- Ich schreibe für mich selber, für die Freunde und um das Verringen der Zeit weniger schmerzhaft zu verspüren.
Jorge Luis Borges
Betrachtet man die lateinamerikanische Literatur, so fällt der 1899 in Buenos Aires geborene und 1986 in Genf verstorbene Jorge Luis Borges doch ziemlich aus dem Muster. Er war ein Vertreter der kleinen Form und schrieb überwiegend Gedichte (siehe u.a. meinen Beitrag Jorge Luis Borges: Ein Traum) und Kurzgeschichten. Borges fiel aus der Muster, weil er sich weniger dem Leben und den Ereignissen in Südamerika widmete, das zwar auch, aber vornehmlich schrieb er Erzählungen, die rätselhaft, labyrinthisch, symbolisch und phantastisch sind. Literarisch maßgeblich beeinflusst war er durch die englische Literatur (Whitman, Chesterton, Shaw, De Quincey), Franz Kafka und dem Daoismus. Seine philosophischen Anschauungen, die dem erkenntnistheoretischen Idealismus verpflichtet sind und sich in seinen Erzählungen und Essays wiederfinden, bezog Borges vornehmlich von George Berkeley, David Hume und Arthur Schopenhauer. Borges war eher ein ‚europäischer’ Schriftsteller.
Borges verstand sich nicht als politischer Schriftsteller, galt aber als konservativ, teilweise sogar als antidemokratisch bis reaktionär, was im Zusammenhang mit seiner Kritik an den zweimaligen argentinischen Präsidenten Juan Perón zu sehen ist, der Demokratie nicht unbedingt nach westlichem Muster interpretierte. So unterstützte Borges zunächst den Militärputsch von 1976, der der Perón-Herrschaft ein Ende setzte, ging dann aber auf Distanz zu der Militärdiktatur.
Während einer Sommergrippe, die mich auch heute noch plagt, habe ich Zeit gefunden, mir Jorge Luis Borges’ Werk, speziell seine Erzählungen, noch einmal vorzunehmen.
„Die Vorstellungen Humes und die der Gnostiker haben Borges’ Weltbild geprägt. Eine Welt, die von einem unreifen, unüberlegt handelnden Gott geschaffen wurde, die dann halb vollendet liegenblieb, in der es keine Autorität, keinen Bezugspunkt gibt, kann nicht den Anspruch auf Ordnung und Harmonie erheben. […] Der Mensch ist verdammt, in einem Chaos, in einem chaotischen Dasein zu leben.
… da es in der Wirklichkeit unmöglich ist, […] das Chaos zu durchdringen, kommt der Mensch zu dem Entschluß, diese Möglichkeit zumindest in einem imaginären, phantastischen Universum nach seiner Vorstellung zu realisieren.“ (Nachwort von José A. Friedl Zapata, Heidelberg, im Mai 1973 im Band: Die Bibliothek von Babel – Erzählungen – Philipp Reclam Jun., Stuttgart – Universal-Bibliothek Nr. 9497 – 1974)
Anhand von kurzen Textpassagen möchte ich an dieser Stelle einige wesentliche Aspekte der Gedanken Borges’ vorführen, die ich vor allem als Gedankenspiele ansehe, wenn auch äußerst interessanten. Borges beschäftigte sich mit dem Gedanken der Unendlichkeit und hat dabei einige bemerkenswerte ‚Bilder’ entworfen.
Zunächst behandelte Borges den Gegensatz von Abfolge und Simultanität. Letzteres lässt sich vielleicht in einem geometrischen Punkt darstellen, der ohne Ausdehnung ist. Die Abfolge wäre dann vielleicht die Gerade, die unendlich lang ist. Er beschreibt ein Problem der Sprache des Nacheinanders statt der Simultanität: „Was meine Augen schauten, war simultan; was ich beschreiben werde, ist sukzessiv, weil die Sprache es ist.“ (Das Aleph in: Die zwei Labyrinthe – dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, München – Originalausgabe – Juli 1986 – S. 124). Wenn Borges dann die Dichtung eines fiktiven Volkes in einem einzigen Wort reduziert sieht („… die Dichtung der Urnen [besteht] aus einem einzigen Wort.“ (Undr in: Das Sandbuch – Erzählungen – Carl Hanser Verlag München, Wien – Reihe Hanser 233 – 1977 – S. 76)), dann ist das der erzählende Versuch, der Sprache simultane Eigenschaft aneignen zu wollen.
Sprache, Wörter, Verständnis: Hierzu schreibt Borges u.a. „Die Wörter sind Symbole, die ein gemeinsames Gedächtnis voraussetzen.“ (Der Kongreß in: Die Bibliothek von Babel) oder „Um etwas zu sehen, muß man es verstehen.“ (There Are More Things in: Das Sandbuch S. 55). Beim Erinnern oder Vergessen bezieht sich Borges auf Bacon: “Bacon habe geschrieben, wenn Lernen Sich-Erinnern ist, dann ist Unkenntnis nichts anderes als Vergeßlichkeit.“ (Die Nacht der Gaben in: Das Sandbuch S. 61)
In der außergewöhnlichen Erzählung „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“ lässt Borges nicht nur ein fiktives Land erschaffen, sondern gleich einen ganzen fiktiven Planeten, der seine eigenen Gesetzmäßigkeiten hat: „Ich habe gesagt, daß die Menschen dieses Planeten die Welt als eine Folge geistiger Vorgänge auffassen, die sich nicht im Raum, sondern nacheinander in der Zeit abspielen.“ (Tlön, Uqbar, Orbis Tertius in: Die zwei Labyrinthe S. 25)
Die Unendlichkeit nun stellt er z.B. anhand eines Buches dar, das er Sandbuch (Text dt. – span.) nennt: „Sein Buch heiße Sandbuch, sagte er, weil weder das Buch noch der Sand Anfang oder Ende hätten.“ (S. 112 – Das Sandbuch). Weder ein Anfang noch ein Ende des Buchs lässt sich aufschlagen. Als Motto versieht Borges diese Erzählung mit einem Ausspruch von George Herbert (1593-1623): „…thy rope of sands …“ (ein Seil aus Sand).
Wohl die bekanntes Erzählung ist die von der unendlichen Bibliothek von Babel (dt. Text/span. Text), die auch Einzug in den bekannten Roman „Der Name der Rose“ vom Umberto Eco hielt. Jorge Luis Borges wird in dem mittelalterlichen Roman zu jenem Jorge von Burgos, dem Hüter der Klosterbibliothek.
„Das Universum (das andere die Bibliothek nennen) setzt sich aus einer unbegrenzten und vielleicht unendlichen Zahl sechseckiger Galerien zusammen […] Zwanzig Bücherregale, fünf breite Regale auf jeder Seite, verdecken alle Seiten außer zweien […] jedes Regal faßt zweiunddreißig Bücher gleichen Formats; jedes Buch besteht aus vierhundertzehn Seiten, jede Seite aus vierzig Zeilen, jede Zeile aus etwa achtzig Buchstaben von schwarzer Farbe.“ (Die Bibliothek von Babel in: Die zwei Labyrinthe, S. 54 ff.)
Etwas verquer liest sich die Erzählung von Pierre Menard, dem Autoren einer wortgetreuen Widergabe des Don Quijote, den ja eigentlich Miguel de Cervantes geschrieben hat:
„Auf irgendeine Art Cervantes zu sein und zum Quijote zu gelangen erschien ihm weniger schwierig […], als fernerhin Pierre Menard zu bleiben und durch die Erlebnisse Pierre Menards zum Quijote zu gelangen. […] ‚Ich brauchte nur unsterblich zu sein, um es zu vollenden.’“ (Pierre Menard, Autor des Quijote in : Die zwei Labyrinthe, S. 41)
Auch hier geht es um die Unendlichkeit. Wenn ein Schriftsteller unendlich lang lebte und schriebe, so würde er irgendwann auch den Don Quijote ‚erneut’ schreiben, dann natürlich auch jedes andere Buch dieser Welt.
Aber es gebt auch andersherum: „Es ist Odins Scheibe. Sie hat nur eine Seite.“ (Die Scheibe in: Das Sandbuch, S. 109). In einer Welt des Raums gibt es eigentlich mindestens drei Dimensionen und jede Münze und Scheibe hätte zwei Seiten.
Das Buch „Die zwei Labyrinthe“ (dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, München) enthält neben den Gedichten und Erzählungen auch eine kurzgefasste und lesenswerte „Geschichte des Tango“ (also doch auch etwas mit südamerikanischen Bezug), sowie zwei Vorträge zum Buch (siehe hierzu auch meinen Beitrag: Lesen und Wiederlesen) und zur Zeit:
„Plotin sagt: es gibt drei Zeiten, und alle drei sind die Gegenwart. Eine Zeit ist die augenblickliche Gegenwart, die Zeit, in der ich spreche. Das heißt, der Moment in dem ich sprach, denn dieser Moment gehört nun schon zur Vergangenheit. Die zweite Zeit ist die Gegenwart der Vergangenheit, Erinnerung genannt. Die dritte ist die Gegenwart der Zukunft: das, was unsere Hoffnungen oder Ängste sich vorstellen.
Plato sagte, die Zeit sei das bewegliche Abbild der Ewigkeit.“ (S. 265)
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