Hallo Wilfried,
es freut mich, dass ich in Dir einen Mailpartner gefunden habe, der jeden Vorwurf der Schreibfaulheit weit von sich weisen kann. Vielen Dank dafür !
Zum Thema Jethro Tull:
Ich fürchte, dass ich die Alben der Gruppe in der falschen Reihenfolge kennen gelernt habe; zuerst die fantastischen Folk-Alben, dann die in meinen Augen düsteren Erstlingswerke und schließlich die flachen Spätwerke. So konnte ich leider keine Steigerung in der Kunst des Mr. Anderson feststellen, sondern nur ein Gefälle.
Trotz Deines berechtigten Einwands, dass ein Rockmusiker eine andere Arbeitskleidung benötigt als z.B. ein Banker, bleibe ich dabei, dass er mit seinen Kopftüchern einen vollen Griff ins Klo getan hat. Seine flippigen Klamotten in den 60ern und 70ern waren voll o.k.. Besonders gefiel mir sein mittelalterlich angehauchtes Outfit mit Strumpfhose und Lederwams. Aber die Kopftücher sollen doch nur kaschieren, was ohnehin jeder weiß: Ian Anderson ist nicht mehr der Jüngste.
Ich möchte an dieser Stelle richtig verstanden werden: Ich habe nichts gegen Männer mit breitem Scheitel, mir selbst gehen die Haare auch schon aus (und das ausgerechnet am Hinterkopf !). Aber genau wie Du stehe ich dazu. Wie viel Grund mehr als wir hätte der Halbgott des Prog-Rock, sich zu diesem „Makel“ zu bekennen !?!? Statt dessen stellt er sich auf eine Stufe mit Drafi Deutscher seligen Gedenkens und Udo Lindenberg. Und das, obwohl er sich in seinen Interviews alle Mühe gibt, als überlegener abgeklärter Intellektueller aufzutreten. Shame on you, Mr. Anderson !
Apropos: Deiner Website konnte ich entnehmen, dass Du eine ähnlich hohe Meinung vom amerikanischen Präsidenten hast wie ich, aber das nur am Rande…
Beim Anschauen der Konzert-Videos (noch einmal Danke!) aus den 70er Jahren fällt auf, wie athletisch Mr. Anderson in jungen Jahren war. Hast Du mal versucht, seine Bühnenshow nachzuturnen ? Ich jedenfalls stoße dabei schnell an meine Grenzen.
Da ich bisher noch nicht die Gelegenheit hatte, seine Konzerte in der korrekten chronologischen Reihenfolge anzuschauen, fällt es mir schwer, ein Konzert der letzten zehn Jahre zu genießen. Will sagen: Der Unterschied zwischen dem drahtigen Kerl der 70er und dem kleinen Dicken unserer Tage ist einfach krass. Ich habe sowieso ein Problem mit der Physiognomie des Mr. Anderson. Klar, wir alle werden älter. Aber bei keinem anderen Menschen stelle ich einen so großen Unterschied fest zwischen dem Aussehen in jungen Jahren und der Erscheinung als Endfünfziger (Du weißt sicher, dass er am 10. August 59 wurde). Halte ein Bild, das ihn als Zwanzigjährigen zeigt neben eine aktuelle Aufnahme von ihm. Dabei sehe ich nicht, dass dort ein Mann gealtert ist; ich sehe zwei vollkommen unterschiedliche Menschen. Haar- und Barttracht sind nur ein Faktor, der das erklären könnte. Über die anderen Faktoren bin ich mir noch nicht im Klaren. Du bemerkst vielleicht, dass ich mich intensiv mit der Person Ian Anderson beschäftige. Ich fürchte, damit bewege ich mich haarscharf am Rande des Starkults. Wie ein Teenager. Und das in meinem Alter. Allerdings halte ich mir zugute, dass mir auch die weniger guten Aspekte meines Idols nicht verborgen bleiben.
Ich interessiere mich für die Person Ian Anderson, weil ich wissen möchte, was das für ein Mensch ist, der so großartige Alben hervorgebracht hat. Wie lebt so jemand ? Was denkt ein solcher Mensch ? Er ist nicht nur ein hervorragender Multi-Instrumentalist, Songwriter, Interpret, Bühnenakrobat, Entertainer, sondern auch ein Poet, ein Textschreiber ohne gleichen. Ich habe vor einiger Zeit versucht, einige Texte von ihm zu übersetzen. Das hat mir einige zusätzliche graue Haare eingebracht; mit meinem Schul-Englisch haben seine Texte nicht viel gemein. Z.B. musste ich mindestens vier Wörterbücher aufschlagen, ehe ich die Bedeutung des Wortes „dogend“ heraus gefunden hatte (aus Aqualung: „…as he bend to pick a dogend“). Seine Lyrics spielen wirklich in einer anderen Liga als die Texte eines Rod Stewart (zufällig ebenfalls Schotte). Und eben dieses Universalgenie hält es für angebracht, seine Haare zu färben und einen Pseudopiratenfummel um den Kopf zu winden. Nein, das begreife ich nicht, damit tut er sich keinen Gefallen. Ich verspreche Dir, dass ich das Thema Kopftuch nicht mehr anschneiden werde. Ich habe meinem Ärger darüber jetzt Luft gemacht und das muss genügen. Schließlich bietet Mr. Anderson weit mehr Facetten als die Wahl seiner Garderobe.
Wenn ich mich entscheiden müsste, welches seiner Alben für mich die Nummer eins ist, hätte ich ein Problem. Thick as a brick jedenfalls halte ich für genial. Ich höre Tull Platten nicht im Autoradio oder an anderen Orten, an denen man abgelenkt wird. Beim Hören von Tull-Alben tue ich mir Ruhe an. In dieser Ruhe erzeugt die Musik Bilder in meinem Kopf. Bilder, die ich weder beschreiben noch malen könnte. Aber sie sind sehr schön, diese Bilder. Gerade bei Thick as a brick. Auf der zweiten Seite dieses Albums erzeugt Mr. Anderson mit seiner Flöte Sphärenklänge, die mich weit über den irdischen Alltag hinausheben. Das Bewusstsein schwebt sekundenweise in höheren Gefilden. Klingt vollkommen überdreht, ich weiß. Aber das macht mir nichts, denn ich genieße diesen Zustand. Ähnlich geht es mir beim Passion Play. Dabei stört mich allerdings das bizarre Zwischenstück über den halbblinden Hasen. Keine Ahnung, was Mr. Anderson sich dabei gedacht hat… Ebenfalls großartig finde ich sein Heavy Horses. Hier gefallen mir die vorwiegend akustischen Stücke (ist ja klar!) und die ländliche Stimmung, die er mit seiner Musik heraufbeschwört. Je nach Tagesform könnte auch Minstrel in the Gallery mein Favorit sein. Wieder wegen der akustischen Stücke und der Assoziationen zur Mythologie, die in den Texten stecken. Nordische und keltische Mythen waren einmal ein Steckenpferd von mir. Irgendwie finde ich, dass Mr. Anderson in dieser Phase Mitte der 70er durchaus in der Lage gewesen wäre, den Herrn der Ringe zu vertonen. Damit meine ich nicht die Filmmusik, sondern eine Art Oper „Lord of the Rings“. Tja, schön wär’s gewesen.
Letzter Punkt zum Thema Anderson für heute:
Bei seinen Konzerten fällt mir auf, dass er hin und wieder mit dem rechten Fuß am Bühnenrand hantiert, so, als würde er einen Schalter oder ein Pedal bedienen. Weißt Du zufällig, was es damit auf sich hat ?
Es ist jetzt 1:30 Uhr, in wenigen Minuten wird es hell und die Kinder werden dann wieder auf der Matte stehen. Ich werde meine heutige Mail deshalb an dieser Stelle beenden in der Hoffnung, dass wir unseren Gedankenaustausch zum Thema Ian Anderson oder anderen Themen fortsetzen können.
Viele Grüße
Lockwood
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Ich antwortete:
Hallo Lockwood,
da habe ich mich auf etwas eingelassen. Ich leide zwar nicht unbedingt an Schreibfaulheit. Aber ich bin schon auf der Arbeit gezwungen, diese und jene schriftliche Stellungnahme von mir zu geben, sodass ich mich auch gern auf meinen Lorbeeren ausruhe.
Zuletzt hatte ich mich etwas ausführlicher mit Ian Anderson und Jethro Tull vor mehr als einem Jahr auseinandergesetzt – anlässlich unseres Schottland-Urlaubs. Es war schon erstaunlich für mich, wie viele Stücke es gibt, die irgendwie mit Andersons Heimat zu tun haben.
Aber zu Deiner Mail und zu Ian Anderson. Ich finde sein Outfit nun auch nicht gerade berauschend. Aber man muss vielleicht in sein Alter kommen, um das zu verstehen (da könnte ich ja fast mitreden). Vielleicht muss man dann auch noch Brite sein. Ich denke, die haben insgesamt ein Problem mit ihrem Äußeren. Natürlich hat es immer etwas Peinliches, wenn man ab einem bestimmten Alter auf jugendlich macht, obwohl es absolut nicht passt. Das gilt für Damen und Herren.
Als ich vor gut einem Jahr das Konzert in Bremerhaven besuchte, da trug er den schwarz-weiß getupften Schlafanzug, den er dann auch beim Konzert in Lugano anhatte (siehe Videos vom Lugano Estival Jazz 2005): scheußlich-schön bzw. hübsch-hässlich, wie Pater Brown zu sagen pflegte. Aber es gibt ja auch Videoclips (z.B. zu Secret Language of Birds), in denen er durchaus zu seiner ‚Platte‘ steht.
Übrigens in meinem Weblog findest Du einen kleinen Artikel mit entsprechenden Bildern zum Thema Älterwerden von Rockstars: Nur älter, nicht schöner … – Ian Anderson ist da gar nicht die so große Ausnahme!
Zu den athletischen Leistungen früherer Tage: Das meinte ich u.a. auch, als ich Dir schrieb, er habe sich körperlich bis an die Grenzen der Leistungsfähigkeit verausgabt. Ich habe vor vielen Jahren selbst einmal in einer Band von blutigen Amateuren gespielt. Ab und wann waren wir dann auch öffentlich aufgetreten. Es ist ein Knochenjob, selbst wenn man nicht wie Anderson auf der Bühne herumturnt.
Apropos Halbgott, Starkult usw. Ich könnte mir durchaus denken, dass genau das Anderson ad absurdum führen möchte (und auch schon früher getan hat). Er macht sich einen Spaß daraus. Wenn er z.B. in einem Interview zum x-ten Mal gefragt wird, woher das kommt, dass er auf einem Bein spielt, dann erzählt er gern und ganz ernsthaft, wie ihm am Anfang seiner Zeit einmal die Unterhose zwickte, sodass er solche Verrenkungen auf der Bühne machte.
Auch die „Rubbing Elbows“ sind immer wieder gern ein Thema. Herr Anderson gibt nämlich nicht gern jedem die Hand (machen bekanntlich alle Briten ungern). Und dann erzählt er natürlich, wie er vor vielen Jahren einmal eine Handverletzung hatte und sein Arzt ihm geraten hat usw. usf.
Also, was Idole anbelangt, da bin ich vorsichtig. Wenn ein solches Idol kein Ideal vertritt, dann ist das nur Schein. Natürlich denke ich schon, dass Ian Anderson Ideale hat, die sich sicherlich zum großen Teil auch mit den meinen decken. Was ich anfangs (eben noch als Jugendlicher) stark fand, war schon das typisch Britische der Band. Anderson im Lumpenlook, die anderen nicht viel besser. Irgendwie zog man alles durch den Kakao a la Monty Python, mit denen Jethro Tull auch öfter verglichen wurde. Dazu passt dann auch das Mittelstück von A Passion Play, die Geschichte von dem Hasen, übrigens ein gemeinsames Werk von Jeffrey Hammond-Hammond, dem Bassisten, der ja auch den Text vorträgt, John Evan und Ian Anderson. Wer da für was zuständig war, keine Ahnung, die Idee und der Text sollten aber nicht von Anderson stammen.
Nochmals Halbgott, Starkult usw. Ich halte Ian Anderson für genial. Viele seiner Stücke (Musik und Text) haben etwas, was man bei anderen nicht findet, die sind einfach einzigartig. Natürlich hatte auch ein Genie wie Anderson die ein oder andere Schreibblockade. Und ich denke, dass er von Plattenfirmen auch unter Druck gesetzt wurde, „einmal etwas anderes zu machen“. Dass das dann in die Hose gegangen ist, kein Wunder – zumindest aus meiner, wohl auch aus Deiner Sicht. Es gibt aber auch Tull-Fans, die die späteren Sachen sehr gut finden. Diese haben nämlich Einflüsse, z.B. indische, die man dem Stichwort „Weltmusik“ zuordnen könnte. Was Du vielleicht als Gedudele hörst, hören andere eben auch mit anderen Ohren.
Halbgott, Starkult zum dritten: Anderson ist eine Persönlichkeit mit einem unverkennbaren Charisma. Man kann dabei feststellen, dass die Ansichten über ihn sehr weit auseinandergehen. Die einen lieben ihn, den anderen ist er eher unsympathisch. Völlig gleichgültig kann man ihm meist nicht gegenüberstehen. Und bei vielen – wie auch bei Dir – vermischen sich diese Empfindungen. Das ist ein Phänomen psychologischer Art, über das man sich sicherlich in seitenlangen Ausführungen auslassen könnte. Aber genug.
Zwischenfrage: Was heißt denn nun dogend bzw. dog-end? Ich habe da ein gutes Online-Wörterbuch, da steht Zigarettenkippe. Aqualung bückte sich also, um eine Zigarettenkippe aufzuheben.
Nur ein Hinweis: Der Text Aqualung ist natürlich von Andersons erster Frau, Jennie Franks, also nicht von ihm selbst – wenn natürlich auch in der Tradition des Meisters.
Ja mit Übersetzungen habe ich es auch schon versucht. Sehr weit bin ich da nicht gekommen. Es gibt eben zu viele Begriffe, die man nur aus dem Zusammenhang begreifen kann oder die sich aus dem Umfeld ergeben (geografische Begriffe usw.). So hatte ich auch meine ganz spezielle Textstelle aus Thick as a Brick: Where the hell was Biggles …! Wer oder was ist Biggles? Jetzt weiß ich es: wie Superman usw. ein Comic-Held: James Bigglesworth, ein Flieger! In den Niederlanden gibt es eine entsprechende Website zu Biggles, also: Wo zum Teufel war Biggles …?
Apropos Herr der Ringe und Oper: Anderson hatte da ja vor langer Zeit ein entsprechendes Projekt. Nicht Herr der Ringe, aber etwas ähnliches wohl. Und zu War Child, wenn ich mich nicht täusche, gab es ja tatsächlich auch etwas mit Ballett und so. Ich muss da noch einmal recherchieren. Irgendwie war auch ein Bruder von Ian Anderson beteiligt. Es gibt da einen kleinen Videoausschnitt (in der BBC-Sendung Lively Arts 79, die auch über einen deutschen Digitalsender, Musikkanal ZDF oder so, ausgestrahlt wurde) – und auf War Child selbst (remastered Version) gibt es das Stück Warchild Waltz, eine Orchesteraufnahme.
Überhaupt Videos. Es ist erstaunlich, wie viele Konzerte von Jethro Tull (auch in den letzten Jahren – z.B. 1999 „Ohne Filter“, müsste beim SWF Baden-Baden aufgenommen und ausgestrahlt worden sein) im Fernsehen liefen. Ich bin zwar nicht der große Sammler, habe aber inzwischen doch die eine oder andere Aufnahme, u.a. auch über www.laufi.de, der bis zum Anfang des Jahres jeden Monat ein neues Video auf seine Website zum Herunterladen brachte. Leider ist das irgendwie eingeschlafen. Aus dieser Sammlung stammen dann ja auch die Videos auf meiner Tull-Website.
Zuletzt zu Deine Frage wegen der Hantiererei am Bühnenrand: Anderson dürfte da schon das eine oder andere Pedal oder die entsprechenden Schalter haben, mit denen er u.a. sein Mikro auf Hall bzw. Echo stellt ggfs. auch seine Flöte, die ja ein Extra-Mikro bzw. einen speziellen Tonabnehmer hat. Gitarristen steuern z.B. über Pedale Effektgeräte wie Verzerrer oder Wah-Wah (das Wort sagt schon alles).
Für heute (mehr als) genug. Alles ist mir ein bisschen kuddelmuddelig kreuz und die quer geraten. Da kommt man schnell vom Hundertstel ins Tausendstel.
Noch etwas zu mir – oder besser: zu meinen/unseren Website(s). Da ich von der Arbeit her mit der Erstellung von Websites zu tun hatte, bastelte ich bereits 2000 die erste Version einer eigenen Homepage. Daraus wurden dann im Laufe von jetzt über sechs Jahren das, über das Du in Internet gestolpert bist – u.a. die Jethro Tull Website. Und seit nun anderthalb Jahren bastle ich an meinem Weblog (Blog – wie auch immer). Ich habe mir dabei vorgenommen, jeden Tag einen (kleinen) Beitrag in dieses Internettagebuch zu stellen. Leider gelingt das nicht immer. Aber es sind gewissermaßen Finger- und Kopfübungen, die Spaß machen. Ich bin herausgefordert, mir jeden Tag „etwas Sinnvolles“ einfallen zu lassen. Auch das gelingt nicht immer. Nun, man kann sich fragen, was das Ganze soll. Der extrovertierte Typ bin ich eigentlich nicht, der sein Innerstes nach außen zu kehren sucht. Aber eine gewisse künstlerische Ader habe ich schon. Und es macht eben Spaß. Der eine sammelt Briefmarken, der andere treibt intensiv Sport. Ich jogge ab und zu – und hocke ansonsten viel zu oft vor dem Bildschirm meines Rechners.
Viele Grüße
Wilfried „WilliZ“
English Translation for Ian Anderson