Archiv für den Monat: Oktober 2010

Bruchreif

Roger Barlow (Christopher Walken) liebt „The Lonely Maiden“. Seit Jahren bewundert der Museums-Aufseher Tag für Tag dieses für ihn vollkommene Gemälde einer jungen Schönheit. Wird eine Touristen-Gruppe von einer Führerin auch nur im Detail falsch informiert, schreitet er sofort ein. Denn er weiß einfach alles über das Werk. Doch dann kommt der Schock: Sein Arbeitgeber hat eine Partnerschaft mit einem dänischen Museum beschlossen, die einen Exponaten-Tausch vorsieht. Das Kunstwerk soll tatsächlich skandinavischen Avantgarde-Stücken weichen. Dem Gästebetreuer Charles (Morgan Freeman) geht es ähnlich wie Roger: Seit Jahrzehnten verbringt er die Tage vor und mit seinem persönlichen Lieblingsgemälde, doch nun muss er sich bald verabschieden. Wenn die beiden Museumsbediensteten nicht nach Dänemark ziehen wollen, dann müssen sie einen Weg finden, die Kunstwerke bei sich zu behalten. In Nachtwächter George (William H. Macy), der das Zwangsexil einer bewunderten Statue eines nackten Mannes verhindern will, finden Roger und Charles einen weiteren Verbündeten für einen ausgeklügelten Plan: Sie wollen die Kunstwerke in einer waghalsigen Mission vor dem Transport in das so weit entfernte Dänemark bewahren. Doch dafür müssen die drei angehenden Gauner erst einmal an Rogers Frau Rose (Marcia Gay Harden) vorbei…

aus: filmstarts.de


Bruchreif – Trailer

Christopher Walken, Morgan Freeman und William H. Macy zählen zu den Altmeistern unter den Charakterdarstellern Hollywoods. Wenn dieses Trio als frustrierte Museums-Mitarbeiter chaotisch den Raub ihrer liebsten Exponate planen, dabei fast an einer etwas zu überdrehten Frau scheitern und dazu typische Kniffe des „Raub“-Films zur Anwendung kommen, sollte Unterhaltung auf gehobenem Niveau garantiert sein. Sicherlich gibt es auch viele köstliche Szenen und allein die Idee ist gut, aber insgesamt kommt der Film nicht über ein Mittelmaß hinaus. Aufgrund einer Pleite des Verleihers schaffte es der Film so nicht ins Kino – und ist jetzt auf DVD Bruchreif erhältlich.

Liegt es an meinem Alter, dass ich in letzter Zeit öfter Filme mit Rentnern oder Fast-Rentnern sehe? Es war übrigens auch Morgan Freeman, der in „Das Beste kommt zum Schluss“ (siehe meinen Beitrag Den Frieden finden), einen dem Tode geweihten alten Mann spielte. Freeman also als Rentner vom Dienst in Hollywood?

Wie gesagt: Die Idee zum Film ist eigentlich sehr gut. Und bei dieser Schauspielerriege hätte es auch ein geradezu aberwitziger Film werden können. Es mag wohl am Regisseur Peter Hewitt liegen, der nicht gerade zur Liga der guten Filmmacher zählt und bisher nur mit Werken wie den unterirdischen „Garfield“ glänzte, dass am Ende nur Hausmannskost herauskam. Auch die mag schmecken, reiß aber keinem vom Hocker.

Übrigens: Da ich ziemlich neugierig bin, so interessierte es mich, von wem das eine Bild stammt, die einsame Maid. „The Lonely Maiden“, das nicht unwesentlich eine wichtige Rolle in dem Film spielt. Das Bild hat ein noch ziemlich jungen Maler aus Los Angeles gemalt: Jeremy Lipking

Jeremy Lipking: The Lonely Maiden

Der Witzableiter (20): Die Angst vor der Lust

Fortsetzung von: (19): Von Claudias neuen Kleidern

In der Kolumne „Der Witzableiter“ von Eike Christian Hirsch, die 1984 im ZEITmagazin erschien, geht es heute nochmals um Sex-Witze. Dabei erfahren wir zusätzlich etwas über die Prüderie von vor 25 Jahren.

Das Buch zur Kolumne: Eike Christian Hirsch – Der Witzableiter: Oder Schule des Lachens

Die allzu üppige Stewardeß steckt den Kopf durch die Tür zum Cockpit und fragt den Kapitän: „Would you like coffee or milk?“ Der Kapitän dreht sich herum, starrt auf den Busen der neuen Kollegin und fragt: „Which one is coffee and which one is milk?“

Der einzige Autor, der sich ausgiebig mit dem schmutzigen Humor beschäftigt hat, der Amerikaner Gershon Legman, ist der Meinung, Sex-Witze seinen für den, der sie macht, nicht das reine Vergnügen. Sie dienten vor allem dazu, latente Ängste zu lindern. Es sei eine Art Selbsttherapie mit dem Zweck, die „tiefe Angst“ vor der Sexualität „loszuwerden“. Das klingt dann so:

Ein Börsenmakler sagt leise unter der Bettdecke zu seiner Frau: „Die Aktien steigen, der Kurs ist fest.“ „Nein“, antwortet sie, „die Börse ist geschlossen.“ Brummend dreht sich der Makler auf die Seite. Nach einer Weile hat es sich die Frau überlegt und sagt: „Liebling, die Börse ist jetzt geöffnet, ich nehme die Aktien zum Höchstpreis“. „Zu spät“, brummt der Ehemann, „ich habe sie gerade unter der Hand verschleudert.“

Vielleicht ist Legmans These von der männlichen Angst auch nur Ausdruck von Selbstmitleid. Die streitbare Autorin Karin Huffzky hat ihn jedenfalls einen Frauenhasser genannt. Kein Wunder, denn viele dieser Witze machen nun wiederum Frauen angst. Also scheint Angst so oder so im Spiel zu sein.

Diese Behauptung, bei Witzen sei immer Angst dabei, mag Sie, liebe Leserin, lieber Leser, wundern oder gar ärgern. Ich habe mich darüber, als ich zuerst davon hörte, auch gewundert. Inzwischen glaube ich es. Bei diesem Beispiel geht es etwa um die Angst der Frauen vor zu großer (und um die Angst der Männer vor der eignen geringen) Potenz:

Im Zoo zeigt der kleine Junge auf einen Elefanten: „Was ist das, was da so runterhängt?“ Das junge Kinderfräulein sagt: „Das ist der Rüssel.“ „Nein, ich meine hinten.“ „Das ist der Schwanz.“ „Nein, da so unterm Bauch!“ „Ach“, sagt das Kindermädchen verlegen, „das ist gar nichts.“ „Oha“, brummt ein Herr, der dabeisteht, „mein Fräulein, Sie sind verwöhnt.“

Natürlich machen Witze auch Lust. Das ist sogar die Funktion, die wir an ihnen allein wahrnehmen. Gerade das Thema Sexualität ist an sich schon lustvoll. Freilich darf man auch nicht vergessen, daß uns allen diese Lust auch einmal ausgetrieben worden ist. Mehr oder weniger gilt sie im Alltag als verpönt. Das macht Sex-Witze zugleich begehrt und gefährlich. Strafangst kommt auf. Bei diesem Exemplar habe ich besondere Hemmungen, es Ihnen vorzuführen:

„Stell dir vor“, sagt die ältere Krankenschwester zu ihrer jungen Kollegin, „der Seemann auf Zimmer acht ist tätowiert, sogar auf dem Glied. Da steht ‚Rumbalotte’ oder so ähnlich.“ Die junge Schwester kommt nach einer halben Stunde zurück und sagt: „In Wirklichkeit steht da: ‚Ruhm und Ehre der Baltischen Flotte’.“

Witzableiter (20)

Alles, was Spaß macht, ist entweder verboten, macht dick oder ist unmoralisch. Dieser moderne Stoßseufzer läßt sich gut auf Witze abwandeln. Alles, wovon Witze handeln, macht Spaß und ist doch verboten. Wenn wir für einen Augenblick das heutige Thema Sex verlassen, können wir schnell mal aufzählen, wovon Witze sonst noch handeln: vom lustigen Unsinn, von Haß und Grausamkeiten, von Schadenfreude und unserem Wunsch nach Überlegenheit. Alles lustvoll und unerlaubt. Daher die Angst.

Die Straßenbahn ist überfüllt. Die junge Dame dreht sich um und sagt zu dem Mann hinter ihr: „Bitte, drängen Sie nicht so!“ „Entschuldigen Sie“, sagt er, „aber ich habe heute eine Zulage in Hartgeld ausgezahlt bekommen.“ „Nun sagen Sie bloß noch“, zischt die Frau, ohne sich umzudrehen, „Sie hätten seit der vorletzten Haltestelle auch noch eine Gehaltserhöhung bekommen.“

Vielleicht ist Ihnen die These, alle Witze handelten unbemerkt auch von der Angst, nun nicht mehr so fremd. Diese Ansicht wird jedenfalls seit Jahrzehnten von mehreren Forschern vertreten. Dabei wird immer vorausgesetzt, daß das Ferment Angst die Lust nur noch steigern kann. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, daß Angst-Lust das Gefühlspaar ist, das letztlich jeden Witz bestimmt. In diesem Fall scheint das besonders deutlich:

Ein älterer Herr, offenbar stark angetrunken, steht in der Toilette des vornehmen Hotels und wühlt in seiner Hose. Dabei murmelt er immer wieder etwas vor sich hin. Der Toilettenwärter geht näher ran und hört: „Komm raus, du Feigling, du brauchst nur zu pinkeln.“

Was verboten ist, das macht uns gerade scharf. Das gilt auch von der verdrängten Lust. Die verbotenen Früchte sind auch im Witz die süßesten. Selbst das Lachen wird erst recht unwiderstehlich, wenn man es unterdrücken muß. So paradox das klingt: ohne Erziehung und Tabus hätten wir kaum was zu lachen.

Knecht Ruprecht kommt nach alter Sitte durch den Schornstein und landet in einem Zimmer, wo eine wunderschöne Frau nackt auf dem Sofa liegt. Er legt die Geschenke ab und ist unschlüssig, ob er sich der Frau nähern soll. „Tu ich’s, dann komme ich nicht wieder in den Himmel“, sagt er sich, „tu ich’s nicht, komm ich nicht wieder durch den Kamin.“

Ich schließe mit einer Geschichte, die bei meinem kleinen Test besonders umstritten war. Der Fabrikant kommt nach Hause und muß seiner Frau erklären, woher er das blaue Auge hat. „Mir fehlte ein Hosenknopf. Da habe ich unsere Hausmeistersfrau gebeten, ihn mir anzunähen. Das tat sie auch, ich behielt natürlich die Hose an.“ „Das ist doch kein Grund für ein blaues Auge!“ „Nein, natürlich nicht, aber ihr Mann kam rein, als sie gerade den Faden abbiß.“

Eike Christian Hirsch – Der Witzableiter (Kolumne in 25 Teilen)
aus: ZEITmagazin – Nr. 47/1984

[Fortsetzung folgt]

Symbolische Aktion: Werder friert Gehälter der Spieler ein

So etwas hat es bisher nicht gegeben: Die Geschäftsführung des Bundesliga-Fußballvereins SV Werder Bremen soll Teile des Septembergehalts seiner Spieler nicht ausgezahlt, sondern vorläufig eingefroren haben. Grund: Die schlechte Leistung der Spieler. Klaus Allofs, Werders Sportdirektor: „Zu schlecht, um wahr zu sein“

Diese Aktion schlägt natürlich hohe Wellen. Sicherlich könnten Spieler versuchen, ihre vertraglich zugesichertes Gehälter vor Gericht einzuklagen. Außerdem droht ein Imageverlust für den Verein, der sich gerne als große grün-weiße Familie darstellt. Oder muss Werder womöglich Geld sparen?

Aber es gibt nicht nur Kritik. In vielen Online-Beiträgen kommen die Gehaltskürzungen gut weg; enttäuschte Anhänger befürworten die Maßnahme. Hier und da wird sogar – halb im Spaß, halb im Ernst – die Frage gestellt, ob der Trainer von dem Vorgehen ebenfalls betroffen sei.

Der Sportpsychologe Bernd Strauß hält die Maßnahme keinesfalls für abwegig. „Das ist sicher eine ungewöhnliche Aktion, aber gerade solche eignen sich, um wirklich aufzurütteln“, sagt der Professor der Uni Münster und ehemalige Präsident der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft. „Das kann eine gute Maßnahme sein.“

Er sagt weiter: „ich finde es positiv, dass hier nicht einzelne Spieler oder der Trainer als Sündenböcke herausgepickt werden. Hier geht es um die Symbolik. Es wurde ein ganz klares Zeichen an die Mannschaft gesetzt: Es ist ernst, und ihr als Spieler seid gefordert, Verantwortung zu übernehmen. Natürlich ist das nicht ohne Risiko, aber das kann positive Gruppenprozesse in Gang setzen.“

Ich schließe mich dem voll und ganz an. Diese außergewöhnliche Aktion hat Symbolcharakter. Die Gehälter werden mit Sicherheit nachgezahlt. Eine gerichtliche Auseinandersetzung ist nicht von Nöten. Schlimmer hätte es die Spieler getroffen, wenn sie zu einer Geldstrafe verdonnert worden wären. Weil die Aktion so neu ist, ist die Aussicht, dass sie fruchtet, ziemlich groß. Sportpsychologe Bernd Strauß: „Es wurde ein ganz klares Zeichen an die Mannschaft gesetzt: Es ist ernst, und ihr als Spieler seid gefordert, Verantwortung zu übernehmen. Natürlich ist das nicht ohne Risiko, aber das kann positive Gruppenprozesse in Gang setzen.“

Hoffen wir, dass die Aktion fruchtet …!

Schneller geht’s

Heute in aller Schnelle: SpeedPlus heißt das Zauberwort – wenigstens bei strato.de. Was heißt das? Höhere Geschwindigkeit für meine Internetpräsenz!

Auf gut Deutsch: Diese Website, www.willizblog.de, wird nach einem Plattformumzug schneller geladen, mit der neuen Technologie werden z.B. CMS-Systeme optimiert, wie man so schön sagt.

Oder wie es werbeträchtig heißt:

Bei STRATO arbeiten wir stets daran, Ihnen ein optimales Preis-Leistungsverhältnis zu bieten. Hierzu gehört vor allem die bestmögliche Leistung Ihrer Internetpräsenz.

Für Bestandskunden mit PHP Unterstützung bieten wir den kostenlosen Umzug auf die STRATO x86-Plattform an. Die x86-Plattform ist die neueste und innovativste Plattformtechnologie, die zukünftig von STRATO zum Hosting Ihrer Internetpräsenzen verwendet wird. Sie bietet Ihnen eine Umgebung, die speziell für Ihre Anwendungen optimiert wurde. Serverseitige Skript- und Datenbankoperationen (z. B. PHP-Skripte) können so über die neue Plattform bis zu 10 mal schneller abgearbeitet werden.

Und ja: Mein Weblog wird wirklich wesentlich schneller im Webbrowser aufgerufen. Schöne Sache!

Mario Vargas Llosa: Das grüne Haus

El Sargento echa una ojeada a la Madre Patrocinio y el moscardón sigue alli. La lancha cabecea sobre las aguas turbias, entre dos murallas de ároles que exhalan un vaho quemante, pegajoso. Ovillados bajo el pamacari, desundos de la cintura para arriba, los guardias duermen abrigados por el verdoso, amaerillento sol del mediodia : la cabeza del Chiquito yace sobre el vientre del Pesado, el Rubio transpira a chorros, el Oscuro gruñe con la boca abierta. Una sombrilla de jejenes escolta la lancha, entre los cuerpos evolucionan mariposas, avispas, moscas gordas. El motor ronca parejo, se atora, ronca y el práctivo Nieves llerva el timon con la izquierda, con la derecha fuma y su rostro, .. muy bruñido, permonece inalterable bajo el sombrero de paja ..

Der Sargento wirft einen Blick auf Madre Patrocinio und die fette Schmeißfliege sitzt immer noch da. Das Motorboot hopst auf den trüben Wellen dahin, zwischen zwei Mauern aus Bäumen, die einen stickigen, heißen Dunst ausatmen. Unter dem Sonnendach zusammengerollt, vom Gürtel aufwärts nackt, schlafen die Guardias, gewärmt von der grünlich-gelblichen Mittagssonne: Der Kopf des Knirpses liegt auf dem Bauch des Fetten, der Blonde ist in Schweiß gebadet, der Dunkle schnarcht mit offnem Mund. Ein Schirm aus Insekten begleitet das Boot, zwischen den Körpern kreisen Schmetterlinge, Wespen und dicke Fliegen. Der Motor rattert gleichmäßig vor sich hin, stottert, rattert wieder und der Lotse Nieves führt das Steuer mit der linken hand, mit der rechten raucht er und sein tief gebräuntes Gesicht unter dem Strohhut bleibt unverändert.

aus: Mario Vargas Llosa: Das grüne Haus (La casa verde, Barcelona 1965) – suhrkamp taschenbuch st 342 – 3. Auflage 1980 – Deutsch von Wolfgang A. Luchting

Mario Vargas Llosa
Foto: Daniele Devoti – Padova, Italien (13. Juni 2010)

So beginnt der 1965 erschienene Roman „Das grüne Haus“ (La casa verde) von Mario Vargas Llosa, der in diesem Jahr den Nobelpreis für Literatur erhält. Das Buch wird von einigen Kritikern als Vargas Llosas wichtigstes Werk und einer der bedeutendsten lateinamerikanischen Romane überhaupt angesehen. „Das grüne Haus“ kann als „Vargas Llosas komplexestes Werk gesehen werden, in dem die spezifisch lateinamerikanische Lebenserfahrung des Autors am reichsten Gestalten und Geschichten hervorgetrieben hat“. Der Roman führt in eine uns unbekannte Welt: Der Schauplatz ist eine vom Urwald geprägte, steinzeitlich wirkende und dünn besiedelte Amazonasregion mit Missionsstation und einer Garnison – kontrastiert mit einer europäisch beeinflussten Kleinstadt an der Küste mit Oberschicht, Kleinbürgertum, Elendsvierteln und dem außerhalb liegenden Bordell namens „casa verde“. In diesem Roman werden fünf kunstvoll parallel geführte Handlungsstränge, in denen Personen und Motive zum Teil aufeinander bezogen sind, zu einem Ganzen zusammengeführt. Fragmente der fünf Handlungsstränge werden in den einzelnen Kapiteln zunächst systematisch und später sporadisch aneinandergefügt, so dass sich der Eindruck einer Simultanbühne mit fünf Stücken ergibt. Die Handlungsstränge umfassen einen Zeitraum vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre:

· Die Missionsstation und das Schicksal eines geraubten, missionierten und später verstoßenen Indiomädchens namens „Bonifacia“, welches später im Bordell „casa verde“ arbeitet.
· Die Geschichte des japanischen Abenteurers „Fushia“, der sich ein Urwaldimperium errichtet hat.
· Das Schicksal des reichen Begründers des Bordells „casa verde“, „Don Anselmo“, und seiner Tochter „Chunga“.
· Die Machenschaften der Kautschukhändler, die Indios und Soldaten gleichermaßen zum Spielball ihrer Interessen machen.
· Die Beschreibung von vier Stammgästen des Bordells, den „Unbezwingbaren“, und der Beziehung ihres Anführers „Lituma“ zu der Prostituierten „Bonifacia“ (in diesem Handlungsstrang meist „Selvatica“ genannt).

Nordperu - Schauplatz: Das grüne Haus

Ich habe diesen Roman zum ersten Mal 1982 gelesen. Vargas Llosa setzte dabei Techniken beim Schreiben ein, die es dem Leser nicht immer einfach machen, sich zurecht zufinden. Vargas Llosa zielte darauf ab, beim Leser dieselbe Desorientierung hervorzurufen, die auch die Sinnsuche der Romanfiguren charakterisiere. Dafür benutzte er Techniken wie die Fragmentierung der Handlung, die bewusste Verwendung von Handlungslücken, die plötzliche und unvorbereitete Einführung neuer Situationen, das Einfügen von Fragmenten anderer Erzählungen, die Ineinanderschachtelung bzw. Verschränkung von Rahmenerzählungen, mythische Elemente, sowie die Verschiebung, Überblendung und Vermischung von Erzählperspektiven (Weiteres zu dieser so genannten Desorientierungstechnik).

Alle Werke in deutscher Sprache von Mario Vargas Llosa

Protagonisten: Das grüne Haus
meine handschriftliche Übersicht – Protagonisten aus: Das grüne Haus

Carajo, Caramba: Im Spanischen gibt es eine Reihe von Interjektionen (Ausrufe), die heute keinerlei definierten Bedeutungsgehalt mehr haben und lediglich verschiedene Grade von emotioneller Intensität – Überraschung, Staunen, Zorn, Ärger – ausdrücken. Die Intensitätshierarchie ist folgende:

am schwächsten – caramba;
stärker, aber durchaus noch salonfähig (wenn auch selten von Frauen benutzt) – caray;
schon sehr kräftig – caracho (sprich. ka’ratscho);
am gröbsten, beinahe unflätig klingt – carajo (sprich: ka’racho).

Diminutive (Verkleinerungswort, im Deutschen mit Endsilben –chen oder –lein): Ihre Funktion im Spanischen, ganz besonders im Hispanoamerikanischen, ist vielfältig. Sie bedeuten weniger eine Verniedlichung als eine affektive Betrachtung der jeweiligen Umstände, Personen oder Gegenstände. So mag man etwa hören, jemand sei schon en la mañanita aufgestanden. Also etwa „ganz, ganz früh am Morgen“ statt „früh morgens“ etc. In einigen Regionen Perus werden Diminutive ungewöhnlich häufig benutzt – etwa im Norden (Piura) oder in Lima, vor allem aber auch unter den Bewohnern der Sierra, also den Indios. Diminutive sind dabei keineswegs Substantiven vorbehalten: hasta lueguito (statt hast luego) etwa, was approximativ so etwas Ähnliches wie „bis nachherchen“ oder „bis späterchen“ wäre, drückt Freundschaftlichkeit, Zuneigung des Sprechers dem gegenüber aus, zu dem er es sagt.

aus: Mario Vargas Llosa: Das grüne Haus – suhrkamp taschenbuch st 342 – 3. Auflage 1980 – Anmerkungen von Wolfgang A. Luchting

… und so endet der Roman:

„Ich komm vorbei und hol Sie ab”, sagt Doktor Zevallos. „Dann gehen wir zusammen zur Totenwache. Versuchen Sie gute acht Stunden zu schlafen, mindestens.“
„Ich weiß, ich weiß“, knurrt Padre García. „Geben Sie mir doch nicht dauernd Ratschläge.“

– Yo pasaré a buscarlo – dice el doctor Zevallos -. Vendremos juntos al velorio. Trate de dormir unas ocho horas, lo menos.
– Ya sé, ya sé – gruñe el Padre García -. No me esté dando consejos todo el tempo.

Martin Walser: Leben und Schreiben: Tagebücher 1963-1973

Warum dieser Schmerz, mein Herz
warum dieses Weh, meine
Seele, warum diese Schwere
aller meiner Gedanken.

aus Martin Walser: Leben und Schreiben: Tagebücher 1963-1973
Tagebuch 1971, Seite 437 – Rowohlt Taschenbuch Verlag, Februar 2009

Tagebücher, selbst die von erlesenen Schriftstellern, sind nicht jedermanns Sache. Die sind manchmal Literatur pur (wie bei Max Frisch, dessen Tagebücher geradezu eine neue literarische Form begründeten) oder bei der Betrachtung und Beurteilung eines Schriftstellers unentbehrlich (wie bei Franz Kafka, dessen Tagebücher dazu beitragen, sein eigentlich literarische Werk zu verstehen).

In den letzten Jahren hat nun auch Martin Walser Tagebücher veröffentlicht:

Leben und Schreiben. Tagebücher 1951-1962, Rowohlt, Reinbek 2005
Leben und Schreiben. Tagebücher 1963-1973, Rowohlt, Reinbek 2008
Leben und Schreiben. Tagebücher 1974-1978, Rowohlt, Reinbek 2010

Lange habe ich mir überlegt, ob ich mir diese Tagebücher kaufen soll. Während meiner kleinen Rhein-Tour diesen Jahres, beim Aufenthalt in Düsseldorf, schaute ich mit meinen Söhnen auch in mehrere Buchläden hinein – und fand den 2. Band dieser Bücher (Tagebücher 1963-1973) als so genanntes Mängelexemplar für weniger als den halben Preis.

Tagebücher lassen sich nicht wie ein Roman in einem Rutsch lesen. Wenigstens ich kann das nicht. Mein Verdacht wurde in diesem Fall bestätigt: Martin Walsers Tagebücher können nicht mit seinen großen Romanen und Erzählungen ‚mithalten’. Das Urteil, sie wären langweilig, kann ich aber nicht bestätigen.

Erst einmal werden Tagebücher für den ‚privaten Gebrauch’ geschrieben. Das gilt in der Regel auch für Schriftsteller, es sei denn ihnen wird bewusst, dass die geschriebenen Tagebucheintragungen später einmal literarisch aufgearbeitet oder schon zu Lebzeiten veröffentlicht werden könnten. Die Tagebücher 1963-1973 von Martin Walser, so denke ich, waren sehr privater Natur. Er nutzte sie sicherlich für Skizzen zu späteren Werken; er entblätterte sich und sein Befinden in einer Weise, die selbst in späteren Werken so nicht vorkommt. „Was ich ins Tagebuch schreibe, ist prinzipiell unverbesserlich.“ Schreibt Walser in einem späteren Nachwort.

Im zweiten Band der Tagebücher hält Martin Walser seine Eindrücke während der Frankfurter Auschwitz-Prozesses fest, seine Reisen nach Moskau, Eriwan und Tbilissi, dann kreuz und quer durch Europa und Nordamerika.

Er kommentiert die Studentenproteste, spricht über durchzechte Nächte mit seinem Verleger und immer wieder über das Schreiben selbst: Erzählen ist ihm „der Versuch, mit geschlossenem Mund zu singen“. Seine Tagebücher gewähren überraschende Einblicke, sie zeigen „einen verletzlichen Martin Walser, den man bisher noch nicht kannte.“ (Die Zeit)

Martin Walser ist als politischer Schriftsteller bekannt. So mag es enttäuschen, dass er sich in diesen Tagebücher politisch kaum äußert. Wir wissen allerdings, das er sich noch 1961 im Wahlkampf für die SPD und Willy Brandt eingesetzt hat. Brandts ausweichende Haltung zum Vietnamkrieg war dann einer der Gründe für Walsers zunehmende Distanz zur SPD und seine Linksorientierung ab Mitte der 60er Jahre.

Wenn sich Walser politisch äußert, dann fast immer im Zusammenhang mit seinem seelischen Befinden, seiner Verletzlichkeit, seinem Unmut, unverstanden zu sein. Es gibt aber immer wieder eine Kritik an scheinbar demokratisch legitimierten Entscheidungen der Politik: „Über Erkenntnisse und Wahrheiten kann übrigens nicht mit Mehrheit beschlossen werden.“ (S: 563 der Taschenbuchausgabe 2009)

Eintragung Tagebuch: Orli Loks aus dem Roman „Das Einhorn“, Anselm Kristleins große Liebe
Eintragung Tagebuch: Orli Loks aus dem Roman „Das Einhorn“, Anselm Kristleins große Liebe

Zu anderen Schriftstellern äußert er sich kaum. Auf die Schnelle habe ich z.B. nur einen Verweis auf die“ … manieristische oder Verklausulierungsmethode des Thomas Mann …“ gefunden (S. 362). Martin Walser zeigt sich aber empfindlich in der Kritik anderer an seinen Werken, er fühlt sich verletzt bis ins Mark.

Ebenso am Boden zerstört ist Walser, als seine Mutter 1967 stirbt. Da ist er 40 Jahre alt. An literarische Arbeit ist nicht zu denken – außer in einer Aufarbeitung in seinem Tagebuch. Hier ist das Tagebuch wirklich ganz privat, ganz intim.

1973 reist Martin Walser für sechs Monate als Gastdozent in die USA (Middlebury College, Vermont und University of Texas, Austin). Zusammen mit den Ereignissen eines viermonatiger USA-Aufenthalt 1983 als Gastdozent an der University of California, Berkeley verarbeitet er diese später; es entsteht 1985 daraus der Roman „Die Brandung“ (siehe auch meinen Beitrag zum Roman Die Brandung). Wie im Roman (dort die als „schöne Dumme“ bezeichnete Fran, ein All-American-Girl) so verliebt sich Walser in eine junge Studentin, Biddie. Diese Liaison hat natürlich keine Zukunft.

Man mag den literarischen Wert solcher Tagebücher – vor allem für den normalen Leser – bestreiten. In diesem Fall sollte man schon ein eingefleischter Fan von Martin Walser sein, um die Lektüre ‚ungeschadet’ zu überstehen. Trotzdem stellt sich solch ein Band von Tagebüchern als Fundgrube brillanter Etüden, Miniaturen, Aphorismen und kryptischer Andeutungen dar. Hier zum Schluss eine kleine Zusammenstellung von Aphorismen, die mir besonders gefallen haben:

– Den Gegner zum Gott machen und dann Atheist werden. Das ist die Lösung.
– Sie ging in die Garderobe, schminkte sich ab und war fertig zum Auftritt.
– Was mich mit meinen Freunden oder Bekannten verbindet, ist eine Serie von Stillhalte-Konventionen.
– Was soll ich Ihnen noch küssen, Gnädigste?
– Ich huste Mückenschwärme ins Abendlicht und laß mir von Schwalben in die Zeitung scheißen.
– Jeder, dem die Gesellschaft gestattet, etwas anderes zu sein, als er ist, ist ein Funktionär.
– Wer Angst hat, will Schrecken verbreiten.
– Vor sich selber hat keiner Angst.
– Es wäre viel ehrlicher, wenn ich mich mal gehenließe und richtig lügen würde.
– Ich wünschte, ich wünsche, ich zähle die Wünsche, probiere sie an und lasse sie ändern …
– Leben ist mir zur Gewohnheit geworden.
– Ich tauge nur noch zum Feind …

aus Martin Walser: Leben und Schreiben: Tagebücher 1963-1973 – Rowohlt Taschenbuch Verlag, Februar 2009

siehe auch: Martin Walser: [Das Herz]Daher der Name Bratkartoffel (3)

Ausgepfiffen und gefeiert

Für Mesut Özil war das Qualifikationsspiel zur Europameisterschaft 2012 gegen die Türkei am Freitagabend in Berlin sicherlich ein denkwürdiges Spiel. Gegen das Land seiner Väter wurde er von den türkischen Zuschauern ausgepfiffen, sobald er am Ball war. Als er aber besonders in der zweiten Halbzeit ein sehr gutes Spiel ablieferte und auch noch ein Tor für die deutsche Mannschaft schoss, feierten ihn auch die türkischen Fußballfans und klatschten den verdienten Beifall.

Mesut Özil, Nachkomme türkischer Gastarbeiter und in Gelsenkirchen geboren, hatte 2007 seinen türkischen Pass zurückgegeben und sich für die deutsche Nationalmannschaft entschieden. Das wird ihm von vielen Türken bis zum heutigen Tag krumm genommen. Daher auch die Pfeifkonzerte gegen ihn. Insgeheim sind sie aber über diesen außerordentlichen Fußballspieler doch stolz, zumal er den Wechsel zu einen der ganz großen Fußballvereine, Real Madrid, geschafft hat.

Der deutsche Fußballbund (DFB) feiert Mesut Özil als gelungenes Beispiel für die Integration türkisch-stämmiger Migranten. Allerdings muss gesehen werden, dass sich viele in Deutschland geborene Türken für die Türkei entschieden haben, nicht für Deutschland. Und so sieht u.a. der ebenfalls in Gelsenkirchen geborene Hamit Altintop, Spieler des FC Bayern und Spieler der türkischen Nationalmannschaft, die Entscheidung der Spieler mit Migrationshintergrund pro Deutschland nicht so sehr als Herzensangelegenheit, sondern mehr als Business. „Das hat auch nichts mit Integration zu tun.“

Zum Beispiel Özil erklärt Altintop: „Hätte er sich für die Türkei entschieden, hätte er keine WM gespielt und wäre nicht bei Real Madrid.“ – Zunächst ist das nicht von der Hand zu weisen. Altintop fühlt sich weiterhin als Türke, auch wenn er in Deutschland geboren ist. So geht es vielen. Das gilt besonders aber für die, die sich durch die deutsche Gesellschaft abgelehnt fühlen, die keinen Schulabschluss schaffen – und die Deutschland immer noch als eine Art Provisorium ansehen.

Özil hat aufgrund seiner außerordentlichen Begabung sein Glück in Deutschland gefunden. Sicherlich schlagen zwei Herzen in seiner Brust. Wer wie er in einem von türkischen Traditionen geprägten Umfeld aufgewachsen ist, kann nicht von heute auf morgen seine Herkunft verleugnen. Das will und soll er auch nicht. Und wenn er sich für Deutschland entschieden hat, so haben sicherlich auch finanzielle Gründe dabei eine Rolle gespielt.

Mesut Özil als Integrationsfigur zu feiern, ist zu hoch gegriffen. Das gilt auch für all die anderen deutschen Nationalspieler, die von Einwanderern oder Spätaussiedlern abstammen. Wahre Integration ist auf niedriger Ebene anzusiedeln. An der ‚Basis’ muss etwas getan werden, um Integration zu fördern. Das gilt beim Sport auf Vereinsebene im Breitensport (Beispiel BV Altenessen 06 oder aus meiner Nachbarschaft beim Todtglüsinger SV), besonders aber vor Ort im Stadtteil oder Dorf. Junge Menschen wie Mesut Özil können dabei natürlich als Beispiel, als eine Art Leitfigur dienen. Mehr aber auch nicht.

Was für deutsche Jugendliche gilt, die keine Arbeit finden und sich von rechten Rattenfängern einfangen lassen, gilt für junge Türken und junge Araber erst recht: wenn sie in Deutschland keine Perspektiven sehen, werden sie sich kaum integrieren lassen. Das kann sogar zu einer Deutschenfeindlichkeit führen, zu einem Rassismus andersherum!

Statt ‚schlaue’ Bücher zu schreiben (Sarrazin) oder ‚schlaue’ Reden zu halten (Seehofer), muss von allen Seiten etwas getan werden. Man macht es sich reichlich leicht, wenn man Integration nur ‚fordern’. Man sollte vor allem nicht das Unmögliche fordern. Es macht keinen Sinn, ältere Menschen, die mit ihren Traditionen stark verwurzelt sind, zu ‚brave Deutsche’ umerziehen zu wollen. Integration braucht seine Zeit – über Generationen hinaus. Die Förderung dazu, lang genug verschlampt oder nur halbherzig betrieben, muss aber endlich heute angesetzt werden.

Wenn die Kinder erwachsen werden

Heute ist ein ganz besonderer Tag. Nein, nicht weil der 10.10.10 ist, auch das, aber weil der ältere unserer beiden Söhne heute ‚ausgezogen’ ist. Man sagt: Kleine Kinder, kleine Sorgen – große Kinder, große Sorgen! Das kann ich und kann sicherlich auch meine Frau so nicht sagen. Über unsere beiden Söhne können wir nicht meckern. Natürlich gibt es gelegentlich Auseinandersetzungen, aber insgesamt kommen wir bestens miteinander aus. Beide sind ‚in unserem Sinne’ voll und ganz okay.

Heute ist nun unser Ältester also aus seinem elterlichen Heim ausgezogen. Er beginnt morgen eine Ausbildung in Göttingen und kann natürlich nicht jeden Tag zwischen Göttingen und Tostedt pendeln. Zunächst wohnt er bei einer Bekannten, die in Göttingen studiert. Und eine Ein-Zimmer-Wohnung hat er in Aussicht. Am Dienstag klärt das sich endgültig (Mietvertrag unterzeichnen usw.):

Dass dieser Tag einmal kommen wird, war meiner Frau und mir klar. Und auch das unser Sohn jetzt nach Göttingen geht. Aber erst als wir zum Bahnhof gingen, wir alle vier, um ihn in den Zug zu setzen, da wurde wohl uns allen bewusst, dass das heute ein Tag ist, der für uns alle einen neuen Lebensabschnitt einläutet.

Am nächsten Wochenende wird er wieder nach Hause kommen. ‚Nach Hause’. Zu seinem ‚elterlichen Zuhause’. Denn seine Wohnung ist woanders, sein Leben wird er nun größtenteils in einer anderen Stadt verbringen.

Natürlich bleibt sein Zimmer für ihn weiterhin da. Viele Sachen hat er noch bei uns. Und vielleicht kommt er eines Tages auch zurück, um z.B. bei uns in der Nähe zu studieren. Aber die nächsten Wochen, nein, Monate, vielleicht Jahre wird er nicht mehr da sein, wir werden ihn vielleicht mehrere Wochen hintereinander nicht mehr sehen und hören.

Nicht, dass meine Frau und ich ihn nicht loslassen können. Ganz im Gegenteil. Er war schon früh sehr selbständig und hatte keine Scheu, in die Welt zu ziehen, auch wenn die Welt in seinen jungen Jahren noch klein geraten war. So lassen wir ihn mit gutem Gewissen gehen. Aber es ist eben doch ‚komisch’ für uns Zurückgebliebenen. So einfach von heute auf morgen.

Er wird seinen Weg gehen, den er selbst gewählt hat. Wir werden für ihn da sein, wenn es notwendig sein sollte. Auch seinem Bruder wird er fehlen, der jetzt wochentags keinen mehr hat, den er ärgern kann.

Ja, es ist heute für uns ein ganz besonderer Tag.

Literaturnobelpreis 2010 an den Peruaner Mario Vargas Llosa

Todavía llevaban pantalón corto ese año, aún no fumábamos, entre todos los deportes preferían el fútbol y estábamos aprendiendo a correr olas, a zambullirnos desde el segundo trampolín del “Terrazas”, y eran traviesos, lampiños, curiosos, muy ágiles, voraces. Ese año, cuando Cuéllar entró al Colegio Champagnat.

.. und auf Deutsch …

In dem Jahr damals trugen sie noch kurze Hosen, wir rauchten noch nicht, unter allen Sportarten zogen sie Fußball vor und wir lernten gerade Wellenreiten, vom zweiten Sprungbrett des >Terrazas< ins Wasser hechten, und sie waren ungezogen, bartlos, wißbegierig, sehr behände, gefräßig. In dem Jahr damals, als Cuéllar ins Colegio Champagnat eintrat.

So beginnt eine Erzählung von Mario Vargas Llosa aus dem Jahre 1967: Die kleinen Hunde (Los Cachorros) – Deutsch von Wolfgang Alexander Luchting (hier: Band 439 der Bibliothek Suhrkamp – 1. Auflage 1975), das erste Buch von Vargas Llosa, das ich 1981 gelesen habe, also vor fast 30 Jahren.

Bei dieser Erzählung handelt es sich um eine Parabel der sozialen Integration – ein Thema, das uns heute auch in Deutschland, wenn auch in anderer Weise, sehr beschäftigt. Die wenigen Zeilen zeigen bereits, dass der Autor die Sprache nutzt, um durch einen ständigen Wandel des Bildwinkels (er schreibt zunächst in 3. Person Mehrzahl (sie), wechselt dann ständig in die 1. Person (wir)) den Leser ‚hin- und herzureißen’ und so die Aufmerksamkeit auf das weitere Geschehen zu lenken.

Erzählt wird die Geschichte einer Jugendclique aus einem Villenvorort der peruanischen Hauptstadt Lima. Die Mitglieder dieser Clique berichten, wie sie das Colegio Champagnat durchliefen, gemeinsam Sport trieben, Mädchen kennen lernten und schließlich gesetzter und dicker zu werden begannen. Im Mittelpunkt der Berichte steht einer von ihnen, den ein Hundebiss kastrierte: Pichula Cuéllar, ein reicher, begabter Fabrikantensohn, der im Alter von elf Jahren zu ihnen stieß und später bei einer Fahrt durchs Land ums Leben kommt.

Mario Vargas Llosa
Foto: Daniele Devoti – Padova, Italien (13. Juni 2010)

Was soll ich sagen? Nicht nur der Suhrkamp-Verlag freut sich als deutscher Verleger des neuen Preisträgers des Nobelpreises für Literatur, auch ich konnte meine Freude nicht verheimlichen: Mario Vargas Llosa ist eben schon seit 1981 einer meiner Lieblingsautoren, wenn ich ihn auch bisher in diesem Block (und auch zuletzt beim Lesen) eher stiefmütterlich behandelt habe. Der Roman „Das Grüne Haus“ (dazu später mehr) zählt trotz seiner Komplexität zu meinen absoluten Favoriten der Literatur.

Nun eigentlich fast alle Werke von Mario Vargas Llosa sind in deutscher Sprache verfügbar. Viele von Vargas Llosas Werken spielen in Peru und thematisieren dessen Gesellschaft. Er kritisiert häufig undemokratische und korrupte links- oder rechtsgerichtete Systeme, die niedrige Schwelle zur Gewaltbereitschaft, und die teilweise rassistische Klassenordnung in Peru und Lateinamerika.

Den Nobel-Preis erhielt Vargas Llosa für seine „Kartographie von Machtstrukturen und seine scharf gezeichneten Bilder individuellen Widerstands“ gegen diese Strukturen. 1994 erhielt Vargas Llosa bereits den Cervantes-Preis, die höchste literarische Auszeichnung in der spanischsprachigen Welt. 1996 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.

siehe auch zdf.de: Video Literatur-Nobelpreis: Mario Vargas Llosa

John Glascock (1951-1979), Bassist

John Glascock (* 2. Mai 1951 in Islington, Großbritannien; † 17. November 1979 in London) war von 1975 bis 1979 Bassist der britischen Rockgruppe Jethro Tull und spielte auf folgenden Alben der Gruppe:

Too Old To Rock ‚N‘ Roll, Too Young To Die (1976)
Songs From The Wood (1977)
Heavy Horses (1978)
Live – Bursting Out (1978) (live) (2 LP)
Stormwatch (1979).

Während der Heavy-Horses-Tour der Gruppe erkrankte er schwer, als eine Zahnerkrankung sein (durch einen von seinem Vater ererbten Herzklappenfehler bereits vorbelastetes) Herz schädigte. Eine Operation, bei der die defekte Herzklappe ersetzt wurde, brachte nicht die erhoffte Besserung, und nachdem er bereits im Jahr 1978 nicht mehr alle Auftritte der aktuellen Tour bestreiten konnte, stand er am 1. Mai 1979, genau drei Jahre nach seinem Debüt, zum letzten Mal für Jethro Tull auf der Bühne.

Während der Aufnahmen zum aktuellen Album „Stormwatch“ verschlechterte sich sein Zustand zusehends, und John war gezwungen, die Gruppe zu verlassen. Die noch fehlenden Parts am Bass übernahm Ian Anderson selbst. Sein Nachfolger wurde später Dave Pegg.

Nachdem sein Körper die neue Herzklappe schließlich abgestoßen hatte, starb John Glascock am 17. November 1979 in London.

Jethro Tull-Fans kennen John Glascock nicht nur von den genannten Alben her, sondern auch von den wohl besten Filmaufnahmen, die es bisher von der Gruppe gibt:


Jethro Tull 1976 live in Tampa/Florida


Jethro Tull 1977 live at Golders Green Hippodrome

Weitere Stationen seiner Karriere vor Jethro Tull führten John Glascock zu „The Gods“ (1965 bis 1969 mit Ken Hensley und Lee Kerslake, beide von Uriah Heep bekannt), „Head Machine“ (1970), „Toe Fat“ (1969-1970 mit Cliff Bennett) und Chicken Shack (1971 bis 1972).

Mit der Gruppe Chicken Shack nahm John Glascock das Album Imagination Lady (1972) auf. Hier einige der Lieder (bei YouTube) – es ist Musik im Bluesstil und ähnelt in der Gitarrenspielweise etwas der von Jimi Hendrix:

Chicken Shack – Cryin‘ Won’t Help You
Chicken Shack – Poor Boy
Chicken Shack – Daughter of the Hillside
Chicken Shack – If I Were A Carpenter
Chicken Shack – Going Down

Von 1973 bis 1975 spielte John Glascock, zunächst gemeinsam mit seinem Bruder Brian, bei „Carmen“, einer innovativen Flamenco-Rock-Band aus Los Angeles. Mir ist keine Band in der bisherigen Rockgeschichte bekannt, die Rockmusik derart mit traditioneller Flamenco-Musik verbunden hat (deshalb auch unten eine größere Auswahl der Stücke). Sicherlich ist die Musik etwas gewöhnungsbedürftig. Aus dem Rahmen fallen auch die Tanzeinlagen von Sänger und Sängerin. Nicht ganz mein Geschmack sind dabei die Gesangparts, die mich manchmal mehr an Musicals als an Rockmusik erinnern. Dafür überzeugen mich aber die instrumentalen Teile, die die Rhythmik von Rock und Flamenco gekonnt verbinden.

Bei einem Engagement von „Carmen“ als Vorgruppe für die War-Child-Tour von „Jethro Tull“ lernten sich John Glascock und Jethro Tull-Frontman Ian Anderson kennen. „Carmen“ löste sich im Jahr 1975 auf. Die Band hatte finanzielle Probleme, keinen aktuellen Plattenvertrag, und ein Engagement als Vorgruppe der „Rolling Stones“ wurde kurzfristig abgesagt. Außerdem hatte sich der Schlagzeuger der Gruppe bei einem Sturz von einem Pferd schwer verletzt.

John Glascock mit Carmen

Von der Gruppe „Carmen“ erschienen insgesamt drei Alben:

Carmen – Fandangos In Space (1973)
Tracks: Bulerias (Cante-Baille-Reprise) / Bullfight / Stepping Stone / Sailor Song / Lonely House / Por Tarantos / Looking Outside (Theme-Zorongo-Finale) / Tales Of Spain / Retirando / Fandangos In Space / Reprise

Carmen – Dancing On A Cold Wind (1974)
Tracks: Viva Mi Sevilla / I’ve Been Crying / Drifting Along / She Flew Across The Room / Purple Flowers /Rememberances: Table Two For One – She’s Changed – Gypsy Girl – Time – People Dressed In Black – Dancing On A Cold Wind (Instrumental – Vocal) – The Horseman – Conclusion

Carmen – The Gypsies (1975)
Tracks: Daybreak / Shady Lady / High Time / Dedicated To Lydia / Joy / The Gypsies / Siren Of The Sea / Come Back / Margarita

Das letzte Album “The Gypsies” war Ian Anderson und Terry Ellis, früherer Jethro Tull-Plattenproduzent und -Manager, gewidmet.

Von der Gruppe „Carmen“ mit John Glascock gibt es bei YouTube leider nur eine Videoaufzeichnungen von einem TV-Auftritt (immerhin), Glascock finden wir rechts:


Carmen – Bulerias (mit Tanzeinlage – 1973 David Bowie’s Midnight Special)

Dafür gibt es allerdings viel Audio-Material, das ich wie folgt (nach Alben getrennt) zusammengestellt habe:

Carmen – Fandangos In Space (1973)
Carmen – Bullfight
Carmen – Stepping Stone
Carmen – Sailor Song
Carmen – Lonely House
Carmen – Looking Outside (My Window)
Carmen – Fandango in Space

Carmen – Dancing On A Cold Wind (1974)

Carmen – Viva mi Sevilla (Tanzszenen)

Carmen – I’ve been crying
Carmen – Purple Flowers
Carmen – The City / The Horseman

Carmen – The Gypsies (1975)
Carmen – Daybreak
Carmen – Shady Lady
Carmen – The Gypsies

Nachdem er für mehrere Monate arbeitslos war, erhielt John Glascock eine Einladung von Ian Anderson, den sich anderen Projekten zuwendenden bisherigen Jethro Tull-Bassisten Jeffrey Hammond-Hammond zu ersetzen.

Interessante Fakten: Obwohl John Glascock Linkshänder war, spielte er einen Rechtshänder-Bass — John war bekannt für seine originellen Bühnen-Outfits, die er in der Regel selber geschneidert hatte — Der Bruder Brian Glascock spielte u.a. auf Alben von Joan Armatrading (Info lt. Wikipedia – ich habe alle Alben durchforstert, bin dabei aber nicht auf den Namen Glascock gestoßen, vielleicht doch ein Fake) — Die Sängerin von der Gruppe Carmen, Angela Allen, singt die Backing Vocals auf dem Album „Too Old to Rock ’n‘ Roll, too Young too Die“ von Jethro Tull bei den Stücken „Crazed Institution“ and „Big Dipper“ (neben Maddy Prior, für deren Alben öfter der Gitarrist von Jethro Tull, Martin Barre, gearbeitet hat).

siehe auch meinen Beitrag: Jethro Tull live 1. April 1980 München Olympiahalle