Kategorie-Archiv: Machtgier

Frustrierendes aus Politik und Wirtschaft

Zu Martin Walser (3): Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede

Für Martin Walser gibt es zwei Ebenen, um mit der Schuldfrage zu den Verbrechen des Nationalsozialismus umzugehen: „eine öffentlich-rechtliche des Meinens, zu der auch die juristische Aufarbeitung gehört, und eine innerlich-moralische, vor der die eigentliche Schuld verhandelt wird.“ (S. 372) – „Jeder Deutsche hat die ganze Geschichte geerbt und zu verantworten, damit also auch Auschwitz. Doch es gibt keine richtige Haltung gegenüber der Vergangenheit. Besonders grotesk fand Walser die Erfindung der ‚Vergangenheitsbewältigung’. Erst Auschwitz zu betreiben und dann als Rechtsnachfolger des NS-Staates Bewältigung auf die Tagesordnung zu setzen war geradezu anstößig. […] ‚Ein Rechtsnachfolger, der zahlt, organisiert, feiert, gedenkt, so gut er kann: das heißt, der hat einen Terminkalender, der bewältigt. Und wir? Wir lassen bewältigen. Wir alle.’“ (S. 373) Ich habe hier zitiert aus Jörg Magenaus Martin Walser-Biographie (Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, rororo 24772 – aktualisierte und erweiterte Neuausgabe, Oktober 2008).

    Jörg Magenau: Martin Walser - eine Biographie

Unter diesem Gesichtspunkt wird vielleicht Walsers Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels am 11. Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche, in der er eine „Instrumentalisierung des Holocaust“ ablehnte (Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede) begreifbar. Diese Rede wirbelte viel Staub auf. Walser wurde Antisemitismus vorgeworfen. Kurze Zeit später in seiner Rede zum Jahrestag des Novemberpogroms am 9. November 1998 nannte Ignatz Bubis, der (damalige) Vorsitzende des Zentralrates der Juden, Walser sogar einen „geistigen Brandstifter“. Sicherlich war die Rede „literarisch kompliziert“ und die Auseinandersetzung Walsers mit dem Thema „rational kontrovers bewertbar“: „Die nationalsozialistischen Verbrechen würden von einigen Leuten dazu missbraucht werden, den Deutschen weh zu tun oder gar politische Forderungen zu stützen. Auch fühle derjenige, der ständig diese Verbrechen thematisiert, sich den Mitmenschen moralisch überlegen. Der Themenkomplex Auschwitz dürfe aber nicht zur ‚Moralkeule’ verkommen, gerade wegen seiner großen Bedeutung.“ (Quelle: de.wikipedia.org).

Ignatz Bubis erregte sich besonders an Walsers „Wegschauen“. Nur meinte Walser mit Sicherheit mit „Wegschauen“ nicht ignorieren und vergessen. Es ist ein schamhaftes „Wegschauen“ im Gegensatz zum „Gaffen“, was in unserer heutigen Gesellschaft so gängig geworden ist. Walser in seiner Rede: „Wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, daß sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt. Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen. Ich möchte verstehen, warum in diesem Jahrzehnt die Vergangenheit präsentiert wird wie nie zuvor. Wenn ich merke, daß sich in mir etwas dagegen wehrt, versuche ich, die Vorhaltung unserer Schande auf die Motive hin abzuhören, und bin fast froh, wenn ich glaube entdecken zu können, dass öfter nicht das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken. Immer guten Zwecken, ehrenwerten. Aber doch Instrumentalisierung. […] Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität des Lippengebets […].“

Martin Walser betonte, hier seine subjektiv eigene, wenn man so will: private Denkweise wiedergegeben zu haben und plädierte allgemein für eine ‚subjektive’ Geschichtsauffassung. Wie können wir für uns allein „innerlich-moralisch“ Geschichte aufarbeiten, wenn nicht subjektiv geprägt. – Die nachstehende Kontroverse wurde zu einer Diskussion um politische Korrektheit. Ich denke, dass political correctness zu einem Mäntelchen werden kann, unter das manches versteckt wird. Eine offene Debatte ist sinnvoller. Im gewissen Sinne hat Walser diese mit seiner Rede angeregt, wenn auch mit für ihn nicht vorhersehbaren Folgen.

Ich möchte hier nicht weiter auf diese „Sonntagsrede“ eingehen. Die Rede selbst (Martin Walser – Dank: Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede) zusammen mit der Laudatio von Frank Schirrmacher – Laudatio: Sein Anteil findet sich im Internet als PDF-Datei bzw. als Text mit einigen Vorbemerkungen.

Wer nach „Martin Walser Sonntagsrede“ googlet wird erstaunt sein, wer sich da alles (ich ja auch) zu Wort gemeldet hat. Die Auseinandersetzung zwischen Walser und Bubis wurde zudem ausführlich von Frank Schirrmacher als Herausgeber in dem Buch Die Walser-Bubis-Debatte. Eine Dokumentation, Frankfurt am Main 1999 (Inhaltsverzeichnis als PDF) dokumentiert.

Hier nur einige Links im Netz, die sich mit der Rede Walsers bzw. mit der anschließenden Debatte befassen:

Der Streitverlauf in Stimmen und Zitaten
Kritik an Martin Walser
Martin Walsers (Un-)Friedenspreisrede – von Stefan Kühnen

Beängstigend finde ich, wie manche emotional auf die Walser-Rede überreagiert haben. So sah Ignatz Bubis sein Lebenswerk – die Versöhnung mit den Deutschen auf der Basis gemeinsamen Erinnerns an den Holocaust – als gescheitert an. Selbst der blanke Hass tritt da Walser entgegen, als Beispiel der Blog walserbashing. Jahre später hat es Martin Walser bereut, ein ‚Friedensangebot‘ von Ignatz Bubis nicht angenommen zu haben.

siehe auch:
Zu Martin Walser (1): Ich bin nicht Walser
Zu Martin Walser (2): Links und DKP-nah

Zu Martin Walser (2): Links und DKP-nah

In den 70er Jahren galt Martin Walser als Kommunist, zwanzig Jahre später dann fast schon als Nationalsozialist, zumindest als einer, der den Rechten zuspielt (so mit seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels am 11. Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche, in der er eine „Instrumentalisierung des Holocaust“ ablehnte). Wer viel schreibt und auch viel in der Öffentlichkeit sagt, bietet genügend Angriffsfläche.

Walser ist eloquent, in seinem Schreiben wortreich und ausdrucksvoll, geradezu wortgewaltig. Er lädt dazu ein, missverstanden zu werden. In seiner Beharrlichkeit, auf Begriffe zu bestehen, gelingt es ihm dann nicht immer, diese Missverständnisse auszuräumen.

Was mich lange stutzig gemacht hat, ist die nachgesagte Nähe Walsers zur Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Es galt als deren Sympathisant. Er war nach Moskau gereist, engagierte sich gegen den Vietnamkrieg und hatte keine ‚Skrupel’ – die ‚Krönung’ aus der Sicht konservativer Kreise -, auch in der UZ, der Zeitung der DKP zu publizieren.

War nun Walser ein Kommunist? Antwort erhoffte ich mir aus Jörg Magenaus Martin Walser-Biographie (Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, rororo 24772 – aktualisierte und erweiterte Neuausgabe, Oktober 2008).

    Jörg Magenau: Martin Walser - eine Biographie

Es ist nicht ganz leicht, ein halbwegs genaues Bild vom politischen Weg Walsers zu bekommen. 1969, als sich linke Intellektuelle (Günter Grass u. a.) für die Wahl von Willy Brandt zum Bundeskanzler einsetzten, empfahl Walser die ADF – Aktion Demokratischer Fortschritt, ein linkes Bündnis. Das sollte dann aber auch seine letzte Wahlempfehlung für eine linksgerichtete Partei sein. Die DKP lehnte er deshalb ab, weil sie von Ost-Berlin gesteuert und moskautreu war. Ihm fehlte (schon damals) das nationale Element. Walser schwebte dagegen ein demokratischer Sozialismus vor, wie er vor allem von den kommunistischen Parteien Italiens, Spaniens und Frankreichs vertreten wurde, dem so genannten Eurokommunismus; auf Walser bezogen könnte man seine Vorstellung auch einen ‚demokratischen Nationalkommunismus’ nennen.

„Neue Freunde bringen Rettung und Heilung. Mit ihnen erlernt er soziale Verhaltensweisen. Das kranke bürgerliche Individuum gesundet im kraftvollen Kollektiv der Genossen. Walser demonstriert an Gallistl [Die Gallistl’sche Krankheit, Roman 1972] die Einübung in den Sozialismus und tastet sich voran zu ‚Tonarten der Hoffnung’“, heißt auf Seite 301 der Biographie und weiter: „Die Erlösungshoffnung ist brüchig, aber sie besteht.“

Zum angesprochenen Roman schrieb Paul Konrad Kurz im Spiegel: Gesundung in der Partei?:

„Der Ich-Erzähler Josef Georg Gallistl beschreibt sein Krankheitsbild. Da die zu beschreibende Krankheit noch keinen Namen hat, leiht er ihr den eigenen. Gallistls Fall ist in Kürze dieser: Es ist ihm völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, Lust zu empfinden, Sinn zu erfahren, Zukunft vor sich zu sehen, menschliche Kontakte nicht der Lüge, die Gesellschaft nicht der Unmoralität zeihen zu müssen. Es ist die Krankheit des Intellektuellen, vorab des Schriftstellers in dieser Zeit und Gesellschaft. […]

Gallistls ‚Vorstellung von einer besseren Welt’ und dem ‚Leben einen Sinn geben’ mündet in die ‚Partei’. Die im Roman anvisierte sozialistische Idee meint nicht einen bereits vorhandenen Staatsmarxismus oder eine einfach übernehmbare Parteivorstellung. In der neuen Hier-und-Jetzt-Partei darf und muß man selber denken.“

Die Betonung liegt auf ‚selber denken’.

Um diese Art von Utopie zu verstehen, muss man den gesellschaftlich-politischen Hintergrund eingeziehen. 1968 wurden von der großen Koalition von CDU/CSU und SPD die Notstandsgesetze verabschiedet. 1972 erfolgte ein Beschluss der Regierungschefs der Bundesländer und Bundeskanzler Willy Brandts, der so genannte Radikalenerlass, der insbesondere auf die Deutsche Kommunistische Partei zielte.

Ähnlich wie es viele heute sehen, so sah Walser keinen wesentlichen Unterschied mehr zwischen den Konservativen und den Sozialdemokraten, zwischen CDU/CSU und SPD. Was damals die DKP war, findet sich heute vielleicht in der Linken wieder – eine Position links der verbürgerlichten SPD. Wählbar aber waren bzw. sind beide kaum. So muss eine eigene Alternative her, wenn auch nur eine vorstellbare.

Ich kann Martin Walser sehr gut verstehen. Seine so genannte Nähe zur DKP war eine Ausschau nach dieser Alternativen – spätestens mit dem Besuch eines internationalen Schriftstellerkongress 1971 in Moskau, war ihm bewusst, dass es diese Partei wohl nicht sein kann: „Auf das pathetische öffentliche Bekenntnis zum Sozialismus folgte dort postwendend die Ernüchterung. Der Besuch in Moskau war, so sagte er rückblickend, ‚Tödlich für jede Hoffnung.’“ (S. 295)

Als die Grünen gegründet wurden, sah Walser in ihnen eine mögliche Alternative. Heute hat sich seine Ansicht da sicherlich relativiert, auch wenn sein Lebensgefühl eigentlich grün ist, wie er sagt. Immerhin ist er von Winfried Kretschmann, Ministerpräsident Baden-Württembergs, ganz angetan.

In der Biographie auf S. 369 steht geschrieben: „Er bekennt, daß seine Meinungen von früher ihm fremd geworden sind. Oder genauer: Nicht die Meinungen sind ihm fremd, sondern das Meinen. Er ist immer weniger dazu in der Lage, die dafür erforderliche Eindeutigkeit und Entschiedenheit herzustellen. Er sieht, was er dafür alles weglassen muß, und entwickelt das Bedürfnis, nur noch das zu sagen, was ihn ganz enthält. Das ist seine neue Utopie: eine so umfassende Ausdrucksfähigkeit, daß kein ungesagter Rest zurückbleibt. Meinungen dagegen hinterlassen immer das Gefühl, etwas Wesentliches zu verschweigen: sich selbst.“

Wer das als mögliche politische ‚Trendwende’ versteht, liegt falsch. Walser ging es nie um Allgemeingültiges, um Öffentlichkeit, „deren Sprechen Gefahr läuft, zum Ritual zu verkommen“ (so heißt es nämlich weiter). Es geht ihm um sich selbst, Integrität oder wie immer man es nennen will. Sein Problem: Was er einmal gesagt (oder geschrieben) hat, bleibt beharrlich missverstanden, wenn es erst einmal missverstanden wurde. Die Worte lassen sich nicht mehr löschen (und das Ungesagte bleibt ungesagt), wohl auch nicht das Missverständnis ….

siehe auch: Zu Martin Walser (1): Ich bin nicht Walser

Zu Martin Walser (1): Ich bin nicht Walser

Die Eins hinter dem „Zu Martin Walser“ deutet es bereits an: Es kommt noch mehr … Martin Walser ist einer ‚meiner’ Autoren. Er ist der Schriftsteller, ich bin der Leser. Wer schreibt, verarbeitet seine Erfahrungen, wer liest wie ich, liest, um Erfahrungen zu machen. Und so stolpert man hin und wieder über einen Autoren, der einen auf besondere Weise anspricht. Das ist in vielerlei Weise Martin Walser für mich.

Warum jetzt und insbesondere Martin Walser? Ich lese zz. von Jörg Magenau Martin Walser: Eine Biographie (Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, rororo 24772 – aktualisierte und erweiterte Neuausgabe, Oktober 2008). „Eine Biographie ist eine Anmaßung.“ (S. 15) schreibt Jörg Magenau, besonders wenn es um einen noch lebenden Schriftsteller geht. Zum Biographiebegehren sagte Walser: „Was Sie da vorhaben, habe ich auch schon dreimal gemacht. Nur habe ich es immer ‚Roman’ genannt.“ Eine Biographie ist ein Puzzle aus vielen unzähligen Einzelteilen, die nicht immer zusammenzupassen scheinen. Und immer fehlen Teile. Trotzdem ist es kein Roman. „Nichts lässt sich erfinden, alles muß gefunden werden.“ (S. 15). Natürlich kann eine Biographie immer nur ein ‚Bild’ vieler möglicher Bilder sein.

    Jörg Magenau: Martin Walser - eine Biographie

Nach fast zwei Drittel des Buchs bin ich dankbar, dass es diese Biographie gibt. Sie gibt Aufschluss über einen Mann, der bereits 86 Jahre zählt und immer noch nicht am Ende ist – zu erzählen. Denn „Walser ist unentwegt damit beschäftigt, Leben in Sprache zu verwandeln. Was ihm zustößt, beantwortet er mit Literatur.“ (S. 15). „Sein Schreiben ist ein ‚Entblößungs-Verbergungs-Spiel.’ […] ‚Es muß raus, aber als Verborgenes. Verbergen heißt ja nicht verschweigen.’“ (S. 16).

Walser der ‚dröhnende Meinungsmacher’ und ‚Politprovokateur’„Ob ‚Gesellschaftskritiker’, ‚Kommunist’ oder ‚Nationalist’ – in jeder Phase der Bundesrepublik klebte ihm das jeweils schädlichste Etikett an.“ – „Diese wuchernden Augenbrauen! Diese alemannische Starrköpfigkeit! Dieser Schmerzensreiche, Wehleidige, Dauerbeleidigte! Dieser Geschichtsempfinder und Deutschlanderleider.“ (S. 18) – Und dann ist da noch der Bodensee, von dem sich Martin Walser nie hat lösen können. Ohne das „Schwäbisches Meer“ wären all die Romanfiguren von Anselm Kristlein bis hin zu Gottlieb Zürn nicht möglich.

Ich bin nicht Walser, betitele ich diesen Beitrag. Aber auch wenn ich viele Jahre jünger bin (wenn auch nicht mehr der Jüngste), so gibt es doch Anknüpfungspunkte, die mich mit Walser näher bringen. Die Adenauer-Jahre habe ich noch nicht bewusst erlebt. Dafür bin ich aber schon als Jugendlicher mit einem repressiven Staat in Berührung gekommen, als ich mich 1968 an den Straßenbahnunruhen in Bremen beteiligte. Die 68er-Bewegung der Studenten hatte auch meine Schule erreicht. Durch den Vietnam-Krieg und hier durch die deutsche Politik als Unterstützer der USA wandte sich Martin Walser politisch immer mehr nach links. So reiste Walser nach Moskau und galt in den sechziger und siebziger Jahren als Sympathisant der DKP, der er aber nie als Mitglied angehörte. Ein Punkt, auf den man näher eingehen sollte. Ich selbst hatte damals Kontakt zu linksgerichteten, so genannten Basisgruppen, wurde aber durch die Dogmatik, dem Glaubenseifer sehr schnell abgeschreckt. Ähnlich muss es Walser 1971 ergangen sein, als er in Moskau zu einem internationalen Schriftstellerkongress eingeladen war. „Auf das pathetische öffentliche Bekenntnis zum Sozialismus folgte dort postwendend die Ernüchterung. Der Besuch in Moskau war, so sagte er rückblickend, ‚Tödlich für jede Hoffnung.’“ (S. 295)

Walser gilt heute als Nationalist. Man sollte das nicht mit Chauvinismus und Ähnlichem verwechseln. In dem Buch heißt es zum Begriff der Nation: „Nichts Staatliches ist damit gemeint, kein Machtapparat, keine aufputschende Ideologie. Die Nation ist ein geschichtliches, sprachliches und kulturelles Zusammengehörigkeitsgebilde, dem man nicht entrinnen kann. Eine Schicksalsgemeinschaft, in die man durch Geburt gerät.“ (S. 287) – Hier finde ich mich ohne weiteres wieder. Das gilt insbesondere auch für die deutsche Sprache, die nun einmal meine Muttersprache ist. Ich habe keine Probleme damit, mich zu ihr zu bekennen und habe mich in diesem Blog mit ihr und ihren Ausformungen immer wieder auseinandergesetzt (siehe u.a. Wortschatz).

Als in Deutschland Geborener habe ich wie „jeder Deutsche … die ganze Geschichte geerbt und zu verantworten, damit also auch Auschwitz. Doch es gibt keine richtige Haltung gegenüber der Vergangenheit. Besonders grotesk fand Walser die Erfindung der ‚Vergangenheitsbewältigung’. Erst Auschwitz zu betreiben und dann als Rechtsnachfolger des NS-Staates Bewältigung auf die Tagesordnung zu setzen war geradezu anstößig. Seine vehemente Ablehnung von Gedenkritualen […] wird von hier aus begreiflich.“ (S. 373) – Dem brauche ich von meiner Seite aus nichts hinzuzufügen. Die Nazi-Vergangenheit nach dem Terminkalender zu bewältigen ist nicht genug. Wie lasch heute gegen Neonazis vorgegangen wird, verdeutlicht das.

Erwähnungswert ist ohne Zweifel Walsers Verbundenheit mit seiner Heimat. Es ist der Bodensee und es ist die Sprache, der Dialekt. „Gegen die Konjunktivkultur und die Konditionalfiligrane des Alemannischen, sagt Walser, ist das Hochdeutsche doch bloß eine Straßenwalze. Im Dialekt stimmten die Wörter. Sein Verlust – unausweichlich in einer kapitalistischen Ökonomie der Innovation – war eine ‚Vertreibung aus dem Paradies’ … Nicht nur Tierarten sterben aus, sondern auch Worte und mit ihnen Denkmöglichkeiten.“ (S. 359). In meiner Kindheit lebte ich rund drei Jahre in Pforzheim und lernte noch vor dem Hochdeutschen Schwäbisch, einen westoberdeutschen Dialekt bzw. einen Unterdialekt des Alemannischen. Leider ist davon, da ich mit knapp fünf Jahren nach Norddeutschland kam, nichts mehr geblieben.

So fehlt mir schon so etwas wie eine immerwährende Heimat und ich musste mich hier im Norden Deutschlands einrichten. Statt einer alemannischen Starrköpfigkeit ist es eben norddeutsche Sturheit, die mich geprägt hat.

Aber das sind nur einige Berührungs- bzw. Anknüpfungspunkte, die mich Walser so nahe halten. Es sind seine kleinbürgerlichen Helden, für die es nach Walsers Erkenntnis „kein Scheitern gibt, sondern immer nur eine Gesellschaft, die einzelne für gescheitert erklärt.“ (S. 130). Es sind seine Romane, „die sich von der Wirklichkeit nichts vormachen [lassen], sie mach[en] vielmehr der Wirklichkeit vor, wie die Wirklichkeit ist. Sie spiel[en] mit der Wirklichkeit …“ Und „es ist die Hoffnung des Verfassers, er sei Zeitgenosse genug, daß seine von der Wirklichkeit ermöglichten Erfindungen den oder jenen wie eigene Erfahrungen anmuten.“ (S. 135). – Mich muten Walsers literarische Erfindungen wirklich oft genug wie eigene Erfahrungen an.

Menschenjagd und Selbstradikalisierung

Das Internet ist Segen und Fluch zugleich. Mit Hilfe des Internets und besonders dank der ausgewerteten Videokameraaufzeichnungen konnten die mutmaßlichen Bombenleger vom Boston-Marathon schnell ausfindig gemacht werden, die Brüder Tamerlan, 26, und Dschochar A. Zarnajew, 19 Jahre alt. Tamerlan Zarnajew starb bei einem Schusswechsel mit der Polizei am 19. April. Sein Bruder Dschochar wurde am 20. April 2013 mit einem Halsdurchschuss verletzt in Watertown gefasst, nachdem der Vorort von Boston hermetisch abgeriegelt und von bis zu 9000 Polizisten systematisch durchsucht worden war. Die Suche war zunächst erfolglos. Nach fast 15-stündiger Flucht konnte man Dschochar um 19:30 Uhr Ortszeit in einem Boot in einem Garten in der „Franklin Street“ in Watertown ausfindig machen. Dem Besitzer waren Blutspuren und die flatternde Abdeckplane aufgefallen. Um 20:44 Uhr Ortszeit gab Dschochar Zarnajew nach zwanzigminütigen Verhandlungen mit der Polizei schwer verletzt auf:

Die Jagd (Manhunt) auf Dschochar A. Zarnajew konnte man nach US-amerikanischer Art auch in Deutschland live miterleben. Zum einen berichtete am letzten Freitag und danach der ZDF-Reporter Christoph Röckerath auf seinem Twitter-Account laufend von den weiteren Entwicklungen. Ebenso konnte man sich über das Twitter-Konto der Bostoner Polizei informieren. Die ARD berichtete über eine Art Live-Ticker. Live-Bilder sendete u.a. der US-amerikanische Sender CNN. Auf Youtube sind seither diverse Videos (auch auf Deutsch) zu sehen.

CNN Live: Manhunt

Inzwischen wurden viele Details zu den Brüdern Zarnajew bekannt. Sie sind tschetschenischer Abstammung und wuchsen in Kirgisistan auf, bevor die Familie 1999 nach Dagestan zog. 2002 reisten die Brüder mit ihrer Familie in die USA ein. Seit 2012 ist der jüngere der Brüder, Dschochar, US-amerikanischer Staatsbürger. Sein Bruder Tamerlan war bei der Bostoner Polizei aktenkundig wegen Gewalttätigkeit gegenüber seiner Lebensgefährtin gewesen. 2011 hatte die russische Regierung beim FBI um Informationen über Tamerlan Zarnajew gebeten, weil man eine Radikalisierung seiner islamistischen Einstellungen vermutete. Zwei Beamte des FBI suchten daraufhin die Familie Zarnajew auf, fanden jedoch keine Hinweise auf terroristische Aktivitäten. Das Ministerium für Innere Sicherheit der Vereinigten Staaten lehnte eine Einbürgerung Tamerlans mit der Begründung ab, FBI-Beamte hätten ihn befragt.

Im Jahr 2012 besuchte Tamerlan sechs Monate lang seine Heimat Dagestan und Tschetschenien. Einen Monat nach seiner Rückkehr erschien unter seinem Namen eine Webseite auf Youtube, die auf verschiedene Dschihadistische Videos verwies, unter anderem auf die radikal-islamistischen Prediger Abdul al-Hamid al-Juhani und Feiz Mohammed, sowie auf islamistische Lieder des Sängers Timur Muzurajew. Von Dschochar Zarnajew ist unter der Schreibweise Djohar Tsarnaev ein Account bei VK bekannt, einem Facebook-ähnlichen Online-Netzwerk, das vorwiegend in den GUS-Staaten genutzt wird. Es wird vermutet, dass Dschochar durch seinen älteren Bruder Tamerlan radikalisiert wurde, denn Dschochar galt eigentlich als in die US-amerikanische Gesellschaft integriert, wie ehemalige Schulkameraden von ihm bekunden.

Was veranlasst zwei junge Männern sich zu solch unsinnigen Taten hinreißen zu lassen? Tamerlan, der ältere der Brüder, fühlte sich in den USA allein gelassen. Er verstehe sie (die US-Amerikaner) nicht. So in einem Post auf seiner Google-plus-Seite. Man spricht von einer Selbstradikalisierung. Hier ist der Fluch des Internets, der Hasspredigern die entsprechende Plattform liefert und junge Leute gewissermaßen infiziert. Aber es sind immer viele Gründe, die Auslöser zu solchen Taten sind.

Wir wissen längst, dass sich auch in Deutschland junge Muslime radikalisiert haben. Bereits mehrfach konnten seit 2002 islamistische Terroranschläge in Deutschland vereitelt werden (u.a. die Sauerland-Gruppe). Aber auch von anderer Seite droht Gefahr. Besonders aus dem rechtsextremistischen Lager kennen wir zunehmend Straftaten, die ihren bisherigen Höhepunkt in den terroristische Akten der NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) hatten.

Islamisten und Rechtsradikale gehen heute nach ähnlichem Schema vor. Es sind meist keine größeren Vereinigungen mehr, sondern kleine Gruppen, ja sogar Einzeltäter, die sich selbst radikalisiert haben. Waffen lassen sich in den USA leicht beschaffen. Aber auch bei uns dürfte das inzwischen deutlich erleichtert sein. Und zum Bombenbau gibt es Anleitung im Internet.

Ohne hier Panik verbreiten zu wollen, so denke ich, dass man radikale Gruppen welcher Couleur auch immer nicht unterschätzen darf. Leider lassen sich durch gruppendynamische Prozesse auch zuvor harmlose Menschen zu unsinnigen Taten hinreißen. Verharmlosung ist auf jeden Fall das falsche Mittel. Aber natürlich darf das z.B. auch nicht zu einem Generalverdacht gegen alle Muslime führen. Wir als einzelne Menschen können nur versuchen, ein Klima der Verständigung und Toleranz zu schaffen. Dem Entstehen von Terrorismus muss der Nährboden entzogen werden.

Lauf in den Tod

Übermorgen am Sonntag startet der 28. Haspa Marathon in Hamburg. Natürlich wirft der Anschlag beim Boston Marathon am vergangenen Montag (15.04.2013) dunkle Schatten auf diesen Marathon-Lauf.

In Boston wurden drei Menschen getötet, zwei junge Frauen und ein achtjähriger Junge, dessen Bild um die Welt ging – als Symbol der Trauer. Außerdem wurden durch die zwei selbstgebauten Bomben über 180 weitere Menschen zum Teil schwer verletzt.


Boylston Street, Boston/Massachusetts/USA (Zieleinlauf)

Die Meldungen kennt man. Jetzt sucht man die Täter, denn das FBI veröffentlichte Fotos und Videobilder, die zwei junge Männer mit Baseballmützen zeigen und Rucksäcken, die die vermeintlichen Bomben enthalten. Wer hinter dieser perfiden Tat steht, ist weiterhin unbekannt.

Martin Richard (8) – Opfer des Anschlags beim Boston Marathon 2013

Der unsinnige Terror hat durch die Bilder des getöteten achtjährigen Jungen Gestalt und Namen und mahnt an die Opfer von Gewalt in dieser Welt. Das Bild hat mich deshalb besonders betroffen gemacht, weil es mich als Vater von zwei Söhnen an Bilder meiner Kinder erinnert, als diese im gleiche Alter waren wie der Junge aus dem Bostoner Vorort Dorchester.

Sicherlich hat diese mörderische Attacke auf unschuldige Menschen Hintergründe, die Täter ihre Motive. Gerade auch diese Hintergründe gilt es aufzudecken, die Ursachen zu beheben. Aber erst einmal ist auch der Opfer zu gedenken, die eben mit den möglichen Ursachen und Gründen nichts, aber auch gar nichts zu tun haben.

– Möge der Marathon-Lauf morgen in Hamburg ohne Zwischenfälle verlaufen. Das Wetter verspricht Sonne bei fürs Laufen angenehmer Temperatur.

Der Baader-Meinhof-Komplex

Der Spielfilm Der Baader Meinhof Komplex aus dem Jahr 2008 schildert Vorgeschichte und Aktionen der Terrorgruppe Rote Armee Fraktion (RAF) von 1967 bis zum „Deutschen Herbst“ 1977. Das von Produzent Bernd Eichinger verfasste Drehbuch folgt weitgehend dem gleichnamigen Sachbuch von Stefan Aust (erstmals erschienen Ende 1985). Unter der Regie von Uli Edel spielten in dem Film – auch in Nebenrollen – einige der bekanntesten deutschen Darsteller mit.

    Der Baader-Meinhof-Komplex – der Film

Während meines Osterurlaubs habe ich mir den Film in der Kinofassung angeschaut. Sowohl Buch (u.a. von Stefan Aust) Baader Meinhof Komplex als auch der Film als DVD bzw. BluRay sind weiterhin im Handel erhältlich.

„Beim Staatsbesuch des Schah Mohammad Reza Pahlavi in West-Berlin kommt es zur gewaltsamen Auflösung einer Demonstration, bei der Kriminalobermeister Karl-Heinz Kurras den Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 vor der Deutschen Oper erschießt. Ohnesorgs Todestag gilt als Einschnitt in die deutsche Nachkriegsgeschichte mit weitreichenden gesellschaftspolitischen Folgen. – Studentenführer Rudi Dutschke, Redner am Vietnam-Kongress im Audimax der TU Berlin, wird am 11. April 1968 auf offener Straße von einem jungen Hilfsarbeiter angeschossen und schwer verletzt. Als Reaktion folgt ein Protest gegen den Axel-Springer-Verlag, an dem auch Ulrike Meinhof teilnimmt. Nach der Brandstiftung in zwei Frankfurter Kaufhäusern als Protest gegen den Vietnamkrieg werden die Täter am nächsten Tag festgenommen. Meinhof schreibt als Journalistin über den Prozess und lernt dabei die angeklagten Studenten Gudrun Ensslin, Thorwald Proll und Andreas Baader kennen.


Der Baader Meinhof Komplex (2008) Trailer

Die Angeklagten werden zu drei Jahren Haft verurteilt, aber schon im Juni 1969 wieder entlassen, bis das Gericht über die Revision ihrer Urteile entscheidet. Als im November 1969 ihre Revision abgelehnt wird, tauchen Andreas Baader und Gudrun Ensslin in den Untergrund ab, unter anderem in Rom. Nach Berlin zurückgekehrt, wohnen sie zeitweise bei Meinhof. Während einer Fahrzeugkontrolle wird Baader festgenommen und inhaftiert, aber einen Monat später gelingt Meinhof und Ensslin die so genannte „Baader-Befreiung“ in Berlin. Damit wechselt Meinhof in die Illegalität und lässt ihre zwei Töchter zurück. Die Baader-Befreiung gilt als Geburtsstunde der Rote Armee Fraktion.“

    Rote Armee Fraktion (RAF)

„Deutschland in den 70ern. Die radikalisierten Kinder der Nazi-Generation, angeführt von Andreas Baader (Moritz Bleibtreu), der ehemaligen Starkolumnistin Ulrike Meinhof (Martina Gedeck) und Gudrun Ensslin (Johanna Wokalek), kämpfen gegen das, was sie als das neue Gesicht des Faschismus begreifen: die US-amerikanische Politik in Vietnam, im Nahen Osten und in der Dritten Welt, die von führenden Köpfen der deutschen Politik, Justiz und Industrie unterstützt wird. Die von Baader, Meinhof und Ensslin gegründete Rote Armee Fraktion hat der Bundesrepublik Deutschland den Krieg erklärt. Es gibt Tote und Verletzte, die Situation eskaliert, und die noch junge Demokratie wird in ihren Grundfesten erschüttert. Der Mann, der die Taten der Terroristen zwar nicht billigt, aber dennoch zu verstehen versucht, ist auch ihr Jäger: der Leiter des Bundeskriminalamts Horst Herold (Bruno Ganz). Obwohl er große Fahndungserfolge verbucht, ist er sich bewusst, dass die Polizei allein die Spirale der Gewalt nicht aufhalten kann.“

Das Buch von Stefan Aust gilt inzwischen als Standardwerk über die RAF und behandelt die frühe Geschichte der Rote Armee Fraktion (RAF) unter der Führung von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof. Einer Verfilmung waren von Anfang an Grenzen gesetzt. So verzichtete das Drehbuch auf identifikatorische Figuren und einen durchgehenden Handlungsbogen. Zudem musste man einen solchen Stoff radikal verdichten. Am Ende kam ein Film heraus, der ganz offensichtlich vor allem für jene gemacht wurde, die die RAF nur vom Hörensagen kennen, die ganz gern mal wissen wollten, was es mit diesen Radikalen aus den Siebzigern auf sich hat, die beinahe im Alleingang den Rechtsstaat an seine Grenzen gebracht hatten.

Wer hier nach neuen Erkenntnissen sucht oder sogar einen Diskurs einfordert, der ist fehl am Platze. Der Film erzählt im Wesentlichen aus der Perspektive der Terroristen. So gab es natürlich Klagen, da man die Opfer nicht ausreichend gewürdigt oder den Gegenspieler der RAF, also die Bundesregierung, nur unzureichend ins Bild gerückt habe. Aber darum geht es im Film nun einmal nicht. Es ist in erster Linie ein Art Geschichtsfilm, dramaturgisch aufbereitet, der gleichzeitig unterhalten und aufklären will. Moritz Bleibtreu spielt Andreas Baader als testosterongesteuertes Alpha-Männchen. Johanna Wokalek oder Nadja Uhl als Gudrun Ensslin und Brigitte Mohnhaupt werden als Todesengel im Minirock inszeniert. Trotzdem bietet der Film einen ungewöhnlichen Einblick in die Zeit der siebziger Jahre und der damaligen Ereignisse. Das gilt sowohl für mich, der vieles als Zeitzeuge miterlebt hat und sich dieses durch den Film ins Gedächtnis zurückholen kann, besonders aber für die nachgewachsene Generation unserer Kinder.

Sicherlich wäre es interessant gewesen, wenn dem Film Bezüge zum Hier und Jetzt gelungen wäre. Wie schreibt Günter Grass in seinem Buch Grimms Wörter: Mich treibt Zorn an, der sich an westlichen Colonialherren reibt, die als Sieger des Kalten Krieges meinen, hemmungslos zugreifen, fortan auf Pump leben zu dürfen und nun, nach dem Triumph des Kapitalismus über den Kommunismus, beginnen, ihresgleichen zu zerstören, weil ihnen der Feind fehlt. – Die RAF hat nach meiner Meinung ebenso wie die ‚kommunistische Gefahr’ dazu beigetragen, den Verantwortlichen in unserer Republik (Politik, Justiz, Wirtschaft), ihre ‚persönlichen’ Grenzen aufzuzeigen. Der habgierige Wirtschaftsmagnat wurde in seinen Tun dadurch beschränkt, weil er fürchten musste, sonst in die Schusslinie der RAF-Terroristen zu gelangen. Natürlich will ich kein Klima der Angst schüren. Aber es wäre besser, wenn ‚die Oberen’ immer so etwas wie einen ‚natürlichen’ Feind hätten, zumindest einen außenstehenden Kontrolleur, der ihnen auf die Finger schaut.

Nachbetrachtung: Verbindung der RAF zur DDR

Am 2. Juni 1967 schoss der damalige Kriminalobermeister Kurras bei einem Polizeieinsatz gegen Demonstranten in West-Berlin den FU-Studenten Benno Ohnesorg mit seiner Dienstwaffe in den Hinterkopf, woran dieser starb. Der Tod Ohnesorgs führte zur Radikalisierung von Studenten und damit auch zur Gründung der RAF. Erwähnenswert ist dabei, dass Kurras von 1955 bis mindestens 1967 auch Inoffizieller Mitarbeiter (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR war. Kurras‘ im Mai 2009 bekannt gewordene IM-Tätigkeit löste neue staatsanwaltliche Ermittlungen zu seinem Todesschuss und eine neue Debatte über dessen Ursachen und Folgen aus. Es fanden sich allerdings keine Anhaltspunkte für einen Mordauftrag des MfS.

Mitglieder der zweiten Generation der RAF erfuhren organisatorische und finanzielle Hilfe aus der DDR. Die „Stasi“ bot eine Art Waffenbrüderschaft an. Man bildete RAF-Mitglieder in Camps aus, wo man ihnen das Schießen mit Gewehr und Raketenwerfer beibrachte. Diese Ausbildung war guerillamäßig und sehr gut organisiert. Die dort erlernten Fähigkeiten konnten sie dann für Anschläge usw. verwenden (Quelle: rafinfo.org). Zehn sogenannte RAF-Aussteiger tauchten mit Hilfe der Staatssicherheit in der DDR unter. Noch vor der Wiedervereinigung wurden sie im Juni 1990 enttarnt, festgenommen und an die Bundesrepublik ausgeliefert. – siehe hierzu auch: spiegel.de

Erwähnenswert ist auch Horst Mahler, der im Film nur kurz abgehandelt wird. Er vertrat als Rechtsanwalt u.a. Andreas Baader und Gudrun Ensslin und gilt selbst als Gründungsmitglied der RAF. 1975 sagte sich Mahler vom Terrorismus los und erreichte 1988 seine Wiederzulassung als Anwalt. Dann erfolgte eine außergewöhnliche Kehrtwendung: Ab etwa 1997 wandte er sich dem Rechtsextremismus zu und vertrat 2002 die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) im NPD-Verbotsverfahren. Wegen verschiedener Delikte, darunter verfassungswidrige Betätigung, Holocaustleugnung, Mord- und Gewaltandrohungen, antisemitische und neonazistische Äußerungen wurde er zu mehreren Geld- und Freiheitsstrafen verurteilt. Ein vorläufiges Berufsverbot von 2004 wurde 2009 mit dem Entzug seiner anwaltlichen Zulassung bestätigt.

Der Sieg der Gleichgültigkeit

Im November letzten Jahres hatte ich mich über Twitter mit Dunehopper, dem 2. Vorsitzender der Heidepiraten aus Tostedt zum Thema „Mehr Demokratie“ kurz ausgetauscht. Seine Meinung: „Der Plan ist, das mehr Demokratie und mehr Bürgerbeteiligung zu mehr Interesse an Politik führt.“, „Kitastreit zeigt, das ‚Mehr Demokratie’ Thema ist.“ Und „Themen waren Jugendarbeit, Bürgerbeteiligung, mehr Demokratie. Die werden alle piratisiert :-)“

Meine Ansichten damals wie heute: „’Mehr Demokratie‘ ist so ein alter Schlagwort“ und „’Mehr Demokratie‘, weil die Politik versagt – auf Dauer wird das leider für viele Bürger ermüdend, fürchte ich“.

Gestern nun war der Bürgerentscheid in Sachen Neubau der Kindertagesstätte/Kinderhort Dieckhofstraße in der Samtgemeinde Tostedt. Von 20.961 Stimmberechtigten gaben gerade einmal 25,5 % ihre Stimme ab. Ein niederschmetterndes Ergebnis. Immerhin stimmten 3.350 (62,9 %) mit ‚ja’ und damit gegen den Neubau in der Dieckhofstraße, 1977 (27,1 %) stimmten mit ‚nein’, also dafür. Die erforderliche Mindestzahl von 5205 Ja-Stimmen wurde also deutlich nicht erreicht.

Gegner wie Befürworter der Dieckhofstraßen-Lösung werden nun das Ergebnis werten müssen. Jeder wird das ihm Angenehme hervorheben. Ohne Zweifel haben die Gegner eine klare Mehrheit erzielt. Die Gegenkampagne der Parteien, die den Ratsbeschluss zum Bau einer Kindertagesstätte am Standort Dieckhofstraße durchgesetzt haben, hat nur wenig gefruchtet. Erschreckend für mich ist aber die Interesselosigkeit fast drei Viertel der Bürger. Drei von vier stimmberechtigter Bürger haben es für nicht notwendig erachtet, ihr Recht auf direkte Bürgerbeteiligung wahrzunehmen. Vielleicht lag es am Thema: ‚lediglich’ ein Kindergarten! Vielleicht habe ich auch etwas Recht mit der Annahme, „mehr Demokratie“ ermüde auf Dauer viele Bürger. So oder so ist es ein Sieg der Gleichgültigkeit, der Ignoranz. Das ist ein Armutszeugnis und ein Freibrief für die Politik, weiterhin auch Entscheidungen zu treffen, die am Bürger vorbeizielen. Und es ist eine Ohrfeige für die Bürger, die sich für mehr Bürgerbeteiligung einsetzen.

Schade, Tostedt: Setzen, sechs!

zuletzt: Dank twitter/dunehopper hier eine aufschlussreiche Tabelle zum Bürgerentscheid – sortiert nach Beteiligung

JA beim Bürgerentscheid am 03.03.2013

Morgen ist es soweit. Zum zweiten Mal entscheiden die Bürger in Tostedt über ein Vorhaben, das im Samtgemeinderat Tostedt entschieden wurde. Es geht um den Neubau einer Kindertagesstätte/Kinderkrippe im historischen Ortskern von Tostedt.

Sehr detaillierte und fundierte Argumente gegen diesen Neubau finden sich auf historisches-tostedt-erhalten.de.

Krippenplätze zu den Kindern: JA!

Historischen Ortskern Tostedt erhalten. JA!

Bürgerentscheid am Sonntag, den 03.03.2013 – Stimmen Sie mit JA!

Die Frage beim Bürgerentscheid lautet:

Sind Sie dafür, dass der Samtgemeinderatsbeschluss vom 11.09.2012 (Kindertagesstätten/Kinderkrippenbau am Standort Dieckhofstraße) aufgehoben wird und damit verbunden keine Kindertagesstätte/Kinderkrippe am Standort Dieckhofstraße erstellt wird?

Die Grünen in Tostedt bringen es auf den Punkt – hier kurz und zusammenfassend die Argumente für ein JA beim Bürgerentscheid:

Wer mit Ja stimmt, entscheidet sich dafür, dass an diesem Standort kein Kindergarten gebaut wird.

Ja bedeutet also,

  • dass der historische Ortskern erhalten bleibt,
  • die Grundschulkinder nicht einen Großteil ihres Schulhofes verlieren,
  • das Jugendzentrum sein Außengelände behält,
  • nicht wieder ein Kindergarten mit einer sehr kleinen Außenfläche wie an der Poststraße entsteht.
  • für die Krippenkinder an wohnortnäheren Standorten sinnvollere Lösungen umgesetzt werden.
  • Krippenplätze müssen dort geschaffen werden, wo auch die Kinder sind!

    Quelle: historisches-tostedt-erhalten.de
    Quelle: historisches-tostedt-erhalten.de

    weitere Informationen zum Bürgerentscheid auf tostedt.de
    Ergebnis des Bürgerentscheids (ab 18 Uhr)

    weitere Infos siehe auch:
    Kindergartenstreit: Anfeindungen und SpekulationenKiTa Dieckhofstraße Tostedt – Jetzt streiten die Anwälte

    Tostedter Politposse

    Wer sich wundert, dass mein Beitrag „Töster K l ü n g e l“ nicht mehr online ist, dem sei gesagt: Von CDU-Seite (Gemeinderat Tostedt) wurde erwägt, gegen meinen Blog rechtliche Schritte einzuleiten. Nun habe ich also den Schwanz eingezogen, wie man sagt, weil ich keinen Bock auf ‚Scherereien’ habe. Ich habe nicht die finanziellen Mittel, um dagegen ‚anzustinken’.

    Ich gebe zu, eine saftige Polemik geschrieben zu haben. Und indirekt habe ich auch Vorwürfe erhoben, für die ich keine konkreten Beweise habe. Wie gesagt indirekt, denn ich habe eigentlich nur Fragen gestellt. Aber das Fragenstellen bekommt gewissen Kreisen nicht.

    Die Auseinandersetzungen um den Neubau einer Kindertagesstätte/Kinderhort in Tostedt haben inzwischen Züge angenommen, die man nur noch als Politposse bezeichnen kann. Da werden Halbwahrheiten verbreitet, da wird gerichtlich gedroht (wie jetzt gegen mich). Das Ganze lässt sich nicht mehr auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Keiner will und wird nachgeben. Es geht ein Riss durch die Landschaft, der sich so schnell nicht wird kitten lassen. Schade eigentlich – oder auch nicht. Der Gott des Gemetzels hat das Wort …!

    Die FDP entgleist

    Herr Rainer Brüderle, Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion, hätte es sich wohl nicht träumen lassen, dass er einmal den Anlass zu einer Sexismus-Debatte geben könnte. Nach dem Motto, wer sich verteidigt, klagt sich nur an, schweigt der gute Mann.

    Es ist sicherlich eine Frage des Standpunktes, wann ein Sprüchlein eines jovialen und leutseligen Weintrinkers als unangemessen aufdringlich oder als Kompliment zu gelten hat. Wie es sich zeigte, scheint sich Herr Brüderle mit seinen 67 Jahren entgegen seinen Ansichten doch nicht allzu gut mit 28-jährigen Frauen auszukennen.

    Da springt ihm sein Parteikollege Dirk Niebel, ja, der mit den zollfreien Teppichen und noch Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, zur Seite mit seinem unseligen Spruch: „Es gibt auch Männer, die belästigt werden“ und seiner Forderung einer gesellschaftlichen Debatte über den Sexismus gegen Männer.

    Selbst in der FDP war das Stöhnen groß angesichts einer solch verqueren Forderung. Herr Niebel muss da wohl so seine Erfahrungen gemacht haben: „Sie können ein Dirndl auch ausfüllen“, Herr Niebel.

    Dirk Niebel spricht beim FDP-Dreikönigstreffen, Rainer Brüderle (Mitte) und Philipp Rösler hören zu
    Quelle: zeit.de/©Michael Kappeler/dpa

    Und dann fordert ein weiterer FDP-Mann zu einer „gesellschaftlichen Debatte“ auf. Hessens FDP-Chef Jörg-Uwe Hahn thematisiert die vietnamesische Herkunft unseres Bundeswirtschaftministers: „Bei Philipp Rösler würde ich allerdings gerne wissen, ob unsere Gesellschaft schon so weit ist, einen asiatisch aussehenden Vizekanzler auch noch länger zu akzeptieren“, sagte Hahn, als er zu den Personalquerelen in der FDP befragt wurde. Ein unglücklicher Satz im falschen Moment. Natürlich ist der Rassismus-Vorwurf von SPD und der Linken lediglich eine Art Reflex auf eine verwirrend-wirre Äußerung und im Grunde lächerlich. Schwerwiegender empfinde ich hier den Versuch des FDP-Mannes, von den eigenen Unfähigkeiten abzulenken und die daraus resultierenden schlechten Wahlergebnisse dem unterschwelligen Rassismus des Wählers zuzuschreiben.

    Ja, die Fettnäppchen sind unzählig gesät. Da wird sich Herr Steinbrück freuen, nicht der einzigste zu sein, der ständig in das eine oder andere tritt. Die FDP befindet sich mit dem Verhalten und Reden ihrer Spitzen auf einem abschüssigen Gleis und ist dabei zu entgleisen. Trotz des guten Abschneidens bei der Niedersachsenwahl muss sie fürchten, aufs Abstellgleis abgeschoben zu werden, wohin sie nach meiner Meinung längst gehört. Und mit ihrem neuen Hoffungsträger, den etwas zu jovialen und auch nicht mehr ganz taufrischen Herrn Brüderle, wird’s dann auch eher nichts werden.

    Da nützt auch der eher populistisch angehauchte Ruf der FDP, den Inflationsschutz ins Grundgesetz als Freiheitsrecht zu schreiben, nicht viel. Gerade die FDP muss das fordern, die mit ihrer libertär gefärbten Wirtschaftspolitik zumindest die geistigen Grundlagen der Finanzkrise gelegt hat. Der Wahlkampf zur Bundestagswahl im Herbst scheint eröffnet zu sein und die FDP bemüht sich mit allen Mitteln, ihren Abwärtstrend umzubiegen.

    „Reform“-Tarifvertrag

    Ich arbeite bei einem Wohlfahrtsverband, bei dem die Gehälter nach einem eigenen Tarifvertrag bestimmt werden, der sich früher einmal sehr eng an den Bundesangestelltentarif (BAT) im Öffentlichen Dienst angelehnt hatte. Mit dem 1. Oktober 2005 wurde der BAT durch den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) abgelöst. Dieser enthält eine völlig andere Vergütungsstruktur. Entsprechendes geschah auch beim Wohlfahrtsverband, der einen so genannten „Reform“-Tarifvertrag schuf. Dieser neue Tarifvertrag wurde wie die jeweiligen Gehaltserhöhungen (Entgelttarifverträge) zwischen einer Bundestarifgemeinschaft des Wohlfahrtsverbandes und der Gewerkschaft ver.di – Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft, Berlin ausgehandelt.

    Das Problem dieser neuen Tarifverträge war und ist, dass die neuen Entgeltgruppen (mit ihren jeweiligen Stufen) im Vergleich zu den Vergütungsgruppen des BAT ein deutlich niedrigeres Gehalt ausweisen, z.B. hätte ich nach dem neuen Tarif über 560 € weniger Gehalt bekommen, wenn dieses nicht durch einen so genannten Besitzstandsbetrag ausgeglichen worden wäre. Ein Mitarbeiter, der mit den gleichen tariflichen Voraussetzungen wie ich nach dem neuen Tarif bezahlt wird, bekommt also über 560 € weniger als ich. So schufen sich der Öffentliche Dienst und auch mein Wohlfahrtsverband enorme Einsparpotentiale. Die Kritik am BAT, seine starren Vorschriften erschwerten ein flexibles Arbeiten und berücksichtige nicht individuelle Leistung, ist sicherlich gerechtfertigt, ist aber nach meiner Meinung in diesen neuen Tarifverträgen halbherzig umgesetzt und daher mehr als fadenscheinig.

    Soviel zur Vorrede.

    Ich sollte ja eigentlich glücklich sein, noch nach dem alten Tarifvertrag eingestellt worden zu sein. Immerhin bekomme ich ja den Besitzstandsbetrag als Ausgleich, der auch durch die Entgelttarifverträge, also den in der Regel jährlichen Gehaltserhöhungen berücksichtigt wurde. Nun bin ich aber zum 1. Januar in meiner Entgeltgruppe eine Stufe höher eingruppiert, was früher einmal einer Gehaltserhöhung von knapp 500 € entsprochen hätte. Nur steht im so genannten „Reform“-Tarifvertrag folgender Passus: „Der individuelle Besitzstandsbetrag verringert sich entsprechend den jeweiligen Stufenaufstiegen“, d.h. der mir zustehende Besitzstandsbetrag von etwas über 560 € wurde um diese Erhöhung verringert. Ich bekomme also nur noch einen Besitzstandsbetrag von etwas mehr als 70 €. Klartext: Meine Gehaltserhöhung beträgt in der Summe 0 €. Oder auf gut Deutsch: Meine Gehaltserhöhung können sich gewisse Damen und Herren gern in ihren verlängerten Rücken stecken!

    Reformtarifvertrag

    Natürlich ist das alles rechtens. Ein einziger kleiner Satz im genannten Tarifvertrag lässt den Arbeitgeber bei mir jährlich 6000 € sparen. Der „Reform“-Tarifvertrag hat mich nach über sechs Jahren „endlich“ eingeholt. Dass ich mich verarscht fühle, ist wohl logisch.

    Was ich von einer Gewerkschaft, die solche Verträge unterschreibt, halte, brauche ich wohl nicht näher auszuführen. Da von Reform zu sprechen, ist dann schon lächerlich. Aber warum sollten sich Arbeitgeber davon ausschließen, den Bürger abzuzocken, wenn auch „nur“ auf diese Weise.

    Apropos Gewerkschaften: ver.di hat immerhin im April letzten Jahres für uns (und damit auch für mich) eine Gehaltserhöhung von 5,5 % durchgesetzt. So ließ es die Gewerkschaft in großen Lettern verkünden. Schaut man etwas genauer hinter diese Zahl, so kann man über diese „Augenwischerei“ von Gewerkschaftsseite her nur erstaunt sein:

    Der vorherige Tarifvertrag lief am 31.12.2011 (übrigens mit einer Gehaltserhöhung für 2011 von 1,0 %) aus. Der neue Vertrag hat dann eine Laufzeit von zwei Jahren. Zum 01.07.2012 mit einer Erhöhung von 3,5 % – ab 01.01.2013 dann eine weitere Erhöhung von 2,0 %. Das sind dann 5,5 %, oder? Ich bin kein Kaufmann, aber Zinsen und ähnliches (und Gehaltserhöhungen gehören dazu) werden immer noch per annum gerechnet. Dann wären es für 2012 die Hälfte von 3,5 %, also gerade einmal 1,75 % Gehaltserhöhung – und für 2013 dann die genannten 2 %. Aber 5,5 %??? Das wäre so, als würde man auf zehn Jahre eine Erhöhung von 1 % als eine Erhöhung von 10 % ausgeben.

    siehe u.a. auch meinen Beitrag. Bad Case Management