Kategorie-Archiv: Wiedergelesen

Wiedergelesen – wiederentdeckte Literatur

Lob der Kinderarbeit

In einer kurzen Passage aus dem Buch von Michael Roes: Leeres Viertel – Rub’ Al-Khali – Invention über das Spiel, das ich in 1. Auflage btb Taschenbuch im Goldmann Verlag – 1996 vorliegen habe, beschreibt der Autor ein kurzes Gespräch mit dem deutschen Botschafter im Jemen (Dr. Kurt Messer, Oktober 1990 – Februar 1994). Zu dem Buch selbst komme ich später noch einmal ausführlicher zu sprechen. Es ist ein überaus intellektuell anregendes, vielschichtiges und dabei spannendes Buch über die menschliche Kultur, den Jemen und die Suche nach der Leere im Inneren des modernen Menschen. Im Rahmen eines ethnologischen Forschungsprojektes verbrachte Michael Roes 1994 /1995 ein Jahr im Jemen. Seine dortigen ethnologischen Studien verarbeitete er in diesem lesenswerten Roman. In einem Gespräch äußerte sich der Botschafter über Kindheit und Kinderarbeit im Jemen:

Hier spielten die kinder noch so, wie er es aus seiner eigenen kindheit kenne. Eine blechbüchse oder ein karton genüge, um ein auto darzustellen, ein flugzeug, oder um selbst zu fliegen. Überhaupt wüszten jemenitische kinder noch zu spielen, während deutsche kinder vor allem zu schulischer leistung erzogen würden. Also dürfe man sich über die zunehmende aggression der kinder und jugendlichen in Deutschland nicht wundern.
Und die weitverbreitete kinderarbeit? Seine Exzellenz macht eine abwehrende handbewegung. Auch deutschen kindern würde es nicht schaden, früh verantwortung zu übernehmen, einen sinn für das mühsam verdiente brot zu entwickeln und zugleich von erwachsenen ernster genommen zu werden. In Deutschland geht es nur noch ums geldverdienen, nicht mehr um die arbeit an sich, das solide handwerk, den respektvollen dienst. Schon eine halbe stunde vor ladenschlusz wirft die kassiererin jedem neuen kunden einen miszmutigen blick zu. Hier freut man sich über jeden besucher, auch wenn es über das gespräch hinaus zu keinem handel kommt. Hier redet man noch miteinander, schenkt einander ein lächeln, respektiert das alter und legt wert auf das familienleben. In Deutschland hingegen gibt es eine zunehmende vereinzelung: immer mehr alleinstehende und alleinerziehende menschen. Die sozialen verpflichtungen der familie übernimmt der staat: kinderbetreuung, alters- und krankenversorgung. Doch die geborgenheit der familie kann kein staat ersetzen.
Eine rückbesinnung auf traditionelle werte, wie man sie hier noch findet, scheint mit auch für Deutschland wünschenswert.
(S. 126)


Sana’a/Jemen

Ich denke, dass das „Lob“ (in der Überschrift genannt) nicht zu wörtlich zu nehmen ist. Natürlich wird hier nicht die Kinderarbeit gelobt, die Kinder frühzeitig zu Krüppeln macht, jene Knochenarbeit, bei der schon kleine Kinder schwere Lasten zu tragen haben usw. Es geht einmal um das Spiel der Kinder, das vorrangig durch die Phantasie geprägt ist und nicht durch kostspieliges (sic!) Spielzeug, das nach kurzer Zeit nur in einer Ecke landet und verstaubt. Und dann geht es um Verantwortlichkeit, um Geschicklichkeit und Lebenssinn. Im Gegenzug sollen Kinder von Erwachsenen ernster genommen werden als es sonst bei uns der Fall ist.

Diese Haltung, diese Meinung ist als konservativ verschrieen. Ich denke aber, der Begriff „wertkonservativ“ ist passender – im Gegensatz zum Strukturkonservatismus. Wertkonservatismus will Herrschaftsstrukturen verändern, um bestimmte Werte zu erhalten. Es geht um eine Einstellung und „Politik, die sich für die Bewahrung der Natur, einer humanen und solidarischen menschlichen Gemeinschaft, sowie Wert und Würde des Einzelnen einsetzt.“ Der Begriff des Wertkonservatismus wurde übrigens 1975 vom SPD-Politiker Erhard Eppler in seinem Buch „Ende oder Wende“ eingeführt.

Ich will nicht behaupten, zusammen mit meiner Frau bei der Erziehung unserer beiden Söhne alles richtig gemacht zu haben. Aber – ob nun bewusst oder auch nicht – so haben wir immer versucht, unseren Kindern Werte wie gegenseitige Achtung, Verantwortung und Solidarität zu vermitteln und ihnen die Beborgenheit zu bieten, die wir eigentlich alle benötigen, um friedvoll miteinander leben zu können. Das „Ergebnis“ spricht für uns. Die aufgeführte Textpassage hat mich noch einmal zum Nachdenken gebracht.

Vergessene Stücke (11): Heiner Müller – Quartett

Sex sells, sagt man – auch in der Literatur?

Heiner Müller (* 9. Januar 1929 in Eppendorf, Sachsen; † 30. Dezember 1995 in Berlin) gilt als einer der wichtigsten deutschsprachigen Dramatiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bedeutung erlangte er außerdem als Lyriker, Prosa-Autor und Verfasser theoretischer Texte sowie als Regisseur, Intendant und Präsident der Akademie der Künste Berlin (Ost). Sein Zweipersonenstück Quartett aus dem Jahre 1982 ist eine Adaption des Briefromans „Gefährliche Liebschaften“ von Choderlos de Laclos von 1782.

Der Stoff ist also nicht neu und bereits mehrmals verfilmt worden. Mir persönlich ist der gleichnamige Film von Stephen Frears aus dem Jahr 1988, u. a. mit John Malkovich, Glenn Close, Michelle Pfeiffer, Uma Thurman und Keanu Reeves, am bekanntesten:

„Die intrigante Marquise Isabelle Merteuil schlägt dem Vicomte Sébastien de Valmont vor, die Braut ihres früheren Geliebten Gercourt, Cécile de Volanges, noch vor der Hochzeitsnacht zu verführen. Für die Verführung der verheirateten Marie de Tourvel verspricht sie ihm sogar eine Liebesnacht.“

Das Stück von Heiner Müller selbst kenne ich aus einem Band mit verschiedenen Theaterstücken (suhrkamp taschenbuch 1190 – 1. Auflage 1985) Theater heute, dessen andere Stücke ich hier bereits fast alle vorgestellt habe.

Personen:
Merteuil (Marquise) (spielt auch Valmont bzw. ihre Nichte Volanges)
Valmont (Vicomte) (spielt auch Madame Tourvel)

Zeitraum : Salon vor der französischen Revolution – Bunker nach dem dritten Weltkrieg


Heiner Müller: Quartett

Nun auch dieses Stück ist noch nicht so ganz vergessen. Gerade in den letzten Jahren gab es mehrere Neuinszenierungen (u.a. 2010 am Stadttheater Bern oder erst neulich im theaterlabor des Theater Bremen, Premiere 5. Juni 2011).

„Müller schränkt die Personen der Handlung auf die beiden Antagonisten Marquise Merteuil und ihren ehemaligen Geliebten Vicomte Valmont ein. Die Marquise und der Vicomte reduzieren die Liebe auf Sex und reine Körperlichkeit, vielmehr das Reden darüber. In ständigem Rollenwechsel (Merteuil spielt Valmont bzw. ihre Nichte Volanges, Valmont spielt Merteuil oder Madame Tourvel – daher der Titel Quartett) fechten die zwei Figuren des Stücks einen Machtkampf aus, in dem Sexualität und Sprache zur Waffe geworden sind. Gekonnte Rhetorik und Perversion werden zum Ersatz für menschliche Beziehungen und auf die Spitze getrieben, bis hin zu brutaler Selbstzerstörung. Dabei zeigt sich jedoch auch immer die Leere und eine Art Endzeitmüdigkeit, die das durch Verstrickungen, Gewohnheit und unerfüllte Sehnsucht aneinander geknüpfte Paar verspürt. Gleichzeitig zeigen sie einen ausgeprägten Galgenhumor, der dem Drama komödiantische Elemente hinzufügt.“

Sex sells? Das Stück hat sicherlich seinen ausgesprochenen (sic!) Reiz. Die Sprache ist lasziv, dabei äußerst geschliffen. Aber es offenbart sich am Ende nur ein leerer Abgrund. Müller kritisierte die Dekadenz, den Verfall der Gesellschaft, in der jeder nur ‚bedient’ werden will, um seine Gelüste zu befriedigen. Dabei verkaufte sich Sex bereits früher schon bestens.

Merteuil. … Das Ideal wäre blind und taubstumm. Die Liebe der Steine. … Warum sollte ich Sie hassen, ich habe Sie nicht geliebt. (S. 457 der genannten Buchausgabe)

Merteuil [als Valmont]: Der Gedanke, der nicht Tat wird, vergiftet die Seele. (S. 465)

Stücke, Prosa, Tondokumente und mehr von Heiner Müller

Vergessene Stücke (10): Lars Norén – Dämonen

Erst kürzlich sah ich den US-amerikanischen Film „Der Rosenkrieg“ von (und mit) Danny DeVito und mit Michael Douglas und Kathleen Turner als Ehepaar Rose. Dieser ‚Rosenkrieg’ zeigt, wie aus Liebe mit den Jahren Hass und ein Kampf bis aufs Blut, ja, bis zum Tode werden kann. Der Streitpunkt ist hier materiell, das Haus, das keiner der beiden hergeben will.

Ehedramen üben eine gewisse Faszination aus. Ein weiteres Beispiel ist Wer hat Angst vor Virginia Woolf? von dem US-amerikanischen Dramatikers Edward Albee (1962 uraufgeführt), das uns aus einer Verfilmung mit Elizabeth Taylor und Richard Burton aus dem Jahre 1966 bekannt sein dürfte. Hier wird ein junges Paar Zeuge eines eskalierenden Ehestreits.

Das Stück Dämonen des schwedischen Dramatikers Lars Norén (*1944 in Stockholm) ist ähnlich gelagert. Auch hier wird ein anderes Paar in eheliche Auseinandersetzungen hineingezogen. Norén begann bereits als Jugendlicher zu schreiben. 1963 erschien sein erster Gedichtband, bis 1980 von weiteren gefolgt, außerdem drei Romanen, von denen „Die Bienenväter“ 1973 auch auf Deutsch erschien.

Dämonen (Original: Demoner) – Deutsch von Angelika Gundlach – wurde am 28.04.1984 in Stockholms Stadsteater (Regie: Carsten Brandt) uraufgeführt. Die deutschsprachige Uraufführung fand am 21.11.1984 am Schauspielhaus Bochum (Regie: Claus Peymann) statt (lese hierzu: Szenen zweier Ehen – von Hellmuth Karasek in spiegel.de)

Nun so ganz vergessen ist das Stück nicht, immerhin ist mir eine letzte Inszenierung bekannt, die es in der Regie von Thomas Ostermeier an der Berliner Schaubühne im Frühjahr 2010 gab.


»Dämonen« Trailer der Schaubühne Berlin

Das Stück selbst kenne ich aus einem Band mit verschiedenen Theaterstücken (suhrkamp taschenbuch 1190 – 1. Auflage 1985) Theater heute, dessen andere Stücke ich hier bereits teilweise vorgestellt habe.

„Der schwedische Dramatiker Lars Norén (Jahrgang 1944) beschäftigt sich seit den 80er-Jahren mit dem unaufhaltsamen Untergang des ehelichen Zusammenlebens – und setzt damit eine skandinavische Tradition fort, die mit Namen wie Strindberg, Ibsen und Bergmann verknüpft ist. ‚Dämonen’ ist ein klassisches Zimmerschlacht- Stück, in dem ein Ehepaar, das Lustgewinn daraus bezieht, sich gegenseitig fertig zu machen, den Besuch eines anderen Paares dazu benutzt, die Beleidigungen und Erniedrigungen auf die Spitze zu treiben.“ (Quelle: Berliner Morgenpost)

Personen:

Katarina, 36 Jahre
Frank, ihr Mann, 38 Jahre
Jenna, Nachbarin, 36 Jahre
Tomas, ihr Mann, 37 Jahre

Ort und Zeit: Eine Stadtwohnung, 1982

„Entweder ich bringe dich um, oder du mich, oder wir trennen uns, oder wir machen so weiter“, lautet Katarinas lakonisches Fazit ihrer langjährigen Beziehung mit Frank. Und da die beiden, die sich hassen bis aufs Messer und doch nicht voneinander lassen können, nicht schon wieder einen Abend einsam zu zweit in ihrer Nobel-Wohnung verbringen wollen, bitten sie das Nachbarsehepaar herüber. In stilvollem Ambiente vollzieht sich eine gnadenlose Seelenschlacht. „Norén ist ein Großmeister des Dialogs. Die Banalitäten seiner ausgeleierten Alltagswendungen sind so raffiniert verwoben …, dass sie die unausgesprochenen Aggressionen bis in die feinsten Abschattungen verlautbaren.“ (FAZ) „Ein gespenstisches Stück über die Liebe. Oder besser: Über deren Verlust.“ (Süddeutsche Zeitung)
(Quelle: rowohlt-theaterverlag.de)

Anders als z.B. in „Der Rosenkrieg“ erleben wir hier ein Paar, das in seine im Wesentlichen sexuell begründeten Obsessionen gefangen ist. Dazu ist es ein Teufelskreis gegenseitiger Hörigkeit, aus dem beide nicht entfliehen können:

FRANK Ja, ich liebe dich. […] Aber ich mag dich nicht. […] Überhaupt nicht. Ich kann dich nicht leiden. Aber ich kann ohne dich nicht leben.

[…]

KATARINA […] Du machst mich nur unglücklich. Ängstlich … Und so verwirrt. Und leer … Ich will nur weglaufen … Zurück … Zurück.

FRANK Wohin?

KATARINA Zu dir.

[…]

KATATRINA […] Solange ich dich schlecht behandle, kommst du nicht von mir los.

Das geladene Nachbarehepaar wird in diesen Ehekrieg hineingezogen. Schnell entlarvt es sich, zeigt, dass auch bei ihnen nicht alles stimmt, dass Unzufriedenheit herrscht – und ein Begehren dem anderen Paar gegenüber. Die Situation eskaliert, wie sollte es anders sein, der innere seelische Schmerz (FRANK […] Darum geht es doch – um den Schmerz. Sie empfinden einen solchen Schmerz …) stellt sich dar als äußerer körperlicher Schmerz – und endet in einer Kreuzigungsszene. 1982 mag das schockierend gewirkt haben, heute empfindet man es wohl eher als abstoßend, zumindest als ‚übertrieben’.

Lars Norén zeigt sich allerdings in den Dialogen als Könner. Besonders die Rolle des Frank ist dermaßen spitzfindig ausgelegt, dass man sich als Zuschauer (oder Leser) selbst oftmals an den Kopf fassen möchte. Wie er das Gespräch zu drehen versteht, hat schon eine gewisse Klasse.

Ehedramen – die Faszination gesteht weiterhin und wird von unserem Voyeurismus genährt. Auch Noréns Drama bietet dafür – auch heute noch – reichlich viel Futter.

Stücke und mehr von Lars Norén

Martin Cruz Smith: Nacht in Havanna

Sommerzeit ist für mich Krimizeit. Ich habe zwar noch keinen Urlaub (das dauert noch einige Wochen), aber in den ersten Tagen dieses Sommers habe ich mich auf einen Kriminalroman gestürzt, der viel Spannung verhieß – und dies dann durchaus auch einhalten konnte.

Zunächst sagte mir der Autor, Martin Cruz Smith, überhaupt nichts. Dann las ich aber auf dem Umschlagtext zum Buch, dass Cruz Smith auch den Kriminalroman „Gorki Park“ geschrieben hat, der als Vorlage zu dem gleichnamigen Film diente. Und den Film kenne ich natürlich – ein außergewöhnlicher Thriller aus dem Jahr 1983, u.a. mit William Hurt als russischen Polizisten Arkadi Renko, Lee Marvin als Pelzhändler Jack Osborne und Joanna Pacula als Irina Asanova, der späteren Geliebte Renkos.

„Nacht in Havanna“ (im Original: Havana Bay), 1999 erschienen, gehört wie „Gorki Park“ (1981 erschienen) zu der inzwischen mehrbändigen Arkadi-Renko Serie. Es dürften jetzt sieben Romane sein:

Die Reihe um den Polizisten Arkadi Renko beschreibt nicht nur jeweils in sich abgeschlossene Kriminalfälle der verschiedensten Art, sondern dokumentiert eindrucksvoll die Entwicklung von der Sowjetunion der 80er Jahre bis zum heutigen Russland.

Der Autor Martin Cruz Smith wurde 1943 in Philadelphia als Sohn einer Indianerin und eines Jazz-Musikers geboren und arbeitete zunächst als Journalist.

Arkadi Renko ist ein melancholischer Held, wenn auch ein „Ermittler mit dem untrüglichen Gespür“. In „Nacht in Havanna“ ist er „desillusionierter denn je. Denn nach dem sinnlosen Tod seiner Geliebten Irina hat er mit dem Leben abgeschlossen. Nur eine Aufgabe bleibt ihm noch: das Verschwinden seines alten Gegenspielers Sergej Pribluda aufzuklären. Der einst mächtige Geheimdienstchef arbeitet Ende der 90er Jahre in der sozialistischen Enklave Kuba. Im Reich Fidel Castros spioniert er für die russische Regierung geheime Geldströme und ostwestliche Aktivitäten aus. Doch dann ist Pribluda eines Tages verschwunden. Und als wenig später eine unbekannte Wasserleiche in der Bucht von Havanna angeschwemmt wird, muß Renko auf der Zuckerinsel ermitteln. Die kubanischen Behörden und die russische Diplomatie möchten die Angelegenheit am liebsten mit der Identifizierung von Pribluda zu den Akten legen. Doch Renkos Skepsis wächst, je länger er sich in dieser ihm unverständlichen Welt bewegt. Er zweifelt an den Todesumständen und an der Polizei. Und er fragt sich, warum man ihn mit aller Gewalt ausschalten möchte. Was also steckt hinter Pribludas Tod? Scheinbar planlos erkundet Renko die letzten Bastionen der Ewiggestrigen und die Winkelzüge der Profiteure für die Zeit nach Fidel Castro. Alte Revolutionäre und neue Opportunisten, die Mafia aus Ost und West belauern die Insel wie Piraten ein sinkendes Schiff. Wo ist der rote Faden in diesem tödlichen Spiel aus Intrigen und Verrat? Schließlich stößt Renko auf einen Geheimzirkel, der einen irrwitzigen Coup plant …“ Er „gerät unvermittelt in eine flirrend unwirkliche Welt, in der nichts so ist, wie es scheint.“
Aus dem Umschlagtext zum Roman (2. Auflage – 1999 – C. Bertelsmann Verlag, München)


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Malecón (Uferstraße in Havanna) – ostwärts zum Castillo de San Salvador de la Punta … Havana Vieja [Alt-Havanna] … Im Western lagen Viertel, die Vedano und Miramar hießen … (S. 31)

Der Roman spielt zwar Ende der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts. Aber die Situation in Kuba dürfte heute ähnlich sein, nur dass statt Fidel Castro jetzt sein Bruder Raúl die Amtsgeschäfte führt. Entgegen gewisser Bedenken von mir gelingt dem Buch durchaus ein Stimmungsbild des heutigen Kuba, auch wenn auf gewisse Klischees nicht ganz verzichtet wurde. Aber es ist nun einmal ein Kriminalroman, ja ein politischer Thriller, dem es um Spannung geht. Die Charaktere haben sicherlich nicht die Tiefe wie in einem wirklich guten Roman, trotzdem wirken sie durchaus akzeptabel.

Das Ende ist dann ziemlich verwirrend und ‚verliert’ sich in der Aufdeckung eines „irrwitzigen Coups“, in dem auch der Máximo Líder bzw. Comandante (Fidel Castro) verstrickt ist. Das ist dann vielleicht doch etwas sehr dick aufgetragen. Spannend ist das aber allemal. Daher möchte ich diesen Kriminalroman durchaus zu den interessanten und damit lesbaren zählen. Und irgendwie regte er meinen Appetit auf Urlaub an (Sonne, Strand und Musik à la Buena Vista Social Club – und ‚’ne Buddel voll Rum’).

Javier Marías: Mein Herz so weiß

„Ich wollte es nicht wissen, aber ich habe erfahren, dass eines der Mädchen, als es kein Mädchen mehr war, kurz nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise das Badezimmer betrat, sich vor den Spiegel stellte, die Bluse aufknöpfte, den Büstenhalter auszog und mit der Mündung der Pistole ihres eigenen Vaters, der sich mit einem Teil der Familie und drei Gästen im Esszimmer befand, ihr Herz suchte. Als der Knall ertönte, etwa fünf Minuten, nachdem das Mädchen den Tisch verlassen hatte, stand der Vater nicht sofort auf, sondern verharrte ein paar Sekunden lang wie gelähmt mit vollem Mund und wagte nicht zu kauen noch zu schlucken und noch weniger, den Bissen auf den Teller zurückzuspucken; und als er sich endlich erhob und zum Badezimmer lief, sahen jene, die ihm folgten, wie er, als er den blutüberströmten Körper seiner Tochter entdeckte und die Hände an den Kopf hob, den Bissen Fleisch im Mund hin und her bewegte, ohne zu wissen, was er mit ihm anfangen sollte.“

(S. 9 – Klett-Cotta Deutscher Taschenbuch Verlag 12507 – Juni 1998)

„Eine junge Frau erhebt sich vom Tisch, geht ins Bad, knöpft ihre Bluse auf und erschießt sich. Diese dunkle Szene, von der der Ich-Erzähler nur gehört hat, läßt ihm keine Ruhe. Die junge Frau war seine Tante, die Schwester seiner Mutter, die Frau, die sein Vater vor seiner Mutter geheiratet hatte. Vierzig Jahre später ist der Erzähler selbst verheiratet. Dunkle Vorahnungen und nebensächliche Ereignisse beunruhigen ihn. Der Ich-Erzähler ist Dolmetscher und leidet an eine déformation professionelle, die ihn dazu zwingt, jedes Detail zu registrieren und zu interpretieren: die kleinen, scheinbar unbedeutenden Dinge im Leben zu zweit und auch jene Details, die ihm nach und nach mehr über die Ereignisse vor seiner Geburt verraten, als ihm lieb ist …“ (Aus dem Klappentext)

Javier Marías Franco (* 20. September 1951 in Madrid) ist ein spanischer Schriftsteller, Kolumnist und Übersetzer. Sein Roman Mein Herz so weiß (Original: Corazón tan blanco, Barcelona 1992) erschien in Deutschland 1996 in der J. G. Cotta_sche Buchhandlung, Stuttgart, in einer Übersetzung von Elke Wehr.

Javier Marías gilt als einer der bedeutendesten Schriftsteller des heutigen Spaniens. Sein Werk wurde in dreiundzwanzig Sprachen übersetzt (Stand: 1998). Der Titel des Romans ist ein Zitat aus Shakespeares Macbeth (2. Akt, 2. Szene):

„My hands are of your colour; but I shame
To wear a heart so white.”
(Shakespeare)

Oder:

“Meine Hände
Sind blutig, wie die deinen; doch ich schäme
Mich, daß mein Herz so weiß ist.“

In meinem Beitrag „I have done the deed” habe ich mich bereits mit diesem Roman einwenig beschäftigt. Es geht darin u.a. um eine Tat, ein Verbrechen, das „nicht existiert, [… wenn es] nicht ausgesprochen wird.“ (S. 53) „Vielleicht kommt ein Augenblick, in dem die Dinge erzählt werden können, sie selbst, vielleicht um zur Ruhe zu kommen oder um endlich zu einer Fiktion zu werden.“ (S. 283) Hinter dem Selbstmord der jungen Frau vor 40 Jahren, der Tante des Ich-Erzählers, verbirgt sich ein Drama Shakespeare’schen Ausmaßes. „Es ist die Glut Macbethscher Einflüsterungen, sprachlicher Verderbtheit, die reales Verderben bewirkt.“ (Hellmuth Karasek im „Spiegel“). Lady Macbeth stiftete ihren Mann zum Mord an König Duncan an und begeht vom Gewissen geplagt Selbstmord. Der Selbstmord im Roman ist ähnlich gelagert. Auch die Tante hatte einen Satz gesprochen: „Es war ein Satz des Verzichts, nicht der Anstiftung, es war der Satz von jemandem, der sich zurückzieht und für besiegt erklärt.“ (S. 321) Aber genau dieser Satz führte zum Verbrechen. Und als der Tante bewusst wurde, was sie damals so beiläufig gesagt hatte, wurde sie sich ihrer Schuld bewusst: “Meine Hände sind blutig, wie die deinen; doch ich schäme mich, daß mein Herz so weiß ist.“ Und: „Übersetzbare, herrenlose Worte, […] die zu […] Handlungen anstiften, […] Aber wer sie sagt, erträgt sich nicht, wenn er sie vollzogen sieht.“ (S. 321)


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Calle de Alcalá, 15, Madrid (im Roman: Calle Alcalá 15, hier in einem alten Casino fand die Hochzeitsfeier von Juan, dem Ich-Erzähler, und Luisa statt, siehe S. 100 – der Name der Straße nach einer alten Universität in Madrid: Alcalá)

Der Roman ist ein Buch, von dem man hin- und hergerissen wird. Einige Passagen im ersten Teil sind sicherlich etwas ermüdend und schleppend (Marías sinnt schwermütig-pessimistisch über die Ehe nach). Erst am Schluss des Romans ergeben sie Sinn. Aber dann kommen Passagen, die den Leser in ihren Bann ziehen, es gibt kaum ein Entkommen. Selbst scheinbar unbedeutenden Dinge im Leben des Ich-Erzählers verursachen durch die Erzählweise eine Spannung, die sich erst zuletzt ähnlich wie beim Protagonisten, dem ein Unbehagen plagt, lösen. Marías erzeugt diese Spannung, dieses Unbehagen auch beim Leser, durch kleine Sätze, deren Bedeutung erst spät geklärt wird: „… sie denken nicht daran, daß sich bisweilen alles ändert, nachdem man weiß, sogar das Fleisch oder die Haut, die sich auftun, oder etwas wird aufgeschlitzt.“ (S. 169)

Unser Literaturpapst reagierte übrigens beim Erscheinen des Buchs enthusiastisch: „Begeistert bin ich von diesem Marías, ich glaube, das ist einer der größten im Augenblick lebenden Schriftsteller der Welt … Ich habe seit vielen Jahren kein Buch gelesen, das mich so tief getroffen hat.“ (Marcel Reich-Ranicki im „Literarischen Quartett“) Ich kann es ihm nicht ganz verdenken. Was mich allerdings wundert ist, dass der Roman Mein Herz so weiß seit längerer Zeit nicht mehr neu in Deutschland aufgelegt wurde. Überhaupt erscheint mir die Literatur von Javier Marías in Deutschland etwas stiefmütterlich behandelt zu sein. Sollte es doch etwas zu ‚schwer’ sein fürs deutsche Gemüt?

Zuletzt hier noch eine sicherlich hilfreiche Rezension mit weiteren Textpassagen zu Mein Herz so weiß

Max Frisch: Der Mensch erscheint im Holozän – Eine Erzählung

Der Mensch erscheint im Holozän (mit der Widmung: Für Marianne) ist eine kleine Erzählung von Max Frisch, die ich als 1. Auflage, also Erstausgabe, besitze. Mit Erstausgabe ist das so etwas. Besitzt man eine solche, dann hat man mit Sicherheit einen besonderen Schatz in Händen, denn gerade Erstausgaben haben einen höheren materiellen Wert als die folgenden Auflagen. Mir ist natürlich der ideelle Buch eines Buches wichtiger, also der Inhalt. So bin ich natürlich schon einige Zeit am überlegen, ob ich mir z.B. einen Kindle eBook Reader, dem großen Verkaufsschlager von amzon.de, zulegen werde. Aber noch mag ich Bücher in ihrer Handlichkeit, mag das Blättern in Papier.

Zurück zu Frischs kleiner Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän aus dem Jahre 1979. Es ist ein Spät-, gar Alterswerk des Schweizer Schriftstellers. Zur Zeit der Veröffentlichung war Frisch 68 Jahre alt war. Allerdings schrieb er an dieser Erzählung bereits seit 1972 (da war er 61 Jahre alt, also gerade 4 Jahre älter als ich es heute bin). Es ist aber vor allem ein Alterswerk vom Inhaltlichen her. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung fand das Buch im deutschsprachigen keine allzu große Resonanz bei Publikum und Kritik. Die Erzählung wurde als Nebenwerk des Autors abgetan. In den USA allerdings wurde es als kleines Meisterwerk gefeiert. Dem stimme ich gern zu. Alterswerke gibt es natürlich genug, wenn Schriftsteller alt geworden sind und noch geschrieben haben. Oft verfassen Autoren im hohen Alter ihre Autobiografie. Hermann Hesses „Glasperlenspiel“ ragt dabei etwas heraus, da es nicht nur ein sehr umfangreiches Werk ist, sondern sogar eine Art Utopie. Gerade in den letzten Jahren überraschen uns auch Autoren von Weltruf (Mario Vargas Llosa, Gabriel García Márquez, Martin Walser) mit eher Pikantem, Erotischem (siehe meinen Beitrag: Alterssex in der Literatur).

Max Frisch: Der Mensch erscheint im Holozän - 1. Auflage

„Mit der phantastischen Wachheit des Einsamen registriert Herr Geiser die kleinen Anzeichen einer denkbaren Katastrophe. Das Tal ist durch Unwetter von der Umwelt abgeschnitten. Gefaßt darauf, daß eines Tages oder in der Nacht, wenn man schläft, der ganze Berg ins Rutschen kommt und das Dorf verschüttet für alle Zeit, liest Herr Geiser im Lexikon, in der Bibel, in Geschichtsbüchern und schreibt ab, was nicht vergessen werden soll. ‚Schlimm wäre der Verlust des Gedächtnisses.’ Dann schneidet er aus, was ihn wissenswert dünkt, und heftet Zettel um Zettel an die Wand. ‚Der Mensch gilt als das einzige Lebewesen mit einem gewissen Geschichtsbewusstsein. / Ob es Gott gibt, wenn es einmal kein menschliches Hirn mehr gibt, das sich eine Schöpfung ohne Schöpfer nicht denken kann, fragt sich Herr Geiser. / Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt; die Natur kennt keine Katastrophen.’ Max Frisch erzählt die letzten Alltage eines Mannes, der begreift, daß er sich abhanden kommt und eingehen wird ins Unbewusstsein der Natur, in Erdgeschichte mit ihren Jahrmillionen. Eine Erzählung ohne Klage, wortkarg-exakt, Satz um Satz bestimmt vom Bewusstsein der Unentrinnbarkeit, auch wenn es schließlich heißt: ‚Das Dorf steht unversehrt. Im August und im September, nachts sind Sternschnuppen zu sehen oder man hört ein Käuzchen.’“
(aus dem Umschlagtext – Suhrkamp Verlag – Erste Auflage 1979 – ISBN 3-518-02850-2)

Max Frisch lebte von 1965 bis 1984 in einem aufwändig renovierten Haus in dem kleinen Ort Berzona im Tessin. In dem gleichen Tal Valle Onsernone spielt auch die Erzählung, die Frisch ausdrücklich als nicht autobiografisch bezeichnete. Allerdings sind die Parallelen zwischen dem Herrn Geiser, dem Helden der Erzählung, und Max Frisch nicht völlig zu leugnen. Auch Max Frisch fürchtete um sein Gedächtnis. Und die im Buch beschriebene Wanderung des Herrn Geiser aus dem Tal über den Passo della Garina ins nächste Tal, dem Valle Maggia, kannte Frisch sehr gut.


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(A) Berzona/Valle Onsernone im Tessin/Schweiz – Wohnort von Max Frisch von 1965-1984
Weg nach (B) Aurigeno/Valle Maggia (eigentlich über den Passo della Garina)
(C) Bellinzona (Bahnstation zwischen Basel und Locarno)

Seit Tagen regnet es in dem Tal. Herr Geiser wird 74 Jahre alt und lebt seit 14 Jahren im Tal. Er leidet unter einer zunehmenden Merkschwäche. Um die Zeit sinnvoll zu nutzen, sammelt er Informationen unterschiedlichster Art, schreibt diese auf kleine Zettel. Dann schneidet er aus, was ihn wissenswert erscheint, und heftet Zettel um Zettel an die Wand. Aber das hilft wenig. Allerdings ist sein Gedächtnis noch außergewöhnlich, wenn es um Ereignisse früherer Jahre geht. So erinnert er sich fast minutiös an seine Matterhornbesteigung vor 50 Jahren mit seinem Bruder Klaus.

Auszug aus: Max Frisch - Man in the Holocene
Auszug aus der englischsprachigen Ausgabe (Man in the Holocene)

Auszug aus 1. Auflage 1979: Max Frisch - Der Mensch erscheint im Holozän
Auszug aus 1. Auflage 1979

An einem frühen Morgen macht sich Herr Geiser auf dem Weg über einen Pass ins nächste Tal. Es ist wie eine Flucht. Was er dort allerdings will, ist ihm selbst nicht klar. Unverrichteter Dinge kehrt er um, bevor der den Ort Aurigeno erreicht hat. Wieder zu Hause erleidet er einen Schlaganfall.


Max Frisch über „Der Mensch erscheint im Holozän“

Siehe auch meine weiteren Beiträge zu Max Frsich:
Vergessene Stücke (9): Max Frisch – Biografie: Ein Spiel
Max Frisch: Homo faber – Ein Bericht
Max Frisch und the American Way of Life!
Max Frisch: Mein Name sei Gantenbein
Max Frisch: Stiller

Literatur von Max Frisch

Vergessene Stücke (9): Max Frisch – Biografie: Ein Spiel

Das Leben ist ein Weg mit vielen Kreuzungen, an denen wir uns entscheiden müssen, welche Richtung wir einschlagen. Was wäre, wenn wir die eine oder andere Entscheidung rückgängig machen könnten, um einen anderen Weg einzuschlagen? Das Leben nähme dann einen anderen Verlauf …

Das ist das Thema des Theaterstücks Biografie: Ein Spiel von Max Frisch, das ursprünglich 1966/67 geschrieben und am 1. Februar 1968 im Schauspielhaus Zürich uraufgeführt wurde. Um den Bedürfnissen des Tourneetheaters entgegenzukommen, überarbeitete Max Frisch im Sommer 1984 das „Spiel“ Biografie und reduzierte die Zahl der Schauspieler auf fünf. Zum ersten Mal wurde diese neue Fassung von der Truppe „Das Ensemble“ am 15.09.1984 im Theater im Pfalzbau in Ludwigshafen aufgeführt, Regie: Christian Quadflieg; Zsoka Dunar spielte die Antoinette, Klaus Barner den Kürmann, Klaus Höhne den Spielleiter.

Frisch stellte dem Stück ein Motto voran, ein Zitat des Werschinin aus Anton Tschechows Drei Schwestern: „Ich denke häufig: wie, wenn man das Leben noch einmal beginnen könnte, und zwar bei voller Erkenntnis? Wie, wenn das eine Leben, das man schon durchlebt hat, sozusagen ein erster Entwurf war, zu dem das zweite die Reinschrift bilden wird! Ein jeder von uns würde dann, so meine ich, bemüht sein, vor allem sich nicht selber zu wiederholen […].“

Personen:
Hannes Kürmann
Antoinette Stein
Spielleiter (früher: Registrator)
Assistentin
Assistent

Der todkranke Verhaltensforscher Hannes Kürmann erhält die Möglichkeit, sein Leben noch einmal neu zu beginnen. Ein Registrator (in der Neufassung: Spielleiter) führt ihn durch vergangene Schlüsselerlebnisse und lässt ihm die Wahl, sich mit dem Wissen um die Zukunft zu den Ereignissen und Menschen anders zu verhalten und dadurch seine Biografie zu verändern. Im Vordergrund steht Kürmanns Wunsch nach einer „Biografie ohne Antoinette“ (S. 426 – Max Frisch: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge – 1976-1985 – Band VII – Suhrkamp Verlag – 1. Auflage 1986), die Frau Kürmanns, deren gemeinsame Ehe nach sieben Jahren zerrüttet ist. So wiederholt Kürmann als erstes jenen Abend, an dem er zum Professor ernannt wurde und bei einer Feier Antoinette Stein kennenlernte. Doch wie er die Begegnung auch zu gestalten versucht, stets mündet sie in einer gemeinsamen Nacht des künftigen Paares:

Spielleiter: … Sie verhalten sich nicht zur Gegenwart, sondern zu einer Erinnerung. Das ist es. Sie meinen die Zukunft schon zu kennen durch Ihre Erinnerung. Drum wird es jedesmal dieselbe Geschichte. (S. 420)

Im Wesentlichen geht es in dem Stück um die Beziehung zwischen Mann und Frau:

Spielleiter: Sie halten sich für einen Frauenkenner, weil Sie jeder Frau gegenüber jedesmal denselben Fehler machen. (S. 421)

Zwar kommt es immer wieder zu kleineren Abweichungen im Verhaltensmuster, aber:

Spielleiter: … Sie hatten die Wahl, Ihre Biografie zu ändern, das wünscht man sich manchmal, und was dabei herauskommt: Variationen des Banalen. (S 485)

Als sich am Schluss der Registrator/Spielleiter an Antoinette wendet und ihr das Angebot macht, ihre Biografie zu verändern, verlässt Antoinette Kürmann ohne zu zögern. Daraufhin verkündet ihm der Registrator/Spielleiter, er sei nun frei und habe noch sieben Jahre zu leben.

Max Frisch zu seinem neuen Stück «Biografie» 1967
(Beitrag des SR DRS – Schweizer Radio der deutschen und rätoromanischen Schweiz)

Stücke von Max Frisch

Max Frisch: Homo faber – Ein Bericht

Am 15. Mai jährte sich der 100. Geburtstag von Max Frisch, am 4. April sein 20. Todestag.
Max Frisch (* 15. Mai 1911 in Zürich; † 4. April 1991 ebenda) war ein Schweizer Schriftsteller und Architekt. Mit Theaterstücken wie „Biedermann und die Brandstifter“ oder „Andorra“ sowie mit seinen drei großen Romanen Stiller, Homo faber und Mein Name sei Gantenbein erreichte Frisch ein breites Publikum und fand Eingang in den Schulkanon. Darüber hinaus veröffentlichte er Hörspiele, Erzählungen und Prosawerke sowie zwei, die Zeiträume von 1946 bis 1949 und 1966 bis 1971 umfassende, literarische Tagebücher.

Anlässlich dieser Jahrestage strahlte am Sonntag, den 22.05., der TV-Sender Arte neben einer Dokumentation über Max Frisch auch den von Volker Schlöndorff 1991 verfilmten Roman Homo faber aus. Der Film ist auch bei YouTube Homo Faber (Voyager) German Part 1-11 zu sehen. Weiterea Filmmaterial findet sich auf dem Account maxfrischarchiv bei YouTube.


Homo Faber (1991) Movie Teaser

Der Titel des Romans setzt die Hauptfigur namens Walter Faber in Bezug zum anthropologischen Begriff des homo faber, des schaffenden Menschen. Walter Faber ist ein Ingenieur mit streng rationaler, technisch orientierter Weltanschauung: „Ich glaube nicht an Fügung und Schicksal, als Techniker bin ich gewohnt mit den Formeln der Wahrscheinlichkeit zu rechnen.“ (S. 22 – Max Frisch: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge – 1957-1963 – Band IV.1 – Suhrkamp Verlag – 1. Auflage 1976) und „Ich halte es mit der Vernunft …“ (S. 80) und „Wir leben technisch, der Mensch als Beherrscher der Natur, der Mensch als Ingenieur, und wer dagegen redet, der soll auch keine Brücke benutzen, die nicht die Natur gebaut hat.“ (S. 106/107)

In diese so scheinbar geordnete Leben brechen von heute auf morgen der Zufall und die verdrängte Vergangenheit ein. Durch eine Verkettung unwahrscheinlicher Ereignisse trifft er nacheinander auf seinen verstorbenen Jugendfreund, seine unvergessene Jugendliebe und seine Tochter, von deren Existenz er nichts ahnt. Unwissentlich geht Faber mit der jungen Frau eine inzestuöse Liebesbeziehung ein, die ein tragisches Ende nimmt. Erst am Ende erkennt er seine Verfehlungen und Versäumnisse; todkrank will er sein Leben wandeln.

Neben autobiografischen Elementen verarbeitete Max Frisch in „Homo faber“ zentrale Kernthemen seines Werks: den Konflikt zwischen persönlicher Identität und sozialer Rolle, die Bestimmung des Daseins durch Zufall oder Schicksal, den Gegensatz von Technik zu Natur und Mythos („Manie des Technikers, die Schöpfung nutzbar zu machen, weil er sie als Partner nicht aushält, nichts mit ihr anfangen kann; …“ (S. 169)), die misslungene Beziehung zwischen den Geschlechtern („… der Mann [sagt Hanna] will die Frau als Geheimnis, um von seinem eignen Unverständnis begeistert und erregt zu sein. …“ (S. 140)) und das verfehlte Leben („Ich halte nichts von Selbstmord, das ändert ja nichts daran, daß man auf der Welt gewesen ist, und was ich in dieser Stunde wünschte: Nie gewesen sein!“ (S. 136))

Der Roman spielt im Jahre 1957 in den USA, Mittelamerika (Mexiko und Guatemala) sowie in Europa (das Ende in Griechenland), ist also bereits über 50 Jahre alt. Aber er hat nichts von seinem besonderen Reiz verloren und konnte genauso gut auch heute spielen (sieht von den technischen Gegebenheiten, z.B. Propeller- statt Düsenflugzeuge, einmal ab). Ich habe den Roman in den gesammelten Werken von Max Frisch vorliegen. Eine nachträgliche Recherche der Chronologie hat ergeben, dass das zunächst verwendete Datengerüst nicht ganz korrekt ist. Dieses wurde nachträglich mit den Publikationen des Romans seit der Taschenbuchausgabe 1977 geändert. Mit dem Titelhelden Walter Faber begeben wir uns so auf eine umfangreiche Reise (in Klammern stehen die ursprünglichen Daten):

26.03.1957 (02.04.1957) La Guardia, New York mit einer Super-Constellation (DC-4)
Houston, Texas (Zwischenlandung)

Wüste von Tamaulipas/Mexiko – Notlandung

Mexico-City (Ciudad de México)

Flug Campeche
Zug Campeche – Palenque (- Coatzacoalcos)

Weiter mit dem Landrover ab Palenque
Strecke zwischen Palenque und der Plantage – 70 Meilen Luftlinie / 100 Meilen zu fahren
18. Breitengrad
Rio Usumacinta, Grenze zwischen Mexico und Guatemala


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Campeche, Mexiko – Palenque, Chiapas, Mexiko – Frontera Echeverría, Chiapas, Mexiko (Grenze zu Guatemala)

20.04. Abflug Caracas
21.04. Ankunft New York, Idlewild

22. – 30.04. Schiffsreise N.Y. – Europa
29.04. Fabers 50. Geburtstag an Bord
30.4. in Southampton
1.5. Ankunft in Le Havre – Sonderzug nach Paris

Autoreise von Paris nach Griechenland über Italien

13.05. Avignon (Nacht der Mondfinsternis) – weiter Arles – Marseille – Toulon – Le Trayaz

Italien (Pisa – Florenz – Siena – Perugia – Arezzo – Orvieto – Assisi – Rom)
Laterano -> Via Appia
Auto in Bari gelassen

Patras – Korinth – Theodohori -> Agioi Theodoroi (Schlangenbiss und Unfall) – Megara – Daphni – Athen

27.05. (03.06). Widersehen mit Hanna in Athen
so muss sein 28.05. (04.06.) Tod Sabeths

01.06. (08.06.) New York
02.06. (09.06). Flug Richtung Caracas – Besuch bei Herbert (Plantage in Guatemala)

20.06. Ankunft in Caracas

21.06 – 08.07. Faber schreibt „Erste Station“ nieder in Caracas (erkrankt)

09.-13.07. Cuba, dann Lissabon
15.07. Düsseldorf
16.07. Zürich

19.07. Krankenhaus, Athen
20.07. Fabers OP Athen (ENDE des Romans)

Literatur von Max Frisch


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Berzona/Tessin/Schweiz – Wohnort von Max Frisch von 1964-1991

Max Frisch zum 100. Geburtstag: Kein stiller Eidgenosse
Ein Liebender, der mit dem Leben haderte – Max Frisch zum 100. Geburtstag
Das Max-Frisch-Fieber steigt
Das Prinzip Frisch
weiteres Material: Max Frisch-Archiv an der ETH-Bibliothek

Max Frisch und the American Way of Life!

Max Frisch und Martin Walser – ich will hier nicht Parallelen ziehen. Aber beide sind bzw. waren Weltbürger, die sich schon früh längere Zeit in den USA aufgehalten und dies literarisch verarbeitet haben, u.a. Max Frisch in seiner Erzählung Montauk, Martin Walser in Brandung. Übrigens handeln beide Werke zudem von Alter und der Liebe zu jüngeren Frauen.

Martin Walser, so hoffe ich, wird uns noch lang erhalten bleiben. Im Juli wird sein neuestes Werk, Muttersohn, erscheinen. Max Frisch starb am 4. April vor 20 Jahren. Und am 15. Mai jährte sich sein Geburtstag zum einhundertsten Mal. Anlass für Feiern und Würdigungen seines Werkes, das bis heute nachwirkt. Besonders die Schweiz ist im Max-Frisch-Fieber, obwohl er alles andere als ein stiller Eidgenosse war. Zusammen mit Friedrich Dürrenmatt hatten die Schweizer gleich zwei Literaten von Weltruf in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhundert, die mit Kritik an ihrem Land nicht zurückhaltend waren.

In diesen Tagen lese ich nun Homo faber von Max Frisch, ein Roman, der sich nach seiner Veröffentlichung im Oktober 1957 zum Bestseller entwickelte und wohl als eines der bekanntesten Prosawerke Max Frischs gilt. Der Roman wurde vielfach übersetzt und sowohl in literaturwissenschaftlichen Untersuchungen als auch im Schulunterricht häufig behandelt. Vielleicht ist er daher manchem ehemaligen Schüler doch eher verhasst. Die Verfilmung des Romans von Volker Schlöndorff kam übrigens 1991 nur wenige Tage nach dem Tod Max Frischs in die Kinos und wird am kommenden Sonntag, den 22.05., um 20 Uhr 15 auf Arte im Fernsehen gezeigt.


Homo Faber (1991) Movie Teaser

Walter Faber, der Protagonist des Romans, ist wie Max Frisch ein Weltbürger. Als Ingenieur kommt er viel herum und lässt sich sogar für einige Zeit in New York nieder. Sein Verhältnis zu den US-Amerikanern ist aber gespalten. Es geht ihm wie es vielen Europäern geht. In diesem Blog ist der American Way of Life schon mehrmals diskutiert worden. In dem Beitrag Profaner Jesus und profaner Teufel schrieb ich (weiter unten) u.a.:

Und so ist nach meiner Sicht vieles in Amerika religiös verbrämt (bemäntelt, ‚verziert’, ausgeschmückt). Ist Gott mit dir, dann wird sich das auch in deiner steilen beruflichen bzw. geschäftlichen Karriere zeigen. Daraus lässt sich eine Selbstherrlichkeit vieler Amerikaner ableiten, die sicherlich nicht nur mich abstößt.

Und die USA als Weltpolizei haben wir erst jetzt wieder mit der Liquidierung von Osama bin Laden erlebt. In vielen Bereichen sprechen wir von Amerikanisierung, wenn wir erleben, wie vieles gewissermaßen ‚einem niedrigen Niveau’ angepasst wird, sei es bei Film und Fernsehen oder beim Essen. Vieles lässt sich mit dem Wort ‚Fast’ (schnell) verbinden, nicht nur ‚Fast Food’.

Natürlich enthält das Bild des US-Amerikaners, das wir uns machen, viele Klischees. Sowenig wie wir Deutschen in Lederhosen herumlaufen, sowenig laufen die Amerikaner typisch im Cowboy-Outfit herum. Die Frage stellt sich, woher die Klischees (die sicherlich immer auch etwas Wahrheit enthalten) kommen? Max Frisch lässt in dem Roman „Homo faber“ seinen Titelhelden sich dazu entließen, „anders zu leben -“. Es meint es als Abkehr vom US-amerikanischen Lebensstil, dem zitierten American Way of Life. Was Frisch dann dazu schreibt, man bedenke es, ist vor über 50 Jahren geschrieben und ist natürlich ironisch überzogen, trotzdem – wie ich finde – sehr interessant. Sicherlich ist mein Bild vom Amerikaner auch von Max Frisch (und von Martin Walser) geprägt. Frisch schreibt zum American Way of Life:

„Schon was sie essen und trinken, diese Bleichlinge, die nicht wissen, was Wein ist, diese Vitamin-Fresser, die kalten Tee trinken und Watte kauen und nicht wissen, was Brot ist, dieses Coca-Cola-Volk, das ich nicht mehr ausstehen kann.“ (S. 175 – Max Frisch: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge – 1957-1963 – Band IV.1 – Suhrkamp Verlag – 1. Auflage 1976)

„Schon ihre Häßlichkeit, verglichen mit Menschen wie hier: ihre rosige Bratwurst-Haut, gräßlich, sie leben, weil es Penicillin gibt, das ist alles, ihr Getue dabei, als wären sie glücklich, weil Amerikaner, weil ohne Hemmungen , dabei sind sie nur schlaksig und laut – … – wie sie herumstehen, ihre linke Hand in der Hosentasche, ihre Schulter an die Wand gelehnt, ihr Glas in der andern Hand, ungezwungen, die Schutzherren der Menschheit, ihr Schulterklopfen, ihr Optimismus, bis sie besoffen sind, dann Heulkrampf, Ausverkauf der weißen Rasse, ihr Vakuum zwischen den Lenden. …“

„Was Amerika zu bieten hat: Komfort, die beste Installation der Welt, ready for use, die Welt als amerikanisiertes Vakuum, wo sie hinkommen, alles wird Highway, die Welt als Plakat-Wand zu beiden Seiten, ihre Städte, die keine sind, Illumination, am andern Morgen sieht man die leeren Gerüste, Klimbim, infantil, Reklame für Optimismus als Neon-Tapete vor der Nacht und vor dem Tod – …“

„Noch im Badkleid sieht man ihnen an, daß sie Dollar haben; ihre Stimmen …, nicht auszuhalten, ihre Gummi-Stimmen überall, Wohlstand-Plebs. …“

„… ihre falsche Gesundheit, ihre falsche Jugendlichkeit, ihre Weiber, die nicht zugeben können, daß sie älter werden, ihre Kosmetik noch an der Leiche, überhaupt ihr pornografisches Verhältnis zum Tod, ihr Präsident, der auf jeder Titelseite lachen muß wie ein rosiges Baby, sonst wählen sie ihn nicht wieder, ihre obszöne Jugendlichkeit -“ (S. 176/177)

Zum Roman „Homo faber“ in den nächsten Tagen in diesem Blog noch etwas mehr. Ansonsten siehe hier: Literatur von Max Frisch

Vergessene Stücke (8): Franz Xaver Kroetz – Nicht Fisch Nicht Fleisch

Franz Xaver Kroetz (* 25. Februar 1946 in München) ist ein deutscher Regisseur, Schriftsteller, Theaterautor und Schauspieler. Den meisten dürfte er dabei nur als Schauspieler durch seine Rolle als Klatschreporter Baby Schimmerlos in der Fernsehserie Kir Royal bekannt geworden sein. Das Theaterpublikum dürfte sich an das Stück „Nicht Fisch nicht Fleisch“, Stück in 3 Akten unter der Regie von Volker Hesse – Uraufführung im Düsseldorfer Schauspielhaus am 31. Mai 1981, erinnern.

Mir liegt dieses Stück als Münchner Fassung (Mitarbeit A. Weinert-Purucker) in einem Band mit verschiedenen Theaterstücken (suhrkamp taschenbuch 1190 – 1. Auflage 1985) Theater heute vor.

„Protagonisten sind zwei Ehepaare, >kleine Leute<, deren bedrückende Lage in einer von Ausbeutung und Brutalität geprägten Arbeitswelt vor Augen geführt wird. Ausbruchsversuche scheitern. In den Dialogen enthüllt sich der Widerspruch zwischen eingebildeter und tatsächlicher Situation. Die Wahrnehmung dieses Widerspruchs löst Existenzangst aus.“ (Quelle. www.wissen.de)

Personen:

Helga, fesche, rundliche Dreißigerin
Emmi, Gleiches Alter, weniger rund, etwas größer, dunkler
Hermann Zwiebel, Helgas Mann, schlank und unruhig
Edgar Schuster, kleiner, mit Bäuchlein, recht gepflegt, Emmis Mann
Die beiden Kinder von Helga und Hermann, die aber nicht auftreten müssen

Zeit und Ort: Das Stück spielt 1980 in München.

Bühnenbild: Zwei räumlich gleiche Wohnungen übereinander, natürlich unterschiedlich eingerichtet.

„Das Stück ‚Nicht Fisch, nicht Fleisch’ von Franz Xaver Kroetz hat bis heute nichts an seiner Aktualität verloren: Erfolg und Karriere im Job werden immer wichtiger. Das Privatleben verschmilzt entweder mit der Arbeit oder bleibt zurück.

‚Deine scheiß Firma regiert mir ins Bett hinein’: Mit deftigen Ausdrücken wirft Franz Xaver Kroetz zwei Ehepaare zwischen die Fronten von Privatleben und Arbeitswelt und lässt sie zu Grunde gehen. Das Grundthema des Stückes wird gleich in der ersten Szene zum Ausdruck gebracht: ‚Erst die Arbeit macht den Menschen, ob Mann oder Frau’. In teils heftigen Dialogen zwischen den befreundeten Ehepaaren Zwiebel und Schuster sieht der Zuschauer, wie die Arbeit sie verändert. Der Hausfrieden und die Integrität der Charaktere wird Stück für Stück abmontiert. Schließlich greift die Karriere sogar ins Sexualleben ein. Was übrig bleibt, ist der Wunsch nach Freiheit in den entfremdeten Köpfen. In der Realität existiert diese Freiheit aber nicht. Das Ende ist frustrierend und ohne Erfüllung.“ (Quelle: www.rosenheimer-nachrichten.de)

Da das Stück in München spielt, benutzt Kroetz auch die Mundart der Münchener Menschen. Aber keine Angst, auch wir Nordlichter verstehen den Text ohne Probleme. Kroetz schreibt dazu: „Dialekte sind Ausdruck von Arbeit, Landschaft und Gesellschaft. Dialekte sind Verhaltensweisen in der Sprache. Das muß erdacht und ausgearbeitet werden, unreflektierte Dialektaneignung führt schnurstracks in den Naturalismus, den Dialekt ästhetisieren in den Dilettantismus.“

Thema des Stücks ist das Wegrationalisieren von Arbeitsplätzen und welche Auswirkungen das auf das Leben der Betroffenen hat. Es endet symbolträchtig mit zwei jammernden, jämmerlichen Männern, die reumütig in die warme Wohnküche zu ihren Frauen kriechen. Stöhnend und furzend der eine: Kollegen haben ihm, seiner Agitation überdrüssig, das Gedärm mit einer Fahrradpumpe aufgeblasen. Klappernd und frierend der andere: wie ein begossener Pudel ist er zurück nach Hause gekommen, nachdem er sich, auf verzweifelter Flucht in einer Wahn-Welt, in die Abwässer der Isar gestürzt hatte. Erniedrigung, Flucht und Leiden werden von den Ehefrauen der beiden mit heißem Tee und heißer Suppe behandelt und gelindert.

Kroetz beweist mit dieser Geschichte aus der Ehe- und Arbeitswelt, dass er die sozialen Bedingungen sehr genau kennt und das Ohr für die Sprache seiner Figuren hat, die er weder hochnäsig denunziert noch mit falschem Mitleid überhäuft.

„Nicht Fisch nicht Fleisch“ ist ein Vierpersonenstück und zeigt uns den Alltag zweier Maschinensetzer. Der eine, Edgar, ist mit einer berufstätigen, ehrgeizigen Frau, Emmi, verheiratet, die (noch) keine Kinder will, weil sie sich in ihrem Supermarkt zur Filialleiterin hochzuarbeiten hofft. Der andere, Hermann, politisch aktiver und daher schon einmal wegen „Störung des Arbeitsfriedens“ entlassen, wird von seiner Frau Helga mit Kindern gesegnet.

Dann kommt es in ihrem Druckereibetrieb zu einer Fusion, die Modernisierungsmaßnahmen zur Folge hat. Der alte Bleisatz soll durch Photosatz ersetzt werden. Edgar kommt damit überhaupt nicht klar. Er möchte sich nicht zu einer Art besserer Stenotypist degradieren lassen. Kroetz hat hier das Thema eines Druckerstreiks, den Kampf der Setzer und Drucker gegen die Wegrationalisierung ihrer Arbeitsplätze aufgegriffen. Er artikuliert die Ängste der Arbeitnehmer, die als schwelende Seuche durch die moderne Arbeitswelt ziehen, das Sterben alter Handwerksberufe, das bestenfalls noch dadurch kaschiert wird, dass man den „Heizer auf der Elektrolok“ durch gewerkschaftlichen Druck eine Übergangsfrist gewährt.

Unsere Berufswelt ist zwar längst von Maschinen, von Rechnern vereinnahmt. Aber das Stück bleibt trotzdem zeitgemäß. Auch heute noch spielen Rationalisierungsmaßnahme eine große Rolle. Spätestens mit dem Niedergang der sozialistischen Staaten rückte Gewinnmaximierung gänzlich unverhohlen bei den Unternehmen in den Vordergrund. Der Mensch ist nur noch eine ‚humane Ressource’, Humankapital in den Augen der Ökonomen. Ängste der Arbeitnehmer finden da keine Berücksichtigung und zeigen sich in einer Zunahme psychischer Erkrankungen. Oder wie oben bereits geschrieben: Erfolg und Karriere im Job werden immer wichtiger. Das Privatleben verschmilzt entweder mit der Arbeit oder bleibt zurück.

Stücke von Franz Xaver Kroetz

Vergessene Stücke (7): Thomas Brasch – Mercedes

Thomas Brasch (* 19. Februar 1945 in Westow/Yorkshire; † 3. November 2001 in Berlin) war ein deutscher Schriftsteller, Dramatiker, Drehbuchautor, Regisseur und Lyriker. Sein Theaterstück Mercedes – Für Caspar L – wurde am 07.11.1983 in der Regie von Matthias Langhoff am Schauspielhaus Zürich uraufgeführt.

„‚Mercedes’ – symbolträchtiges Auto und Name der heiligen Maria von der Gnade der Gefangenenbefreiung. Das Stück des vielseitigen und experimentierfreudigen Autors Thomas Brasch (1945 – 2001) oszilliert zwischen Irrsinn und Groteske, Traum und Trauma, Poesie und Klamauk, Drogenwahn und Alltag, Diesseits und Jenseits, Oi und Sakko, Mercedes und Mercedes. Von ‚A’ wie ‚Arbeit’ bis ‚Z’ wie ‚Zuni-Indianer’: ‚Mercedes’ ist ein Verwirr- und Assoziationsspiel über den alltäglichen Wahnsinn.“ (Quelle: www.theaterportal.de)

Personen:
Oi (sie) und Sakko (er), eine Zufallsbekanntschaft, sie Gelegenheitsnutte, er arbeitslos, sind die »Versuchspersonen«.
Mann im Auto

Das Stück spielt an keinem bestimmten Ort und entwickelt keine Handlung.
Ein Stück über freie Zeit, unsere Zeit und Arbeitslosigkeit.


MERCEDES VON THOMAS BRASCH

Ratlos die Worte, die sie einander wechseln, leer die Gedanken, die sie einander verschweigen … und erkennen einander nicht mehr … nennen Datura das Kraut oder Stechapfel, das ihnen schafft eine andre Zeit

(in: 6 Zeitverschiebung – S. 233 – Ausgabe: Theater heute – suhrkamp taschenbuch 1190 – 1. Auflage 1985)

Das Stück ist experimentell und zeitgebunden. Wir begegnen einem jungen, arbeitslosen Paar in der achtziger Jahren, der Zeit des Punk und von No Future. Brasch bereitet diese Zeit sehr symbollästig auf, wobei der ‚Mercedes’ als Statussymbol für Reichtum steht, anstößig und zur Gewalt herausfordernd. Das Experiment erfolgt in verschiedenen Versuchsreihen, in denen das Paar, Sakko und Oi, die Versuchspersonen sind:

„Ein Mann und eine Frau begegnen sich auf der Straße. Sie sind arbeitslos, sie haben viel Zeit – zum Beispiel, um sich füreinander zu interessieren. Aber das Gespräch kommt nur schwer über den Austausch von angeödeten No-Future-Parolen hinaus. Über sich wirklich reden können sie nur, wenn sie sich andere Rollen vorspielen, ein anderes Leben zusammenphantasieren. Der Mann, der sich Sakko nennt, träumt sich zurück in sein Funktionieren in der Arbeit, in der er gebraucht wurde und seinen Platz hatte. Die Frau, die sich Oi nennt, setzt ihre Sehnsucht um in anarchische, vielleicht kriminelle Energie. Fast sieht es so aus, als gelänge es ihr, Sakko anzustecken; fast sieht es so aus, als würde auf dem Umweg über das immer enthemmtere Spiel für die zwei gestrandeten Einzelnen etwas möglich, was in der stupiden Realität nicht zustande kommt: Nähe.“ (Quelle: theatertexte.de)

Gedichte, Stücke und mehr von Thomas Brasch