Fortsetzung von: (8): So komisch wie ein Lexikon
Radio Eriwan – selbst bis zu uns hier im Westen sind die Witze gelangt. Ein Ausgangspunkt für einen weiteren Artikel von Eike Christian Hirsch in dessen Kolumne „Der Witzableiter“, die 1984 im ZEITmagazin erschien, und uns Näheres über die Technik des Paradoxen im Witz aufzeigt.
Ein Hotelgast morgens zum Ober: „Ich hätte gern zwei zu hart gekochte Eier, eiskalten Speck, verkohlten Toast, tiefgefrorene Butter und lauwarmen Kaffee.“ Darauf der Ober: „Das dürfte etwas schwierig sein.“ Gast: „Wieso, gestern ging es doch auch!“ Diese Art, seine Meinung zu äußern, kann man wohl als „Darstellung durchs Gegenteil“ bezeichnen – und in diese Kategorie fallen auch alle Witze, die ich Ihnen heute vorstellen will.
Frage an Radio Eriwan: „Ist es wahr, daß man alle Pilze essen kann?“ „Im Prinzip ja. Einige Pilze nur einmal.“ Zugleich wahr und doch nicht – paradox. Daß alle Witze irgendwie paradox sind, habe ich Ihnen das letzte Mal erzählt. Auch die Darstellung durchs Gegenteil ist eine Spielart des Paradoxen. Fragt die neue Kollegin: „Wie ist denn der Chef?“ „Eigentlich hat er ein ziemlich ausgeglichenes Temperament. Er ist gleichermaßen ekelhaft.“
Diese Technik dient offenbar dazu, uns erst einmal ordentlich in die Irre zu führen. Bei diesem Beispiel eben erfahren wir erst im letzten Wort, dass wir vorher auf dem Irrweg waren. Um so größer ist unsere Verblüffung. Und darauf kommt es beim Witz schließlich an. Arzt nach gründlicher Untersuchung zum Patienten: „Lassen Sie es mich so sagen – Sie brauchen sich um die steigende Zahl der Verkehrstoten, um die zunehmende Kriminalität und um die Umweltverschmutzung keine Sorgen mehr zu machen.“
Diese Witztechnik gibt uns willkommene Gelegenheit, über die Verblüffung nachzudenken, auf die es jeder Witz bei uns abgesehen hat. Wer schon einmal Opfer eines Streichs war, weiß, wie unangenehm es ist, reingefallen zu sein und die Orientierung verloren zu haben. Für einen Augenblick schwankt uns der Boden unter den Füßen. Das hat kein Mensch gern. Unser Vergnügen am Witz stammt jedenfalls nicht aus dieser Verblüffung – eher aus der Erleichterung, wenn sie überwunden ist. Der Ehemann steigt von der Personenwaage. „Mein Gewicht ist völlig in Ordnung“, sagt er zufrieden zu seiner Frau, „nach der Tabelle sollte ich nur zwölf Zentimeter größer sein.“
Über die Verblüffung beim Witz sagt der Psychologe Peter R. Hofstätter nicht zu viel, wenn er schreibt: „Beinahe – aber eben nur beinahe – wären wir in einen unauslotbar tiefen Abgrund gestürzt; ganz anders als gedacht, haben wir jedoch wieder festen Boden unter den Füßen.“ Das Bild vom Abgrund, das Hofstätter verwendet, können wir auch ändern in das Bild eines Hindernisses, über das wir springen müssen. Erst scheut das Pferd, aber dann springt es doch. Freilich, es kann auch schief gehen, wie folgender Witz zeigt, der auch die Technik der Darstellung durchs Gegenteil verwendet: Der Reitschüler wagt seinen ersten Sprung. Das Pferd scheut und wirft den Reiter über das Hindernis. „Schon ganz gut“, lobt der Reitlehrer, „das nächste Mal müssen Sie nur noch das Pferd mitnehmen.“
Staunen, Verblüffung, Reinfall und Kehrtwendung – das gehört offenbar zum Witz. Es ist seine negative Seite, damit erzeugt er die Spannung, die sich dann im Erkennen und Verstehen löst. Oder ist es umgekehrt, verstehen wir erst und staunen dann? Beobachten Sie sich doch einmal selbst: Der schwäbische Meister zu seinen Azubi: „Es gibt Domme ond Saudomme. Von de Domme bischt du koiner!“ Na, wie war das mit der Reihenfolge von Verblüffung und Verstehen bei Ihnen?
Am Ende des vorigen Jahrhunderts veröffentlichte Theodor Lipps, Professor für Philosophie in München, eine Theorie des Komischen und behauptete darin, erst erstehe man den Witz und dann wundere man sich, denn ohne Verständnis könne man sich ja nicht wundern. Ihm widersprach sehr höflich sein holländischer Kollege G. Heymans: erst Verblüffung, dann Verständnis. Zur Begründung schrieb er: „Ich glaube, mich nun in dieser Sache einfach auf das Zeugnis der Selbstwahrnehmung berufen zu können.“ Prüfen Sie selbst: „Hat es bei Ihnen in den Ferien auch so oft geregnet?“ „Nein, nur zweimal. Zuerst drei Tage und dann zwei Wochen.“
Es mag ja so sein, daß man bei so manchem Witz erst glaubt, ihn verstanden zu haben, dann staunt und schließlich erst richtig begreift. Theodor Lipps, das Münchner Schulhaupt, gab dennoch nach und korrigierte sich (unter Philosophen eine ganz große Leistung). Er wollte nun allerdings „drei Stadien“ unterschieden wissen, und zwar „bei aller Komik“. So genau sind Fachleute. Ich meine aber, daß man so der Sache auch nicht auf den Grund kommt. Wie ich den Streit schlichten möchte, verrate ich Ihnen das nächste Mal, wenn er um die „Erleuchtung“ geht, die zu jedem Verstehen gehört. Hier nur so viel zum Streit: „Sie halten mich wohl für einen ausgemachten Trottel?“ „O nein, ich beurteile einen Menschen nie nach seinem Aussehen.“
Zum Schluß für heute empfehle ich Ihnen eine noch elegantere Liebenswürdigkeit, die Sie vielleicht bei passender Gelegenheit selbst verwenden können. „Hoffentlich sind wir nicht zu lange geblieben,“ erkundigt sich der Besuch zum Abschied. „Aber nein“, wehrt der Gastgeber ab, „um diese Zeit pflegen meine Frau und ich sowieso immer aufzustehen.“
Eike Christian Hirsch – Der Witzableiter (Kolumne in 25 Teilen)
aus: ZEITmagazin – Nr. 36/1984
[Fortsetzung folgt]