwähnte Satz: „Die meisten leiden ohne Gewinn.“ (S. 95). Am Schluss des Romans, in dem alles umgeworfen ist, verbrennt Iris Schlupp, die Ehefrau, ihren Romanversuch, womit der Titel frei wird für den Ehemann, dem sie ihn großzügig überlässt. Frei auch als Titel für Walsers Roman.

Zuletzt noch etwas zu den Namen, die Walser immer wieder gern benutzt. Die stammen überwiegend aus dem alemannischen Sprachraum, also Walsers Heimat. Bei Basil Schlupp musste ich unwillkürlich an Nacke Dominik Bruut aus Walsers Roman Das Einhorn denken. Und Schlupp(en) gibt es auch im ‚Kinderprogramm‘.

Lesenswert ist auch die Rezension auf sueddeutsche.de/kultur: Walsers großes Werk der Liebe, in der eine Verbindung zu Franz Kafkas Korrespondenz mit seiner Verlobten Felice Bauer hergestellt wird. Dieser Briefwechsel begann am 20. September 1912. Fast auf den Tag genau einhundert Jahre später ist nun Walsers Roman erschienen.

Siehe auch meinen Beitrag: Martin Walser und die literarische Verlustanzeige
Übrigens: Walsers Tagebuch wurde bisher noch NICHT gefunden

Heute Ruhetag (24): Giacomo Casanova – Erinnerungen

Giacomo Girolamo Casanova (1725 – 1798) war ein venezianischer Schriftsteller und Abenteurer des 18. Jahrhunderts, bekannt durch die Schilderungen zahlreicher Liebschaften. So wurde die reale Person Casanova bereits im 19. Jahrhundert zur Figur Casanova in verschiedenen künstlerischen Werken. Heute steht Casanova ganz allgemein als Synonym für einen Frauenverführer.

Seine Memoiren mit dem Titel „Geschichte meines Lebens“ zählen dabei längst zur Weltliteratur, da sie allein schon kulturhistorisch interessant sind. Denn in dem Werk breitet sich das gesamteuropäische 18. Jahrhundert vor unseren Augen aus: Durch seine Reisen, bei denen er europäische Höfe und Metropolen besuchte, hatte er Kontakt zu bedeutenden Personen seiner Zeit. Er kannte die Päpste Benedikt XIV. und Clemens XIII., sprach mit Friedrich dem Großen und der Zarin Katharina II.. Neben den Herrschern war ihm auch die geistige Elite Europas vertraut: Da Ponte, Voltaire, Crébillon, von Haller, Winckelmann und Mengs zählten zu seinen Bekannten. Doch auch die soziale Unterschicht kommt in seinen Erinnerungen vor.

Hermann Kesten beschrieb dieses Pandämonium so: „Das ganze 18. Jahrhundert tummelt sich in seinen Memoiren und lacht, und räsoniert, und hurt, in keinem anderen Buch ist es so lebendig, so deutlich, so zum Riechen, Fühlen, Schmecken nah.“

Heute Ruhetag = Lesetag!

Vor allen Dingen erkläre ich meinem Leser, daß ich überzeugt bin, bei allem, was ich im Laufe meines Lebens Gutes oder Böses getan habe, für den guten oder bösen Ausgang selber verantwortlich zu sein. Es folgt daraus, daß ich an die Freiheit des Willens glaube.

[…]

Der Mensch ist frei; aber er ist nicht mehr frei, wenn er nicht an seine Freiheit glaubt. Je mehr Macht er dem Schicksal beimißt, desto mehr beraubt er sich selber jener Macht, die Gott ihm verlieh, indem er ihn mit Vernunft begabte. Die Vernunft ist ein Bruchteilchen der Göttlichkeit des Schöpfers. Wenn wir uns ihrer bedienen, um demütig und gerecht zu sein, so werden wir unfehlbar Ihm, der sie uns geschenkt hat, wohlgefällig sein. Gott hört nur für die auf, Gott zu sein, die sich sein Nichtvorhandensein als möglich denken können. Diese Vorstellung muß für sie die größte Strafe sein, die sie erleiden könnten.

Aber wenn nun auch der Mensch frei ist, so dürfen wir doch nicht glauben, daß er das Recht habe, zu tun, was er will. Denn er wird Sklave, so oft er sich von einer Leidenschaft zum Handeln fortreißen läßt. Nisi paret, imperat. – Wenn sie nicht gehorcht, befiehlt sie. Wer stark genug ist, seine Handlungen so lange aufzuschieben, bis er wieder ruhig geworden ist, der ist wahrhaft weise. Aber solche Menschen sind selten.

aus: Erinnerungen – Band 1 – Vorrede

Giacomo Casanova Manuskript - Kapitel 1 - Seite 1

Don Jacob Casanova, geboren zu Saragossa, der Hauptstadt von Aragonien, natürlicher Sohn Don Franciscos, entführte im Jahre 1428 Donna Anna Palafor aus dem Kloster; dies geschah einen Tag, nachdem sie ihr Gelübde abgelegt hatte. Er war Geheimschreiber des Königs Alfonso. Er floh mit ihr nach Rom, wo Anna ein Jahr im Gefängnis zubringen mußte; nach Verlauf dieser Zeit entband Papst Martin der Dritte sie von ihrem Gelübde und gab ihrer Ehe seinen Segen auf Empfehlung des Don Juan Casanova, Haushofmeisters des Allerheiligsten Palastes und Oheims des Don Jacob. Die aus dieser Ehe hervorgegangenen Kinder starben sämtlich in zartem Alter mit Ausnahme Don Juans, der im Jahre 1475 Donna Eleonora Albini heiratete und von ihr einen Sohn, Namens Marco Antonio, hatte.

aus: Erstes Kapitel – Nachrichten aus meiner Familie – Meine Kindheit

Giacomo Casanova: Erinnerungen – Band 1Band 2Band 3Band 4Band 5Band 6

Martin Walser und die literarische Verlustanzeige

Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen, heißt es. Oder wie der Angelsachse sagt: The laugh is always on the loser. Womit wir bereits beim Kern der Sache wären: Da lässt ein Schriftsteller sein Tagebuch mit Skizzen und Notizen im Zug liegen. Und schon stürzt sich eine Meute auf den armen Mann, um ihn, den Verlierer (Versager), noch mit Hohn zu verlachen (The laugh is always on the loser).

Wie geschrieben hat Martin Walser sein in rotes Leinen gebundenes Tagebuch im Zug von Innsbruck nach Friedrichshafen vergessen: „Drin kein Name, keine Adresse. Ich hatte ja nicht vor, es liegen zu lassen“. Und schon witzelt frau in welt.de: „Martin Walser sorgt wieder einmal für einen Skandal: Er hat sein Leben liegen lassen.“ – und zieht über Walsers bisher veröffentlichte Tagebücher her. Und weiter: „Dann bot Walser der Nachrichtenagentur dpa ein Interview an. Darin stehen nun so Sätze wie ‚Wenn etwas verloren ist, entsteht ein Gefühl. Nichts entwickelt sich in uns zu solcher Deutlichkeit wie Verlorenes. Aber nur das Verlustgefühl nimmt zu, das Verlorene selbst bleibt verloren.’ Walser hat damit eine neue Kunstgattung erfunden. Neben dem literarischen Tagebuch gibt es jetzt auch die literarische Vermisstenanzeige. Immerhin hat er ‚ein aufgeschriebenes Leben im Zug liegen’ lassen. Nie wieder wollen wir an Laternenpfählen ‚Schlüsselbund verloren’ lesen. Sondern vielleicht ‚Der Zugang zum Heim, zur eigentlichen Heimat ist uns verwehrt. Heimlicher Schmerz, Heimatschmerz’. Oder so ähnlich.“

Erst einmal sollte es Verlustmeldung oder Verlustanzeige heißen, nicht Vermisstenanzeige, denn Herr Walser hat nur sein Tagebuch im Zug vergessen und vermisst keinen lieben Menschen (das vielleicht in seinem Alter auch, aber davon ist hier ja keine Rede). Martin Walser neigt nun einmal zu ‚Wortgewalt’ und äußert sich vielleicht auch in so profanen Dingen wie den Verlust eine Sache als Dichter. Aber es ist ja nicht nur eine Sache, die er verloren hat, es sind handschriftliche Aufzeichnungen von rund 200 Seiten, deren idealen Wert man durchaus erahnen kann. Inzwischen hat Walser selbst den Finderlohn von 3000 €, die sein Verlag aussetzte, um eigene 2000 € erhöht.

    Martin Walser: Leben und Schreiben - Tagebücher

Aber irgendwie kommt es noch dicker. In gewissen unernsten Betrachtungen äußert man sich bei nw-news.de wie folgt: „Unbestätigten Branchengerüchten zufolge, hat Walsers Verlag die Beseitigung des Tagebuchs in Auftrag gegeben. Zum einen, weil der Autor mit Hinweis auf Thomas Manns Notate (‚Verdauungssorgen und Plagen’) auf einer Veröffentlichung bestanden haben soll. Zum andern, weil ihn der Eintrag ‚Eines Tages bringe ich Reich-Ranicki um’ in unnötige Schwierigkeiten bringen könnte. Walser hofft noch, dass das Tagebuch wieder auftaucht. ‚Für den Schriftsteller’, sagt er, ‚wäre es eine Erlösung.’ Wir armen Leser müssen ihn ja nicht kümmern.“

Ob sich sein Tagebuch nun endlich angefunden hat, ist zz. nicht zu erfahren. Wollen wir es für Martin Walser hoffen. Immerhin steht er nicht allein da. T.E. Lawrence, bekannt geworden als „Lawrence von Arabien“, vergaß 1919 in einem Bahnhofscafé das einzige Manuskript von „Die sieben Säulen der Weisheit“. Er fand es nie wieder und musste alles neu schreiben. Auch Heimito von Doderer oder Alfred Polgar verloren Manuskripte. Die meisten unwiderruflich verlorenen Manuskripte sind aber Erstlinge, die bei den Verlegern verlegt werden (und zwar wörtlich) oder sich schon vorher auf dem Postweg in Luft auflösen. Arthur Conan Doyle traf es ebenso wie Henry Miller (Quelle: diepresse.com).

Hier findet sich ein Hinweis auf den Roman „Lila, lila“ von Martin Suter, der auch verfilmt wurde, in dem ein Manuskript in der Schublade eines Nachtschränkchens verschollen geht und von einem jungen Mann auf dem Flohmarkt gefunden wird. Er veröffentlicht es unter seinem Namen und wird berühmt, irgendwann aber bittet der wahre Autor bei einer Lesung um ein Autogramm. Nun Martin Walser hat ja wenigstens kein vollständiges Manuskript verloren.