Urlaubszeit oder gar die Zeit des Rentnerdaseins ist auch immer eine Zeit des Lesens. Für mich sind es in diesen Wochen nicht nur die Bücher, die sich im Laufe der Jahre angesammelt haben, sondern auch das eine oder andere, das sich lohnt, erneut gelesen zu werden. Zuletzt hatte ich ‚russische Wochen‘, habe also Romane gelesen, die aus Russland stammen oder zumindest in russischer Sprache erschienen sind. Ich mag die russische Kultur, die uns besonders in der Literatur, aber auch durch die Musik (ich denke da an Modest Mussorgski, Sergei Prokofjew, Sergei Rachmaninow oder Dmitri Schostakowitsch, um nur einige zu nennen – ja, ich höre auch gern so genannte E-Musik) Werke von unbezahlbarem Wert geschenkt haben. Ich mag weniger die russische Politik. Dazu aber später einmal mehr, wenn es hier um Dostojewskis ‚Die Dämonen‘ gehen wird.
Beginnen möchte ich mit einem kleinen Roman eines kirgisischen Autoren, der hauptsächlich in russischer Sprache schrieb: Tschingis Aitmatow. Ihn habe ich hier schon einmal vorgestellt mit einem ebenfalls dünnen, aber gehaltvollen Büchlein: Dshamilja, der wohl schönsten Liebesgeschichte der Welt. Aitmatow war eine bemerkenswerte Person. So war er von 1988–1990 Vorsitzender des kirgisischen Autorenverbandes. In der Zeit der Perestroika war er als parlamentarischer Vertreter (Oberster Sowjet der UdSSR) aktiv, seit Ende 1989 auch als Berater Michail Gorbatschows. 1990 wurde er der letzte sowjetische Botschafter in Luxemburg. Bis März 2008 war er Botschafter für Kirgisistan in Frankreich und den Benelux-Staaten und lebte in Brüssel.
Tschingis Aitmatow
Frühe Kraniche heißt der kleine, gerade einmal 120 Seiten starke Roman, der zuerst 1975 unter dem Titel > Ранние журавли (Ranni Zurawli)< in der Zeitschrift Nowy Mir in Moskau erschien. Ich habe ihn aus dem Russischen übersetzt von Charlotte Kossuth in einer Ausgabe des Fischer Taschenbuch Verlages 5327 aus dem März 1984 vorliegen.
Rußland 1943: Sultanmurat, ein halbwüchsiger Kirgisenjunge und Anführer einer Gruppe gleichaltriger Jungen, wartet in der menschenleeren Steppe, wo sie die Saat vorbereiten, auf die ersten Zeichen des Frühlings, den Kranichzug. Dieses Zeichen der Hoffnung auf eine gute Ernte läßt sie für einen Augenblick die Schrecken des Krieges, die Unerbittlichkeit des Winters und die Anstrengungen der bäuerlichen Arbeit vergessen. Sie wissen nicht, daß in den nahen Bergen eine große Gefahr auf sie lauert. Sulranmurat aber bewährt sich in einer schier aussichtslosen Situation.
Aitmatow erzählt mit großer Anteilnahme und Einfühlung von Sultanmurat und seinen Gefährten. Eben noch Kinder, die die Schulbank drücken müssen, sind sie von heute auf morgen dazu ausersehen, die Grundbedürfnisse des Lebens für ihr Kolchosendorf zu sichern. Es ist eine dunkle Zeit, in der sie leben, Krieg und ein scheinbar endloser Winter, Tod und Hunger sind ihre Begleiter, doch die Jungen geben nicht auf. (aus dem Klappentext).
„Es geht mir um die Liebe und die Kriegszeit. Der Krieg brandet irgendwo … Und hier, gleich daneben, ist die Liebe die Entdeckung der Welt. Zwischen Krieg und Liebe entstehen zwangsläufig unsichtbare Beziehungen und Brücken.“ Tschingis Aitmatow