Kategorie-Archiv: Wiedergelesen

Wiedergelesen – wiederentdeckte Literatur

George Orwell: 1984

    In gewisser Weise ließen sich diejenigen am leichtesten von der Parteidoktrin überzeugen, die ganz außerstande waren, sie zu verstehen. Diese Menschen konnte man leicht dazu bringen, die offenkundigsten Vergewaltigungen der Wirklichkeit hinzunehmen, da sie nie ganz die Ungeheuerlichkeit des von ihnen Geforderten begriffen und überhaupt nicht genügend an politischen Fragen interessiert waren, um zu merken, was gespielt wurde.
    (George Orwell: 1984, S. 144)

30 Jahre sind inzwischen seit dem Jahr 1984 vergangen. Und man kann sich fragen, was sich von dieser finsteren Zukunftsversion, die George Orwell in seinem Roman 1984 beschreibt, verwirklicht hat. Ich habe den Roman vorliegen als Ullstein Buch 3253 – Verlag Ullstein, Frankfurt/M – Berlin – Wien, April 1983, 900. – 11020. Tsd. – aus dem Englischen von Kurt Wagenseil (Original: Nineteen Eighty-Four).

    George Orwell: 1984

Denkt man nur an all die Überwachungskameras, die allerorten angebracht sind, und denkt man an den NSA-Abhörskandal, der Anfang Juni 2013 durch den ehemalige Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden enthüllte wurde: Seit spätestens 2007 werden in großem Umfang die Telekommunikation und insbesondere das Internet durch Geheimdienste der USA und Großbritannien global und verdachtsunabhängig überwacht. Dann fragt es sich, ob wir inzwischen nicht wirklich in einem Überwachungsstaat leben. Besonders die so genannte Vorratsdatenspeicherung birgt eine Vielzahl von Gefahren für demokratische Gesellschaften. Denn dies steht im grundsätzlichen Widerspruch zu dem etwa in Deutschland höchstrichterlich festgelegten Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Außerdem baut ein solches Überwachungssystem auf der Grundannahme auf, dass jeder Mensch grundsätzlich ein potenzieller Straftäter sei und daher überwacht werden müsse.

Ist Orwells 1984 also schon Realität? Immerhin gilt der Roman als häufig zitiertes Negativ-Beispiel und als Symbol eines zur Diktatur ausgearteten Überwachungsstaats. Orwell prägte auch den Begriff Big Brother (engl. Großer Bruder): Big Brother is watching you!

Mit atemberaubender Unerbittlichkeit zeichnet der Autor in diesem visionären Roman das erschreckende Zukunftsbild einer durch und durch totalitären Gesellschaft, die bis ins letzte detail durchorganisierte Tyrannei einer absolut autoritären Staatsmacht. Dieses Buch entstand unter dem Eindruck unkontrollierter Willkürherrschaft, des Nazismus, des Faschismus, des Stalinismus, aber auch der wirtschaftsimperialistischen Tendenzen bei den Industriemächten während des Zweiten Weltkrieges. Pessimistischer und grimmiger noch als in seinen anderen Büchern bringt Orwell hier seine Überzeugung zum Ausdruck, daß die Machtstruktur einer Gesellschaft auch durch Revolution nicht grundlegend verändert werden kann und daß die Zerstörung des Menschen durch eine perfektionierte Staatsmaschinerie unaufhaltsam ist. Seine düstere Zukunftsvision gewinnt dadurch einen beklemmenden Wirklichkeitsbezug, dem sich auch der Leser von heute nur schwer entziehen kann.
(aus dem Klappentext)

„1984“ ist eigentlich nur ein Zahlendreher und bezieht auf das Jahr 1948 (der Roman erschien 1949). Laut Anthony Burgess (in den Essays zu seinem Roman 1985) beschreibt Orwell in seinem Roman ‚eigentlich’ das London der Nachkriegszeit. Auch in London gab es damals Versorgungsengpässe. Teile der Stadt waren in der Luftschlacht um England zerstört. Der ehemalige Sitz des ‚Ministry of Information’ in London entspricht der Beschreibung nach den vier Ministerien im Roman, wobei das ‚Ministry of Love’ im Buch keine Fenster enthält.

Kurz zum Inhalt: Die Welt ist in die drei verfeindeten Machtblöcke Ozeanien, Eurasien und Ostasien aufgeteilt, die sich in dauerhaftem Krieg miteinander befinden. Die Handlung des Romans spielt in Ozeanien, wo eine vom – nie wirklich sichtbaren – „Großen Bruder“ (Big Brother) geführte Parteielite („Innere Partei“) die restlichen Parteimitglieder („Äußere Partei“) und die breite Masse des Volkes (die „Proles“) unterdrückt. Die allgegenwärtige „Gedankenpolizei“ überwacht permanent die gesamte Bevölkerung. Mit nicht abschaltbaren Geräten, die zugleich alle Wohnungen visuell kontrollieren und abhören, schürt das Staatsfernsehen Hass auf einen unsichtbaren „Staatsfeind“ namens Emmanuel Goldstein, der angeblich die gegen die Partei gerichtete Untergrundorganisation der „Bruderschaft“ leitet. Dieser Hass wird den Menschen als Teil der allgegenwärtigen Propaganda täglich neu eingehämmert und dient dazu, die Bevölkerung durch das gemeinsame, allgegenwärtige und anscheinend übermächtige Feindbild zusammenzuschweißen und von ihrem entbehrungsreichen, von harter Arbeit geprägten Leben abzulenken. (Quelle und weitere Inhaltsangabe und zu den Figuren Winston Smith, Julia und O’Brien siehe de.wikipedia.org)

Nun der Superstaat Ozeanien ist nicht allein ein Überwachungsstaat. Es gibt auch andere Methoden der Machtausübung, die noch tiefere Wirkung zeigen. Da ist die Kontrolle bzw. Manipulation der Vergangenheit. Im Ministerium für Wahrheit wird ein gigantischer Aufwand betrieben, alle existierenden Dokumente der gegenwärtigen Parteilinie anzupassen. Was dem augenblicklichen Bild nicht entspricht, wird angepasst oder getilgt. Heute erleben wir diese ‚Verdammnis des Andenkens’ (Damnatio memoriae) meist darin, dass eine ‚Sache’ ausgesessen wird in der Hoffnung, dass bestimmte Fakten möglichst schnell vergessen werden. Oder es gibt ‚Manipulationen’ in der Form, dass z.B. von Politikern bestimmte Behauptungen aufgestellt werden, die schwer zu überprüfen sind oder eher noch einfach nicht überprüft werden. In Kombination mit einer Abart des Orwell’schen Zwiedenken (auch Doppeldenk), der Fähigkeit, in seinem Denken zwei widersprüchliche Überzeugungen aufrechtzuerhalten und beide zu akzeptieren, werden die Bürger getäuscht.

Aber Orwell geht noch weiter und kreiert eine neue Sprache, die eines Tages alle Bürger des Superstaates sprechen sollen: Neusprache bzw. Neusprech. „Neusprech“ bezeichnet die vom herrschenden Regime vorgeschriebene, künstlich veränderte Sprache. Das Ziel dieser Sprachpolitik ist es, die Anzahl und das Bedeutungsspektrum der Wörter zu verringern, um die Kommunikation des Volkes in enge, kontrollierte Bahnen zu lenken. Damit sollen sogenannte Gedankenverbrechen unmöglich werden. Durch die neue Sprache bzw. Sprachregelung soll die Bevölkerung so manipuliert werden, dass sie nicht einmal an Aufstand denken kann, weil ihr die Worte dazu fehlen.

Auch in unseren Zeiten gibt es einen allmählichen Wandel der Sprache, der weniger augenfällig ist als in „1984“ mit „Neusprech“. Dieser Wandel verläuft eher unterschwellig und wird außer durch die Politik besonders auch durch Medien, Wirtschaft usw. forciert. Ich denke dabei z.B. auch Wörter, die jährlich für das Unwort des Jahres nominiert werden und oft Euphemismen für unangemessene, sogar menschenverachtende Begriffe darstellen. Ich verweise hierbei erneut auf Neil Postman und sein Buch Wir amüsieren uns zu Tode. Und: Was bestimmte Fachtermini betrifft, da nimmt unser Wortschatz sicherlich noch zu. Der Wortschatz für allgemeine Begriffe minimiert sich dagegen zusehends.

Apropos Neil Postman und sein Buch „Wir amüsieren uns zu Tode“. Dort schrieb er in einer Einleitung (ich wiederhole mich gern noch einmal):

„Orwell fürchtete diejenigen, die Bücher verbieten. Huxley befürchtete, daß es eines Tages keinen Grund mehr geben könnte, Bücher zu verbieten, weil keiner mehr da ist, der Bücher lesen will.“ „Dieses Buch handelt von der Möglichkeit, daß Huxley und nicht Orwell recht hatte.“ (aus der Einleitung, S. 7f.)

Huxleys „Schöne neue Welt“ ist eine andere Art eines dystopischen Roman (Anthony Burgess nennt solche Anti-Utopien in seinem Buch „1985“ Kakotopien, zu griech. κακός (kakós): schlecht). Natürlich kannte Orwell den aus den 1930-er Jahren stammenden Roman. Er glaubte aber nicht, dass es zu einer solchen Gesellschaft kommen könnte; wenn ja, dann hätte sie „keinen Bestand“. So schrieb er an zwei Stellen in „1984“ ( in der „Theorie und Praxis des oligarchischen Kollektivismus“):

Anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts gehörte die Vision einer zukünftigen unglaublich reichen, über Muße verfügenden, geordneten und tüchtigen Gesellschaftsordnung – einer schimmernden antiseptischen Welt aus Glas, Stahl und schneeweißem Beton – zum Vorstellungsbild nahezu jedes gebildeten Menschen. Wissenschaft und Technik entwickelten sich mit wunderbarer Geschwindigkeit, und die Annahme schien natürlich, daß sie sich immer weiterentwickeln würden. Das war jedoch nicht der Fall, teils infolge der durch eine lange Reihe von Kriegen und Revolutionen verursachten Verarmung, teils weil wissenschaftlicher und technischer Fortschritt von einem durch Erfahrung gestützten Denken abhingen, das in einer diktatorisch kontrollierten Gesellschaftsordnung keinen Bestand haben konnte. (S. 173)

Es war zweifellos möglich, sich eine Gesellschaftsordnung vorzustellen, in der Wohlstand im Sinne von persönlichen Besitz und Luxusartikeln gleichmäßig verteilt war, während die Macht in den Händen einer kleinen privilegierten Schicht lag. Aber in der Praxis würde eine solche Gesellschaftsordnung nicht lange Bestand haben […]

Noch einmal die Frage: Ist Orwells 1984 also schon Realität? Wie steht es mit Huxleys Prophezeiungen? Orwell mag vielleicht nur in Nord-Korea wirklich sein, denn sein Überwachungsstaat ist totalitär. Bei uns sind aber Tendenzen erkennbar, die sowohl Orwell wie Huxley Recht geben. Wir leben in einer Welt, in der das Vergnügen, die Unterhaltung und Ablenkung wichtige Elemente der Lebensgestaltung sind. Wir leben in einer Welt, in der wir mehr und mehr manipuliert werden, in der die Vergangenheit vielleicht nicht getilgt, aber den ‚heutigen Notwendigkeiten’ gern angepasst wird, indem uns nur Halbwahrheiten mitgeteilt werden. Und unser Privatleben wird ausgehorcht, um unser gesamtes Verhalten zu erforschen und damit Daten zu dessen Manipulation zu erhalten. Big Brother is watching you! Und Big Sister unterhält dich prächtig!

Huxleys Roman wurde mehrmals verfilmt. Die Ergebnisse waren eher bescheiden. Auch Orwells „1984“ wurde mehrmals verfilmt, einmal 1959, eher profan, und dann im Jahr 1984 selbst. Diese Verfilmung 1984 von Michael Radford mit John Hurt als Winston Smith, Suzanna Hamilton als Julia und Richard Burton als O’Brien in seiner letzten Filmrolle ist dagegen wirklich sehenswert, u.a. auch deshalb, weil sich der Film sehr eng an der Romanvorlage orientiert.


George Orwells 1984 – der Film (Trailer)

Aber das ist noch lange nicht alles. Der bereits erwähnte Roman „1985“ von Anthony Burgess (in Anspielung auf Orwells „1984“), den ich zur Zeit lese, enthält neben aufschlussreichen Essays zu Orwells „1984“ eine Art ‚Hochrechnung’ der Gegenwart (aus der Sicht von 1978, da erschien das Buch). Hauptthemen sind dabei die wachsende Macht der Gewerkschaften und der Islam. Dazu später mehr.

Heute Ruhetag (49): Charles Baudelaire – Die Blumen des Bösen (2)

Gedichte sind nicht jedermanns Sache. Schon Romane, also Prosa, liegt manchem schwer im Magen. Wie anders sollte es da mit Lyrik sein. Wenn Romane in der Regel auch fassbare Handlung wiedergeben, so ist ein Gedicht … ja, was eigentlich?

Romane kann man vielleicht mit einem Film vergleichen. Nicht umsonst müht sich mancher Regisseur, einen Roman in bewegte Bilder umzusetzen. Ein Gedicht ist dagegen eher ein Standbild, eine Momentaufnahme – ganz auf die Sicht eines Dichters bezogen. Es kann ein Blick nach außen sein oder eher noch nach innen. Es gibt Empfindungen preis. Und wenn ein Gedicht in uns nicht ähnliche Gefühle weckt, dann können wir meist mit dem Gedicht nichts anfangen.

Gedichte sind eine besondere Kunstform. Es hat etwas mit Musik zu tun, denn viele Verse haben einen ganz gestimmten Rhythmus (Versfuß und Versmaß). Und da gibt es auch den Reim, der übrigens nicht immer am Ende von Zeilen stehen muss.

Aber ich verlaufe mich da geradezu. Ich will hier keine Verslehre betreiben. Geht man bei Gedichten von einem bestimmten Versmaß aus und reimen sich diese Gedichte, dann kann man sich denken, welche Schwierigkeit die Übersetzung in eine andere Sprache bereitet. Ich will nicht behaupten, dass z.B. die Sonette eines William Shakespeare nur im Original gelesen werden sollten. Es gibt wohl kaum einen Verszyklus, der öfter aus einer anderen Sprache ins Deutsche übersetzt wurde, als Shakespeares Sonette.

Einen Roman mag man ja Satz für Satz übersetzen (Wort für Wort macht natürlich keinen Sinn, das kann schon der Google Übersetzer besser). Aber ein Gedicht mit Maß und Reim?

Aber auch da verlaufe ich mich … Vor anderthalb Jahren hatte ich mich hier bereits schon einmal mit Charles Baudelaires „Les Fleurs du Mal“ befasst: „Die Blumen des Bösen“. Wenn ich heute noch einmal auf diesen Gedichtsband zurückkomme, so unter dem Aspekt der Übersetzbarkeit ins Deutsche. Denn auch Baudalaires Gedichten wurden von vielen, teilweise wirklich namhaften Schriftstellern, ins Deutsche übertragen (neben den unten Genannten u.a. auch noch Walter Benjamin, Rainer Maria Rilke und Stefan Zweig)

Hierzu habe ich ein Gedicht gewählt, Der Mensch und das Meer, das den Menschen mit dem Meer vergleicht, beide mit ‚tiefsten Gründen’ ausgestattet. Zunächst aber das Original und dann einige Beispiele der deutschen Übersetzung:

Heute Ruhetag = Lesetag!

L’HOMME ET LA MER

Homme libre, toujours tu chériras la mer!
La mer est ton miroir; tu contemples ton âme
Dans le déroulement infini de sa lame,
Et ton esprit n’est pas un gouffre moins amer.

Tu te plais à plonger au sein de ton image;
Tu l’embrasses des yeux et des bras, et ton cœur
Se distrait quelquefois de sa propre rumeur
Au bruit de cette plainte indomptable et sauvage.

Vous êtes tous les deux ténébreux et discrets,
Homme, nul n’a sondé le fond de tes abîmes;
O mer, nul ne connaît tes richesses intimes,
Tant vous êtes jaloux de garder vos secrets!

Et cependant voilà des siècles innombrables
Que vous vous combattez sans pitié ni remord,
Tellement vous aimez le carnage et la mort,
O lutteurs éternels, ô frères implacables!

Der Mensch und das Meer

Du freier Mensch, du liebst das Meer voll Kraft,
Dein Spiegel ist’s. In seiner Wellen Mauer,
Die hoch sich türmt, wogt deiner Seele Schauer,
In dir und ihm der gleiche Abgrund klafft.

Du liebst es, zu versinken in dein Bild,
Mit Aug‘ und Armen willst du es umfassen,
Der eignen Seele Sturm verrinnen lassen
In seinem Klageschrei, unzähmbar wild.

Ihr beide seid von heimlich finstrer Art.
Wer taucht, o Mensch, in deine letzten Tiefen,
Wer kennt die Perlen, die verborgen schliefen,
Die Schätze, die das neidische Meer bewahrt?

Und doch bekämpft ihr euch ohn‘ Unterlass
Jahrtausende in mitleidlosem Streiten,
Denn ihr liebt Blut und Tod und Grausamkeiten,
O wilde Ringer, ewiger Bruderhass!

Original und Übersetzung von Terese Robinson, 1925

DER MENSCH UND DAS MEER

Auf immer, freier Mensch, wirst lieben du das Meer,
Dein Spiegel ist das Meer. Du schaust der Seele Bildnis
Im weiten Wellenspiel der ungeheuren Wildnis,
Gleich ihm ist deine Brust von Bitternissen schwer.

Gern schaust dein Bild du, das die Wellen dir enthüllen,
Mit Auge und mit Arm faßt du es, und dein Herz
Vergißt wie trunken oft den eignen lauten Schmerz
Bei dieses Klagesangs unzähmbar wildem Brüllen.

Schweigsam und dunkel seid ihr beide allezeit:
Mensch, noch drang keiner je in deine tiefsten Gründe,
Meer, noch fand keiner je den Reichtum deiner Schlünde,
So bergt ihr euren Hort in finstrer Heimlichkeit.

Jahrtausende hindurch rollt euer nimmermüder
Und mitleidsloser Kampf bar jeder Reue fort.
So sehr liebt beide ihr die Schlachten und den Mord,
O ewges Kämpferpaar, o nie versöhnte Brüder!

Übersetzung von Graf Wolf von Kalckreuth, 1907

Der Mensch und das Meer

Freier mensch! das meer ist dir teuer allzeit ·
Es ist dein spiegel · das meer · du kannst dich beschauen
In seiner wellen unendlichem rollendem grauen ·
In deinem geist ist ein abgrund nicht minder weit.

Gerne versenkest du dich tief in dein bild ·
Ziehst es an dich mit auge und hand – deine sinne
Halten manchmal im eigenen tosen inne
Bei dem geräusch dieser klage unzähmbar und wild.

Beide lebt ihr in finstrer und heimlicher flucht.
Mensch noch sind unerforscht deine innersten gründe!
Meer noch sind unentdeckt deine kostbarsten schlünde!
Euer geheimnis bewahrt ihr mit eifersucht.

Und seit unzähligen jahren rollet ihr weiter
Ohne mitleid ohne reuegefühl ·
So sehr liebet ihr blut und totengewühl –
Unversöhnliche brüder! ewige Streiter!

Umdichtung von Stefan George

    Signatur: Charles Baudelaire

Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen/Les fleurs du mal

Aldous Huxley: Schöne neue Welt – Ein Roman der Zukunft

Neil Postman beruft sich in seiner Kritik am Medium Fernsehen Wir amüsieren uns zu Tode auf Aldous Huxley und seinen Roman Schöne neue Welt und schreibt in der Einleitung zu seinem Buch:

Orwell fürchtete diejenigen, die Bücher verbieten. Huxley befürchtete, daß es eines Tages keinen Grund mehr geben könnte, Bücher zu verbieten, weil keiner mehr da ist, der Bücher lesen will.“ „Dieses Buch handelt von der Möglichkeit, daß Huxley und nicht Orwell recht hatte.“ (aus der Einleitung, S. 7f.)

Neben George Orwells finsterer Zukunftsversion „1984“ ist Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ eines der bekanntesten dystopischen Romane (Anthony Burgess nennt solche Anti-Utopien in seinem Buch „1985“ Kakotopien, zu griech. κακός (kakós): schlecht).

    Aldous Huxley: Schöne neue Welt - Ein Roman der Zukunft

Ich habe das Buch in einer Taschenbuchausgabe des Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main – Band 26 – 1321. – 1350. Tausend: August 1987 (Original: Brave new World, 1932) vorliegen und jetzt nach 26 Jahren zum 2. Mal gelesen (gewissermaßen als Ergänzung zu Postmans TV-Kritik). Die erste deutsche Ausgabe kam ebenfalls 1932 unter dem Titel „Welt – wohin?“ (Download dieser Erstveröffentlichung u.a. als PDF) heraus, die zweite 1950 unter dem geänderten Titel „Wackere neue Welt“ in der Übersetzung von Herberth E. Herlitschka. In dieser vom Verfasser autorisierten Fassung ist die Handlung nach Berlin und Norddeutschland verlegt. Auch einige Namen von Figuren der Handlung wurden verändert: Im Original sind viele Personen nach bekannten britischen Kapitalisten benannt, in der deutschen Ausgabe entsprechend nach deutschen Kapitalisten. 1978 erschien eine deutsche Übersetzung von Eva Walch, die wieder die originalen Orte und Namen verwendet. Inzwischen erschien im S. Fischer-Verlag eine neue Übersetzung von Uda Strätling, die auch die Eigennamen des Originals unverändert lässt.

„Die ‚schöne neue Welt’, die Huxley in diesem Roman beschreibt, ist die Welt einer konsequent verwirklichten Wohlstandsgesellschaft ‚im Jahre 632 nach Ford’, einer Wohnstandsgesellschaft, in der alle Menschen am Luxus teilhaben, in der Unruhe, Elend und Krankheit überwunden, in der aber auch Freiheit, Religion, Kunst und Humanität auf der Strecke geblieben sind. Eine totale Herrschaft garantiert ein genormtes Glück. In dieser vollkommen ‚formierten’ Gesellschaft erscheint jede Art von Individualismus als ‚asozial’, wird als ‚Wilder’ betrachtet, wer – wie einer der rebellischen Außenseiter dieses Romans – für sich fordert: ‚Ich brauche keine Bequemlichkeit. Ich will Gott, ich will Poesie, ich will wirkliche Gefahren und Freiheit und Tugend! Ich will Sünde!’

Huxley schrieb dieses Buch Anfang der dreißiger Jahre (des vorigen Jahrhunderts). In seinem Essayband ‚Dreißig Jahre danach’ (‚Brave New World Revisited’) konnte er seine Anti-Utopien an der inzwischen veränderten Welt messen. Er kommt darin zu dem Schluß: sozialer und technischer Fortschritt und verfeinerte Methoden der psychologischen Manipulation lassen erwarten, daß diese grausige Voraussage sich in einem Bruchteil der veranschlagten Zeitspanne verwirklichen werde.“
(aus dem Klappentext)

„Alles in allem sieht es ganz so aus, als wäre uns Utopia viel näher, als irgend jemand es sich vor nur fünfzehn Jahren hätte vorstellen können. Damals verlegte ich diese Utopie sechshundert Jahre in die Zukunft. Heute scheint es durchaus möglich, daß uns dieser Schrecken binnen eines einzigen Jahrhunderts auf den Hals kommt; das heißt, wenn wir in der Zwischenzeit davon absehen, einander zu Staub zu zersprengen.“ (Aldous Huxley)

Aldous Huxley wurde am 26. Juli 1894 in Godalming/Surrey geboren. Er stammt aus einer angesehenen Gelehrtenfamilie, wurde in Eton erzogen und studierte in Oxford. Nach dem Ersten Weltkrieg arbeitete er als Journalist und Kunstkritiker. Unter dem Einfluß der buddhistischen Lehre und der politischen Ereignisse in Europa entwickelte er sich in den dreißiger Jahren vom amüsiert beobachtenden Satiriker zum leidenschaftlichen Reformator, der die Welt durch eine universale mystische Religion zu heilen versucht. Huyley starb im Jahre 1963.

Der Titel des Buchs bezieht sich auf einen Dialog im 8. Kapitel des Romans, in dem aus Shakespeares Drama Der Sturm zitiert wird (5. Akt, Vers 181-183): „O, wonder! How many goodly creatures are there here! How beauteous mankind is! O brave new world, that has such people in’t!“ (O Wunder! Was gibt’s für herrliche Geschöpfe hier! Wie schön der Mensch ist! O Schöne neue Welt, die solche Bürger trägt!)

Zum Inhalt: Der Roman spielt um das Jahr 632 A.F., was dem Jahr 2540 traditioneller Zeitrechnung entspricht. Nach dem Ende des Neun-Jahre-Kriegs im Jahre 150 A.F. (2058 A.D.) wurde der überwiegende Teil der Menschheit in einem einzigen Weltstaat unter einer Weltregierung zusammengefasst. Zu diesem Zeitpunkt begann die „moderne Zivilisation“, in der sich Menschen nicht mehr auf natürliche Weise vermehren und von Eltern erzogen heranwachsen, sondern in staatlichen Brut- und Aufzuchtszentren geschaffen werden.

Dabei werden die Menschen in verschiedene Kasten eingeteilt: Die Alphas bilden die höchste Kaste und übernehmen die wichtigsten und verantwortungsvollsten Aufgaben. Die Epsilons hingegen, die niedrigste Kaste, entstehen, indem man den Embryos Sauerstoff entzieht und sie so zu geistig beschränkten Menschen heranzüchtet, die dementsprechend untergeordnete Aufgaben übernehmen. Die Anzahl der jeweiligen Kastenmitglieder richtet sich dabei nach den aktuellen staatlichen und wirtschaftlichen Bedürfnissen.

Zu Beginn macht der Direktor des „Central London Hatchery and Conditioning Centre“ (in der deutschen Übersetzung die „Brut- und Normzentrale Berlin-Dahlem“) eine Gruppe Studenten als neue Mitarbeiter mit dem Ablauf des Betriebs vertraut: Menschliche Embryonen und Föten entwickeln sich in künstlichen Gebärmuttern, genannt „Flaschen“. Weitere Stationen der Führung sind der Kindergarten, in dem Babys durch Lärm und Stromschläge konditioniert werden, Bücher und Blumen zu fürchten, ein Schlafsaal, in dem die Kinder durch „Schlaflernen“ mit moralischen Vorstellungen indoktriniert werden, und der Garten, wo Kinder angehalten werden, sich mit sexuellen Spielen zu vergnügen. Dort trifft die Gruppe auf Mustapha Mond (dt. Mustafa Mannesmann), den Weltaufsichtsrat für Westeuropa. Dieser erklärt den Studenten die Geschichte des Weltstaates und preist dessen Erfolge, wie etwa das Auslöschen starker Gefühle und die sofortige Befriedigung jedes Wunsches.

Lenina Crowne (dt. Lenina Braun), eine Beta und Mitarbeiterin des Zentrums, wird von ihrer Freundin Fanny (dt. Stinni) kritisiert: Lenina treffe sich zu oft und ausschließlich mit Henry Foster (dt. Henry Päppler), dies widerspreche der staatlich gewünschten Promiskuität. Lenina gibt zu, sich von dem eigenbrötlerischen, extrem intelligenten, aber wegen eines „Fabrikationsfehlers“ körperlich unterentwickelten Alpha-Mann Bernard Marx (dt. Sigmund Marx) angezogen zu fühlen. Bernard leidet unter seiner relativen Kleinwüchsigkeit und kompensiert seinen Minderwertigkeitskomplex durch nonkonformistische Ansichten und aufrührerische Bemerkungen. Sein einziger Freund ist der gutmütige Alpha Helmholtz Watson (dt. Helmholtz Holmes-Watson), der Bernards rebellische Attitüde toleriert. In seiner Freizeit ist Bernard verpflichtet, an einer Orgy-Porgy-Gruppe teilzunehmen, die sich regelmäßig zu gemeinsamem Singen und Tanzen und anschließendem Gruppensex trifft, wobei sie die Droge „Soma“ konsumieren. (Quelle: de.wikipedia.org)

1998 wurde der Stoff als Geklonte Zukunft (Originaltitel erneut Brave New World) von Dan Wigutow Productions für das Fernsehen nach 1980 ein weiteres Mal verfilmt. In tragenden Rollen waren u. a. Peter Gallagher (Bernard Marx), Rya Kihlstedt (Lenina Crowne), Tim Guinee (John), Sally Kirkland (Linda), Miguel Ferrer (DHC) und Leonard Nimoy (Mustapha Mond) zu sehen. Ich habe den Film im englischen Original gesehen. Wie so oft in US-amerikanischen Verfilmungen endet diese mit einer Art Happy End (Bernard/Sigmund und Lenina werden Eltern und flüchten in ein so genanntes Reservat) und führt damit die Romanvorlage ad absurdum (Download des Films im engl. Original).

Ich habe die in Berlin und Norddeutschland spielende Übersetzung. Als Vorbemerkung schrieb der Übersetzer zur Ausgabe von 1932:

„Da die Handlung dieses utopischen Romans nicht an den Ort gebunden ist, erschien es dem Übersetzer ratsam, sie vom englischen auf deutschen Boden zu verpflanzen. Denn es ist ganz einerlei, ob einer seinen Somarausch in London oder in Berlin mit einer in Dahlem oder Blommsbury aufgenormten Beta erlebt. Die Wonnen, die den braven Weltstaatsbürger Päppler in der Dom-Diele erwarten, werden vermutlich denen, die Kollege Foster im Westminister Abbey Cabaret mit seiner Lenina genießt, zum Verwechseln ähnlich sein, und Unzufriedene, die normwidriger geistiger Überschuß keinen Gefallen an ihnen finden lässt, werden als gemeingefährliche Revoluzzer verbannt werden müssen, ob sie nun Sigmund oder, nach anderem berühmten Muster, Bernard heißen. Einen simplen John oder Michel aber wird hier wie dort nichts anderes übrigbleiben, als sich aufzuhängen.“ H.E.H.

Im Roman (entgegen der Verfilmung) endet die Geschichte mit dem Freitod von John (dt. Michel), genannt der „Wilde“. Zuvor war er in die Verbannung geschickt worden und suchte sich zum Leben einen verlassenen Leuchtturm aus. Witzigerweise befindet sich dieser Leuchtturm in der Nähe meines Wohnsitzes:

„Der Wilde hatte sich den alten Leuchtturm auf dem Hügelrücken zwischen Schneverdingen und Amelinghausen zur Einsiedelei erwählt. Das Gebäude war aus Eisenbeton und vorzüglich erhalten, fast zu komfortabel, wie der Wilde bei der ersten Besichtigung fand, fast mit zu viel Luxus ausgestattet.“ (S. 210 f.)

    Verbannung von John/Michel: Leuchtturm zwischen Schneverdingen und Amelinghausen

Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode

    „Wir beeilen uns sehr, einen magnetischen Telegraphen zwischen Maine und Texas zu konstruieren, aber Maine und Texas haben möglicherweise gar nichts Wichtiges miteinander zu besprechen. […] Wir beeilen uns, den Atlantischen Ozean zu durchkabeln, um die Alte Welt der Neuen ein paar Wochen näher zu rücken, vielleicht lautet aber die erste Nachricht, die in das große amerikanische Schlappohr hineinrinnt: Prinzessin Adelheid hat den Keuchhusten.“

Neil Postman (* 1931 in New York; † 2003 ebenda) war ein US-amerikanischer Medienwissenschaftler, insbesondere ein Kritiker des Mediums Fernsehen, und in den 1980er-Jahren ein bekannter Sachbuchautor. In Deutschland wurde besonders sein Buch Wir amüsieren uns zu Tode – Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie (mir liegt vor: S. Fischer – 5. Auflage. 82. – 110. Tausend, 1986 – aus dem Amerikanischen übersetzt von Reinhard Kaiser – Original: Amusing Ourselves to Death. Public Discourse in the Age of Show Business, 1985) bekannt.

    Neil Postman: Wir amüsieren und zu Tode

Orwell fürchtete diejenigen, die Bücher verbieten. Huxley befürchtete, daß es eines Tages keinen Grund mehr geben könnte, Bücher zu verbieten, weil keiner mehr da ist, der Bücher lesen will.“ – „In 1984 […] werden die Menschen kontrolliert, indem man ihnen Schmerz zufügt. In Schöne neue Welt werden sie dadurch kontrolliert, daß man ihnen Vergnügen zufügt. Kurz, Orwell befürchtete, das, was uns verhaßt sei, werde uns zugrunde richten. Huxley befürchtete, das, was wir lieben, werde uns zugrunde richten.
Dieses Buch handelt von der Möglichkeit, daß Huxley und nicht Orwell recht hatte.“
(aus der Einleitung, S. 7f.)

„ […] kündigt [Postmans] Buch […] neuen, grundsätzlichen Meinungsstreit an. Denn diesmal kritisiert er die allmähliche Zerrüttung der Kulturtätigkeiten durch den gewerbsmäßigen Illusionismus, das totale Entertainment. Postmans These lautet, daß die Medien zunehmend nicht nur bestimmen, was wir kennenlernen und erleben, welche Erfahrungen wir sammeln, wie wir Wissen ausbilden, sondern auch, was und wie wir denken, was und wie wir empfinden, ja, was wir von uns selbst und voneinander halten sollen. Zum ersten Mal in der Geschichte gewöhnen die Menschen sich daran, statt der Welt ausschließlich Bilder von ihr ernst zu nehmen. An die Stelle der Erkenntnis- und Wahrnehmungsanstrengung tritt das Zerstreuungsgeschäft. Die Folge davon ist ein rapider Verfall der menschlichen Urteilskraft. In ihm steckt eine unmißverständliche Bedrohung: Er macht unmündig oder hält in der Unmündigkeit fest. Und er tastet das gesellschaftliche Fundament der Demokratie an. Wir amüsieren uns zu Tode.“
(aus dem Klappentext)

Neil Postmans Buch beleuchtete Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts die Medienlandschaft der USA, besonders das Fernsehen. Was wir als ‚amerikanische Verhältnisse’ bezeichnen ist längst zu uns nach Europa herübergeschwappt. Von 50 TV-Sender und mehr werden wir in Deutschland 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche berieselt. Das Fernsehen ist lange schon zum Leitmedium bei uns geworden.

„Gegen das ‚dumme Zeug’, das im Fernsehen gesendet wird, habe ich nichts, es ist das beste am Fernsehen, und niemand und nichts wird dadurch ernstlich geschädigt. Schließlich messen wir eine Kultur nicht an den unverhüllten Trivialitäten, die sie hervorbringt, sondern an dem, was sie für bedeutsam erklärt. Hier liegt unser Problem, denn am trivialsten und daher am gefährlichsten ist das Fernsehen, wenn es sich anspruchsvoll gibt und sich als Vermittler bedeutsamer kultureller Botschaften präsentiert. Paradoxerweise verlangen Intellektuelle und Kritiker vom Fernsehen häufig genau dies.“ (S. 26 f.)

Postmans Kritik am Fernsehen gilt natürlich auch heute noch und lässt sich mit Einschränkungen auch auf das Internet ausweiten. Aber beginnen wir in einer Zeit, in der bereits Henry David Thoreau die anfangs erwähnte ‚Belanglosigkeit’ einer Mitte des 19. Jahrhundert aufkommenden neuen technischen Errungenschaft, die Telegrafie, erkannte.

„Der Angriff des Telegraphen auf die aus dem Buchdruck erwachsene Definition von Urteilsbildung hatte drei Stoßrichtungen: Er verschaffte der Belanglosigkeit, der Handlungsunfähigkeit und der Zusammenhanglosigkeit Eingang in den Diskurs. Entfesselt wurden diese bösen Geister des Diskurses dadurch, daß die Telegraphie der Idee der kontextlosen Information Legitimität verlieh, also der Vorstellung, daß sich der Wert einer Information nicht unbedingt an ihrer etwaigen Funktion für das soziale und politische Entscheiden und Handeln bemißt, sondern einfach daher rühren kann, daß sie neu, interessant und merkwürdig ist. Der Telegraph machte aus der Information eine Ware, ein ‚Ding’, das man ohne Rücksicht auf seinen Nutzen oder seine Bedeutung kaufen und verkaufen konnte.“ (S. 85)

Zuvor waren es die Druckpresse, der Buchdruck, die den Diskurs bestimmten: „Ich möchte die Zeit, in der der amerikanische Geist unter der Souveränität der Druckpresse stand, das Zeitalter der Erörterung nennen. Die Erörterung ist zugleich Denkweise, Lernmethode und Ausdrucksmittel. Fast alle Eigenschaften, die wir einem entfalteten Diskurs zuordnen, wurden durch den Buchdruck verstärkt, der die stärkste Tendenz zu einer erörternden Darstellungsweise aufweist: die hochentwickelte Fähigkeit zu begrifflichem, deduktivem, folgerichtigem Denken, die Wertschätzung von Vernunft und Ordnung; der Abscheu vor inneren Widersprüchen, die Fähigkeit zur Distanz und zur Objektivität; die Fähigkeit, auf endgültige Antworten zu warten.“ (S. 82)

Mit der Zeit bestimmten Bilder, weniger das geschriebene Wort die Medienlandschaft: Manches Bild sagte plötzlich mehr aus als viele Worte:

„Die neuen Bildformen mit der Photographie in vorderster Linie traten nicht als bloße Ergänzung von Sprache auf, sie waren vielmehr bestrebt, die Sprache als unser wichtigstes Instrument zur Deutung, zum Begreifen und Prüfen der Realität zu ersetzen. […] Dadurch, daß das Bild in den Mittelpunkt des Interesses trat, wurden die überkommenden Definitionen der Information, der Nachricht und in erheblichen Umfang der Realität selbst untergraben.“ (S. 95)

„‚Bilder’, so hat Gavriel Salomon geschrieben, ‚muß man erkennen, Wörter muß man verstehen’. Damit will er sagen, daß die Photographie die Welt als Gegenstand präsentiert, während die Sprache sie als Idee präsentiert.“ (S. 93)

Es geht dabei nicht um Falschinformationen, sondern um Desinformationen: „Desinformation ist nicht dasselbe wie Falschinformation. Desinformation bedeutet irreführende Information – unangebrachte, irrelevante, bruchstückhafte oder oberflächliche Information -, Information, die vortäuscht, man wisse etwas, während sie einen in Wirklichkeit vom Wissen weglockt. […] Unwissenheit läßt sich allemal beheben. Aber was sollen wir tun, wenn wir die Unwissenheit für Wissen halten?“ (S. 133 f.)

„Wenn ein Volk sich von Trivialitäten ablenken läßt; wenn das kulturelle Leben neu bestimmt wird als eine endlose Reihe von Unterhaltungsveranstaltungen, als gigantischer Amüsierbetrieb, wenn der öffentliche Diskurs zum unterschiedslosen Geplapper wird, kurz, wenn aus Bürgern Zuschauer werden und ihre öffentlichen Angelegenheiten zur Varieté-Nummer herunterkommen, dann ist die Nation in Gefahr – das Absterben der Kultur wird zur realen Bedrohung.“ (S. 190)

Wie kann man dem aber entgegenwirken? „Das Problem besteht … nicht darin, was die Leute sehen. Es besteht darin, daß wir sehen. Und die Lösung müssen wir darin suchen, wie wir sehen.“ (S. 194)

Postman setzt dabei auf die Schulen und die Erziehung: „Schon immer galt die Schule in Amerika als Patentlösung für alle bedrohlichen sozialen Konflikte, und ein solcher Vorschlag beruht natürlich auf einen naiven Vertrauen in die Wirksamkeit von Erziehung.“ (S. 197)

… und weiter: „Die Lösung, die ich hier vorschlage, ist die gleiche, die Aldous Huxley vorgeschlagen hat. Und ich kann es nicht besser als er. Er meinte mit H. G. Wells, daß wir in ein Wettrennen zwischen der Bildung und der Katastrophe eingetreten sind, und immer wieder hat er in seinen Schriften betont, wie dringlich es sei, die Politik und die Epistemologie der Medien begreifen zu lernen. Letzten Endes wollte er uns zu verstehen geben: Die Menschen in Schöne neue Welt leiden nicht daran, daß sie lachen, statt nachzudenken, sondern daran, daß sie nicht wissen, worüber sie lachen und warum sie aufgehört haben, nachzudenken.“ (S. 198)

Computer spielten vor knapp dreißig Jahren noch nicht die Rolle, die sie heute spielen samt Internet und all den sozialen Medien. In vielem lässt sich Postmans Kritik am Fernsehen auch auf das Internet übertragen. Besonders die sozialen Medien strotzen geradezu von Belanglosigkeiten und unnötigem Wissen. Auf der anderen Seite bietet das Internet aber die Möglichkeit, schnell an Informationen zu kommen, die man z.B. für die Arbeit, aber auch privat benötigt. Hier gilt natürlich, was für Medien anderer Art (Bücher eingeschlossen) ebenso gilt: Informationen sind an anderer Stelle auf ihre Richtigkeit zu überprüfen.

Es ist wenig, was Postman zu Computern schreibt, u.a.: „ … daß die Speicherung gewaltiger Datenmengen und ihre lichtgeschwinde Abrufbarkeit zwar für große Organisationen von hohem Wert sind, daß sie den meisten Menschen aber bei wichtigen Entscheidungsfindungen wenig geholfen und mindestens ebenso viele Probleme hervorgebracht wie gelöst haben.“ (S. 196) – Der erste Halbsatz ließ mich aufhorchen, denn da kam mir natürlich sogleich der NSA-Skandal in den Sinn.

Neil Postmans Buch ist auch heute noch aktuell, wenn sich die ‚Akzente’ auch deutlich verschoben haben. Es regt auf jeden Fall zum Nachdenken an – und darin besteht ja der Lösungsansatz, den Postman vertritt: das Erkennen der Gefahr für Kultur und Demokratie, die durch ein Überangebot an belanglosen Informationen hervorgerufen wird. Ich habe es auf jeden Fall mit großem Interesse erneut gelesen.

Zu Huxleys ‚Schöne neue Welt’ und Orwells ‚1984’ sowie zu den Verfilmungen beider Romane komme ich demnächst zu sprechen.

Siehe auch meine Beiträge:
Jugendkriminalität und das geschriebene Wort
Die Philosophie der Uhr

Heute Ruhetag (48): Gustav Meyrink – Der Golem

Gustav Meyrink (eigentlich Gustav Meyer * 1868 in Wien; † 1932 in Starnberg), war ein österreichischer Schriftsteller.

Die Zentren seines literarischen Schaffens waren Prag und München. Zu beiden pflegte er zeitlebens eine innige Hassliebe.

Als einer der Ersten im deutschen Sprachraum (nach Paul Scheerbart und E. T. A. Hoffmann) verfasste Meyrink phantastische Romane. Während sein Frühwerk mit dem Spießbürgertum seiner Zeit abrechnet (Des deutschen Spießers Wunderhorn), befassen sich seine späteren, häufig im alten Prag spielenden Werke hauptsächlich mit übersinnlichen Phänomenen und dem metaphysischen Sinn der Existenz.

Der Golem ist wohl der bis heute bekannteste Roman von Gustav Meyrink. Er erschien erstmals in den Jahren 1913 und 1914 als Fortsetzungsroman in der Zeitschrift Die Weißen Blätter; 1915 wurde er in Buchform veröffentlicht, also vor 99 Jahren.

Dieser Roman gilt als ein Klassiker der phantastischen Literatur. Es handelt sich bei dem Roman nicht um eine Adaption der jüdischen Golem-Sage im engeren Sinn, sondern um ein impressionistisches Traumbild vor dem Hintergrund der Sage. Der Golem soll eine alte sagenhafte Gestalt gewesen sein, von dem man sagt, er gehe alle dreiunddreißig Jahre in Prag um. Rabbi Löw soll ihn 1580 am Ufer der Moldau nach verlorengegangenen Vorschriften der Kabbala aus Lehm geschaffen haben, weil er sich einen Gehilfen wünschte, der die Juden beschützen sollte.

Der Roman spielt im frühen 20. Jahrhundert und beginnt mit dem anonymen Erzähler der Geschichte, der – zu Besuch in Prag – vor dem Zu-Bett-Gehen in einem Buch über das Leben Buddha Gotamas gelesen hat. Er fällt in einen unruhigen Halbschlaf und gleitet in eine Traumwelt, in der er Ereignisse erneut durchlebt, die sich vor mehr als dreißig Jahren im Prager Judenviertel zugetragen haben.

… siehe hierzu auch meinen alten Beitrag: Gustav Meyrink: Der Golem. Wenn auch nicht erst alle 33 Jahre, so taucht der Golem in diesem Blog öfter auf als gedacht …

Heute Ruhetag = Lesetag!

Schlaf

Das Mondlicht fällt auf das Fußende meines Bettes und liegt dort wie ein großer, heller, flacher Stein.

Wenn der Vollmond in seiner Gestalt zu schrumpfen beginnt und seine rechte Seite fängt an zu verfallen, – wie ein Gesicht, das dem Alter entgegengeht, zuerst an einer Wange Falten zeigt und abmagert, – dann bemächtigt sich meiner um solche Zeit des Nachts eine trübe, qualvolle Unruhe.

Ich schlafe nicht und wache nicht, und im Halbtraum vermischt sich in meiner Seele Erlebtes mit Gelesenem und Gehörtem, wie Ströme von verschiedener Farbe und Klarheit zusammenfließen.

Ich hatte über das Leben des Buddha Gotama gelesen, ehe ich mich niedergelegt, und in tausend Spielarten zog der Satz immer wieder von vorne beginnend durch meinen Sinn:
»Eine Krähe flog zu einem Stein hin, der wie ein Stück Fett aussah, und dachte: vielleicht ist hier etwas Wohlschmeckendes. Da nun die Krähe dort nichts Wohlschmeckendes fand, flog sie fort. Wie die Krähe, die sich dem Stein genähert, so verlassen wir – wir, die Versucher, – den Asketen Gotama, da wir den Gefallen an ihm verloren haben.«

Und das Bild von dem Stein, der aussah wie ein Stück Fett, wächst ins Ungeheuerliche in meinem Hirn:

Ich schreite durch ein ausgetrocknetes Flußbett und hebe glatte Kiesel auf.

Graublaue mit eingesprengtem glitzerndem Staub, über die ich nachgrüble und nachgrüble und doch mit ihnen nichts anzufangen weiß, – dann schwarze mit schwefelgelben Flecken wie die steingewordenen Versuche eines Kindes, plumpe, gesprenkelte Molche nachzubilden.

Und ich will sie weit von mir werfen, diese Kiesel, doch immer fallen sie mir aus der Hand, und ich kann sie aus dem Bereich meiner Augen nicht bannen.

Alle jene Steine, die je in meinem Leben eine Rolle gespielt, tauchen auf rings um mich her.
Manche quälen sich schwerfällig ab, sich aus dem Sande ans Licht emporzuarbeiten – wie große schieferfarbene Taschenkrebse, wenn die Flut zurückkommt, – und als wollten sie alles daransetzen, meine Blicke auf sich zu lenken, um mir Dinge von unendlicher Wichtigkeit zu sagen.

Andere – erschöpft – fallen kraftlos zurück in ihre Löcher und geben es auf, je zu Worte zu kommen.

Zuweilen fahre ich empor aus dem Dämmer dieser halben Träume und sehe für einen Augenblick wiederum den Mondschein auf dem gebauschten Fußende meiner Decke liegen wie einen großen, hellen, flachen Stein, um blind von neuem hinter meinem schwindenden Bewußtsein herzutappen, ruhelos nach jenem Stein suchend, der mich quält – der irgendwo verborgen im Schutte meiner Erinnerung liegen muß und aussieht wie ein Stück Fett.

[…]

Gustav Meyrink: Der Golem

Martin Walser: Jagd (1988)

    Die vielbödige Hinterhältigkeit des höher gebildeten Normalmenschen. (S. 128)
    Gute Manieren sind ein Ausdruck schlechten Gewissens (S. 135)
    Ohne Selbstbeherrschung ist Anarchie nicht möglich. (S. 213)

    Martin Walser: Jagd (suhrkamp taschenbuch 1785, 3. Auflage 2002)

Frauen sind Männern ein Rätsel. Aber fast mehr noch verstehen sie sich selbst kaum. Was veranlasst ihr Handeln, was prägt ihr Verhalten? Menschen, speziell Männer, unterscheidet man gern in die Kategorien Jäger oder Sammler. So ganz habe ich den Unterschied nicht verstanden. Beide, Jäger wie Sammler, müssen doch ‚hinaus’, um ihrem Bedürfnis entsprechend handeln zu können. Vielleicht ist der Jäger eher der Abenteurer, dem die Jagd als solches Ziel ist, während der Sammler eher der Stubenhocker ist, dem die Trophäen das Wichtigste sind.

Nachdem ich zum ersten Mal Das Schwanenhaus (Erstveröffentlichung 1980) Anfang des Jahres gelesen habe, so nahm ich mir jetzt den Roman Jagd (Erstveröffentlichung 1988) zum 2. Mal vor – der erste und zweite der drei Gottlieb Zürn-Romane von Martin Walser.

    Martin Walser: Jagd (1988)

Da Gottlieb Zürn seine Unterlegenheit als Immobilienhändler erkennen mußte, überließ er seiner Frau Anna, die sich im Handel und Wandel mit den Kunden erfolgreich gezeigt hatte, den Part der größeren Einträglichkeit: Anna, das Zentrum der Familie, Ärztin, die Glaubensfähige, die Tonangebende. Es beginnt idyllisch, aber die Idylle hält nicht. Die Jagd beginnt. Als die Tochter Julia, achtzehn, verschwindet, erweist es sich, wie wenig der Familienfrieden einer war. Das Jagdmotiv, handle es sich um Lebenssituationen oder um gesellschaftliche Bereiche, wird aufs vielfältigste variiert. Sechs Frauen sind es, die diese Variationen bewirken.
(aus dem Klappentext)

Im zweiten Roman ist Gottlieb Zürn, der mit seiner Frau und den beiden jüngeren der vier Töchter in Überlingen (Ortsteil Nußdorf) am Bodensee lebt, hauptsächlich als Akquisiteur tätig und für die Zeitungsanzeigen zuständig. Dort am Bodensee haben die Zürns auch zwei Ferienwohnungen, die sie u.a. schon öfter an Helmut Halm und Frau in „Ein fliehendes Pferd“ (1978) vermietet haben. Diesmal ist es das Ehepaar Gisela und Stefan Ortlieb. Dieser Gisela („Gisi“) und ihrer paranoiden Freundin Annette Mittenzwei (sic! – der Name ist Programm) wird Gottlieb Zürn auf der Suche nach der Tochter bis nach München ‚nachjagen’. Und über das Heranschaffen von Immobilien lehrt Zürn Liliane Schönherr kennen, eine Frau, die ihren schwerkranken Mann zu pflegen hat und darüber sich vom Leben vernachlässigt fühlt. Zwar erjagt Gottlieb Zürn die Frau, aber nicht die Immobilie, deretwegen er sich in dieses amouröse Abenteuer begeben hat. Wieder ist es jener Jarl F. Kaltammer, der sich das Lebkuchenhäuschen unter den Nuß- und Kastanienbäumen in Nonnenhorn (oder wie Kaltammer selbst inseriert: „Traumhäuschen auf großem Grund unter Märchenbäumen“) unter den Nagel gerissen hat.

Übrigens: Entgegen meiner ersten Berechnung kommt das Wort Jagd und seine Variationen (Jäger, jagen) beim 2. Lesen statt achtmal sogar zwölfmal vor.

Personenliste zum Roman:

Dr. Gottlieb Zürn, Makler, Ende 50 Jahre
Anna, seine Frau

Rosa, die älteste Tochter
Magda(lena), Tochter
Julia, Tochter, 18 Jahre alt <-> Bert Diekmann
Regina, die jüngste Tochter, 15 Jahre alt

Gisela Ortlieb und
Ehemann Stefan Ortlieb (Diplom-Bibliothekar), Feriengäste aus München
Annette Mittenzwei, Freundin von Gisela Ortlieb

Liliane Schönherr, Kundin (als Verkäuferin) von Gottlieb Zürn in Frankfurt/Main

Elisabeth Stapf, genannt Lissi, Punkerin und Freundin von Julia
Dr. Kevelaer, Frauenarzt

Rudi W. Eitel, Kollege und Freund von Gottlieb Zürn
Helmut ‚Schaden’-Meier, früher Architekt, jetzt Schätzer, Freund von Gottlieb Zürn

Paul Schatz, Immobilienhändler und Konkurrent
Jarl F. Kaltammer, Immobilienhändler und Konkurrent

außerdem:

Armin, der Hund der Familie Zürn
u.a.

Und wie schon öfter an anderer Stelle erwähnt, hat Gottlieb Zürn zwei Cousins, die Walser ebenfalls literarisch bedacht hat (siehe Übersicht Hauptpersonen Romane Martin Walser als PDF) und die so mindestens in aller Kürze auch in „Jagd“ Erwähnung finden, dort heißt es:

… Was kann man mit Schmerz anfangen? Bitte, mit Lebensschmerz! Er kennt weder den ewigen Magenschmerz seines Vetters Xaver [Seelenarbeit] noch den Weltschmerz seines Vetters Franz [Franz Horn – Jenseits der Liebe und Brief an Lord Liszt], ihm tut das Leben selber weh. Nur das, sonst nichts. (S. 196)

Wie eingangs erwähnt: Männer verstehen sich selbst kaum. Diesmal gibt zwar Gottlieb Zürn kein unnötiges Geld für einen noch unnötigeren teuren Teppich aus. Dafür jagt er nach erotischen Abenteuern und ist manchmal der Jäger, aber meist doch eher der Gejagte. Seine Abenteuer enden geradezu kläglich. Was tut ‚Mann’ sich selbst nicht alles an, um auch noch im fortgeschrittenen Alter ‚männlich’ zu sein.

Der Roman stieß in den Feuilletons auf ein wenig positives Echo, weil Walser wieder einmal falsch verstanden wurde. Jörg Magenau, der Walser-Biograph, nannte „Jagd“ einen „Roman der Stagnation“ und meinte die Stagnation Walsers als Literat. Dabei hat Magenau gar nicht so Unrecht: Gottlieb Zürns Leben, trotz aller Turbulenzen in Beruf und Familie, ist mit über 50 Jahren ‚stagniert’. Da gibt es kaum noch Entwicklungsmöglichkeiten. Und selbst das, was noch geschieht, geschieht so, als wäre es ein Abschiednehmen.

Sicherlich ist das nicht Walsers bester Roman. Es ist eher wie ein Baustein, ein Teil eines Mosaiks, das aber für das Gesamtbild unerlässlich ist. Hier ist es vor allem die erotische Suche, die ‚Jagd’, der sich selbst der gesetzte Mann immer noch nicht verschließen kann.

„Die Suche nach erotischem Leben ist bei Walser eine erotische Suche nach Leben. Eros, Ehe und Erlebnishunger sind die äußeren Markierungspunkte dieses Romans, das Verhältnis von Leben, Literatur und Todeslust sein geheimes Motiv. Kaum einer vermag die Verwerfungen und Abgründe in den menschlichen Verhältnissen besser auszuloten als Walser.“
Volker Hage, Die Zeit

„Neues“ von Kafka

Okay, ich weiß, dass sich hier keiner für Kafka interessiert, so stehe ich wieder allein mit ihm da, oder? Bekanntlich gilt der Prophet nichts (oder nur wenig) in seinem Land (nicht geographisch, sondern sprachlich gesehen); dafür umso mehr in fremden.

Um eines gleich vorweg zu sagen: Franz Kafka war nicht so ‚krank’, wie ihn viele gern darstellen. Was bei Kafka ‚krank’ ist, dass sind wir und unsere Gesellschaft, die er in seinem Werk auf unnachahmliche Weise beschrieben hat. Was viele nicht ahnen, dass ist der Humor bei Kafka, der sicherlich eigentümlich ist, man muss ihn geradezu ‚schwarz’ nennen. Daher wohl auch die Vorliebe der Angelsachsen für Kafka. Die verstehen ihn besser als wir.

Kafka-Kurier

Ja wir, typisch deutsch ist die immer wieder trocken wissenschaftliche Aufarbeitung von Kafka und seinem Werk. Vorangekündigt ist da jetzt der Kafka-Kurier: „Der Kafka-Kurier ist kein Mitteilungsblatt, kein news-letter, er transportiert keine schnell verderbliche Ware. Für die Publikation der Beiträge die einzig angemessene Form ist daher der Druck. Er dient der Konzentration von Autoren und Lesern, unterstreicht die Sorgfalt der aufgewandten Arbeit, verleiht ihr Dauer und Haltbarkeit, bringt ihr Achtung und Aufmerksamkeit entgegen und bietet darüber hinaus – im direkten Gegensatz zur digitalen Massenvorhaltung und der Diffusion in anonymen Datenwolken – die Möglichkeit, den Kafka-Kurier im Laufe der Zeit als ein bequem zugängliches Archiv zu gebrauchen.“ Immerhin auch im Internet demnächst erhältlich bei amazon.de: Kafka-Kurier

Also eigentlich steckt in dieser Vorankündigung viel ‚eigener’ Witz: „… transportiert keine schnell verderbliche Ware … im direkten Gegensatz zur digitalen Massenvorhaltung und der Diffusion in anonymen Datenwolken …“ – das hat doch was, oder? Auch wenn das einiges Geld für so wenig Seiten sein wird, ich bin dabei (trotz wissenschaftlicher Strenge).

Kafka goes Gaming

Ganz gelöst geht es dagegen hier zu. Und ich denke, Franz Kafka hätte daran seinen Spaß gehabt. Ebenfalls vorangekündigt ist ein Videospiel, das sich um Kafkas Figuren rangt. So wird Gregor Samsa, der in ein Ungeziefer Verwandelte, in einem Indie-Adventure zum Leben erweckt.

    Screenshot aus: The Franz Kafka Videogame © Denis Galanin

Denis Galanin (mif2000) liest gerne Klassiker der Literatur, er spielt Computerspiele und verbindet beides beim Programmieren. Nachdem er 2011 schon Hamlet in einem Game zum Leben erweckte, arbeitet er gerade an einem Spiel über einen weiteren großen Emo der Literaturgeschichte: Franz Kafka.

2014 kommt sein Indie-Adventure über Kafkas Werk und Leben auf den Markt. Über Windows-PC, Mac-OS, Linux, iOS und Android darf dann in Gregor Samsas Haut geschlüpft werden. (Quelle: dradiowissen.de)


The Franz Kafka Videogame – First Trailer

Das Indie-Adventure des russischen Entwicklers Denis Galanin soll auf dem Leben von Kafka, vor allem aber auf dessen Werken beruhen. Neben ‚Der Verwandlung’ sollen auch Elemente aus ‚Das Schloss’ und ‚Amerika’ vorkommen. Spielerisch soll es eine Mischung aus klassischen Point-and-Click-Adventure-Elementen geben, allerdings mit etwas schrägeren Rätseln als sonst. (Quelle: golem.de)

Nun ich bin alles andere als ein Spiele-Freak. Aber als Kafka-Fan werde ich mir dieses Spiel dann wohl zulegen. Ich bin auf jeden Fall gespannt, was sich da der Entwickler ausgedacht hat.

Kafka goes Hollywood oder: Es weihnachtet sehr im Hause Kafka

Prag kurz vor Weihnachten 1912: Verzweifelt bastelt Franz Kafka am ersten Satz seiner neuen Erzählung ‚Die Verwandlung’. Während er versucht zu entscheiden, als welche Lebensform seine Figur Gregor Samsa erwachen soll, wird er ständig von einem fremden Messer-Verkäufer, lauten Partygeräuschen, Mädchen, traumhaften Visionen und anderen Fremden unterbrochen (Quelle u.a. filmstarts.de)

Weihnachten haben wir zwar schon etwas länger hinter uns gelassen. Trotzdem möchte ich Euch den folgenden, etwa 23-minütigen Kurzfilm nicht vorenthalten, auf den ich wie so oft rein durch Zufall gestoßen bin. Es handelt sich dabei um eine Produktion von BBC Scotland, einen komödiantischen britischen Kurzfilm aus dem Jahr 1993 in der Regie von Peter Capaldi: Franz Kafka’s It’s a Wonderful Life. Dieses Filmchen erhielt 1995 (mit dem Kurzfilm Trevor) den Oscar als bester Kurzfilm. Zudem gewann er zuvor schon 1993 den British Film Academy Award, außerdem den Publikumspreis des ‚Angers European First Film Festival’.

Franz Kafka's It's a Wonderful Life (Franz Kafkas Weihnachtserzählung)

In diesem Film weiß Franz Kafka „noch nicht so ganz, wie die Geschichte eigentlich aussehen soll. Er weiß, dass Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachen soll, er weiß, dass er verwandelt werden soll, er weiß bloß einfach nicht, in was. (In der englischen Sprache hat dieses Problem noch eine etwas andere Nuance; hier wird Gregor Samsa nämlich nicht in das undefinierte ‚Ungeziefer’, sondern in ein wesentlich konkreteres ‚insect’ verwandelt – und dieses ‚insect’ ist durch die englische Grammatik nicht das vorletzte, sondern das letzte Wort des entscheidenden Satzes.)

Franz sitzt jedenfalls in seinem Zimmer, und überlegt sich allerhand albernes Zeug; verschiedene Verwandlungsmöglichkeiten, die sicherlich ausreichend absurd wären (Gregor Samsa, zu einer ungeheuren Banane verwandelt, wäre möglicherweise auch in die Literaturgeschichte eingegangen – zumal in einer Geschichte aus Prag, 1912), aber irgendwie eben nicht kafkaesk (Obwohl: In einer solchen alternativen Realität wäre Kafka vielleicht erfolgreicher Slapstick-Autor geworden; und vielleicht bedeutete “kafkaesk” nun etwas gänzlich anderes.). Franz sitzt also in seinem Zimmer, und es mangelt ihm nicht nur an Inspiration, er wird auch andauernd gestört, von professionellen Messerwetzern, tanzenden Großfamilien und verwirrten Scherzartikelvertretern, aber letztendlich findet doch alles zu einem happy weihnachtlichen Ende. Und das ist umso schöner, da Franz hier vom wunderbaren Richard E. Grant gespielt wird und man sich einfach von Anfang an wünscht, ihn das volle Emotionsspektrum darstellen zu sehen.

Wie man sich denken kann, ist der Film selbstverständlich nicht besonders kafkaesk (so wie wir es verstehen) – dafür aber wirklich ausgesprochen komisch. ‚You are an artist, Mr. K.’ – ‚Oh, please, call me F.!’” (Quelle: stubenhockerei.com)

Hier also im englischen Original (dank 3sat) mit deutschen Untertiteln:


Franz Kafka’s It’s a Wonderful Life (Franz Kafkas Weihnachtserzählung)

… siehe auch den aufschlussreichen Beitrag zum Film bei findecinema.wordpress.com

Vielleicht habe ich der einen oder den anderen von Euch Appetit auf Kafka gemacht, wäre schön. Vielleicht gilt ein Prophet im eigenen Land doch mehr als bisher angenommen. Kafka ist und bleibt aktuell, denn irgendwie ist er für alles gut … Zum Lesen übrigens auch.

… und zuletzt ein Artikel aus der Berliner Woche, der berichtet, wie Kafka vor 90 Jahren (kurz vor seinem Tode) glücklich in Steglitz das Vorstadtidyll genoss …

Vorweihnachtszeit 2013 (7): Weihnachten 1932 in Wasserburg/Bodensee

Die Bescherung fand, weil auf das Klavier nicht verzichtet werden konnte, im Nebenzimmer statt. Das heißt, Josef und Johann hatten erst Zutritt, als der Vater am Klavier Stille Nacht, heilige Nacht spielte. Der Einzug ins Nebenzimmer geschah durch zwei Türen: von der Wirtschaft her zogen, ihre Gläser in der Hand, die vier letzten Gäste hinter Elsa herein. Hanse Luis, der Schulze Max, Dulle und Herr Seehahn. Durch die Tür vom Hausgang her zogen Josef, Johann, Niklaus und der Großvater ein. Zuletzt Mina, die Prinzessin und die Mutter, sie kamen aus der Küche.

Immer an Weihnachten trug Herr Seehahn am grünen Revers seiner gelblichen Trachtenjacke den Päpstlichen Hausorden, den er bekommen hatte, weil er als Marinerevolutionär in München zum päpstlichen Nuntius, den er hätte gefangen nehmen sollen, gesagt hatte: Eminenz, wenn Sie mit mir kommen, sind Sie verhaftet, wenn Sie die Hintertür nehmen, sind Sie mir entkommen.

Wasserburg/Bodensee

Dulle war wohl von allen am weitesten von seiner Heimat entfernt. Dulle war aus einem Ort, dessen Name in Johanns Ohren immer klang, als wolle man sich über Dulle lustig machen. Niemals hätte Johann in Dulles Gegenwart diesen Namen auszusprechen gewagt. Buxtehude. Dulle sprach anders als jeder andere im Dorf. Er hauste in einem Verschlag bei Frau Siegel, droben in Hochsträß, direkt an der frisch geteerten Landstraße. Dulle war Tag und Nacht unterwegs. Als Fischerknecht und als Durstiger. Oder hinter Fräulein Agnes’ Katzen her. Adolf behauptete, Dulles Verschlag, Wände und Decke, sei tapeziert mit Geldscheinen aus der Inflation. Hunderttausenderscheine, Scheine für Millionen, Milliarden, Billionen. Eine Zeitung habe, sagte Adolf, 1923 sechzehn Milliarden Mark gekostet. Immer wenn Johann von dieser Inflation etwas hörte, dachte er, das Land hat Fieber gehabt damals, 41 oder 42 Grad Fieber müssen das gewesen sein.

Der Schulte Max war nirgendwo her beziehungsweise überall her, eben vom Zirkus. Er nächtigte im Dachboden des von zugezogenen Fischerfamilien bewohnten Gemeindehauses, und zwar auf einem Lager aus alten Netzen.

Verglichen mit den Schlafstätten von Dulle und Schulze Max, war das, was Niklaus droben im Dachboden als Schlafstatt hatte, eine tolle Bleibe. Niklaus hatte ein richtiges Bett so mit alten Schränken umstellt, daß eine Art Zimmer entstand. Niklaus war für Johann interessant geworden, als Johann ihm einmal zugeschaut hatte, wie er seine Fußlappen über und um seine Füße schlug und dann in seine Schnürstiefel schlüpfte. Die Socken, die Mina ein Jahr zuvor für Niklaus gestrickt und unter den Tannenbaum gelegt hatte, hatte er einfach liegen lassen. Als Mina sie ihm in die Hand drückten wollte, hatte er den Kopf geschüttelt. Niklaus sprach selten. Mit Nicken, Kopfschütteln und Handbewegungen konnte er, was er sagen wollte, sagen. Wenn er meldete, daß Freifrau Ereolina von Molkenbuer drei Zentner Schwelkoks und Fräulein Hoppe-Seyler zwei Zentner Anthrazit bestellt hatten, merkte man, daß er keinerlei Sprachfehler hatte. Er sprach nicht gern. Sprechen war nicht seine Sache.

Unterm Christbaum lagen für Josef und Johann hellgraue Norwegerpullover, fast weiß und doch nicht weiß, silbergrau eigentlich. Mit graublauen, ein bißchen erhabenen Streifen. Aber auf der Brust zwei sehr verschiedene Muster, eine Verwechslung war zum Glück ausgeschlossen. Josef zog seinen sofort an. Johann hätte seinen lieber unterm Christbaum gesehen, aber weil alle sagten, er solle seinen doch auch probieren, zog er ihn an. Johann mußte, als er spürte, wie ihn dieser Pullover faßte, schnell hinaus, so tun, als müsse er auf den Abort, aber er mußte vor den Spiegel der Garderobe im Hausgang, er mußte sich sehen. Und er sah sich, silbergrau, fast bläulich erhabene Streifen, auf der Brust in einem Kreis ein Wappen. Königssohn, dachte er. Als er wieder hineinging, konnte er nicht ganz verbergen, wie er sich fühlte. Mina merkte es. Der steht dir aber, sagte sie.

Dieser Pullover waren aus dem Allgäu gekommen, von Anselm, dem Vetter genannten Großonkel.

Zu jedem Geschenk gehörte ein Suppenteller voller Plätzchen, Butter-S, Elisen, Lebkuchen, Springerle, Zimtsterne, Spitzbuben, Makronen.

Die Mutter sagte zu Mina hin und meinte die Plätzchen: Ich könnt ’s nicht. Johann nickte heftig, bis Mina bemerkte, daß er heftig nickte. Er hatte letztes Jahr von Adolfs Plätzchenteller probieren dürfen. Bruggers Plätzchen schmeckten alle gleich, von Minas Plätzchen hatte jede Sorte einen ganz eigenen Geschmack, und doch schmeckten alle zusammen so, wie nur Minas Plätzchen schmecken konnten. In diesem Jahr lag neben Johanns und Josefs Teller etwas in Silberpapier eingewickeltes Längliches, und aus dem Silberpapier ragte ein Fähnchen, darauf war ein rotes Herz gemalt und hinter dem Herz stand –lich. Über dem Herz stand: Die Prinzessin grüßt. Josef probierte schon, als Johann noch am Auspacken war. Nougat, sagte er. Richtig, sagte die Prinzessin. Toll, sagte Josef. Johann wickelte seine Nougatstange unangebissen wieder ein.

Für Mina und Elsa gab es Seidenstrümpfe. Beide sagten, daß das doch nicht nötig gewesen wäre. Für Mina lag noch ein Sparbuch dabei. Mit einem kleinen Samen, sagte die Mutter. Bei der Bezirkssparkasse. Die gehe nicht kaputt. Mina sagte kopfschüttelnd: O Frau, vergelt ’s Gott! Für die Prinzessin lagen mehrere Wollstränge in Blau unter dem Baum. Sie nahm sie an sich, salutierte wie ein nachlässiger Soldat mit dem Zeigefinger von der Schläfe weg und sagte: Richtig. Und zu Johann hin: Du weißt, was dir bevorsteht. Johann sagte auch: Richtig! Und grüßte zurück, wie sie gegrüßt hatte. Er mußte immer abends die Hände in die Wollstränge stecken, die die Prinzessin dann, damit sie nachher stricken konnte, zum Knäuel aufwickelte. In jeder feien Minute strickte sie für ihren Moritz, den sie einmal im Monat in Ravensburg besuchen durfte; aber allein sein durfte sie nicht mit dem Einjährigen. Die Mutter des Siebzehnjährigen, der der Kindsvater war, saß dabei, solange die Prinzessin da war. Nach jedem Besuch erzählte die Prinzessin, wie die Mutter des Kindsvaters, die selber noch keine vierzig sei, sie keine Sekunde aus den Augen lasse, wenn sie ihren kleinen Moritz an sich drückte. Die Prinzessin, hieß es, sei einunddreißig. Sie hatte jedem etwas neben den Teller gelegt, und jedesmal hatte sie ihr Herz-Fähnchen dazugesteckt. Für Elsa eine weiße Leinenserviette, in die die Prinzessin mit rotem Garn ein sich aufbäumendes Pferd gestickt hatte. Für Mina zwei Topflappen, in einem ein großes rotes A, im anderen ein ebenso großes M. Für Niklaus hatte sie an zwei Fußlappen schöne Ränder gehäkelt. Für Herrn Seehahn gab es ein winziges Fläschchen Eierlikör. Für die Mutter einen Steckkamm. Für den Vater ein Säckchen mit Lavendelblüten. Für den Großvater ein elfenbeinernes Schnupftabakdöschen. Johann, sagte sie, geh, bring ’s dem Großvater und sag ihm, Ludwig der Zweite, habe es dem Urgroßvater der Prinzessin geschenkt, weil der den König, als er sich bei der Jagd in den Kerschenbaumschen Wäldern den Fuß verstaucht hatte, selber auf dem Rücken bis ins Schloß getragen hat. Alle klatschten, die Prinzessin, die heute einen wild geschminkten Mund hatte, verneigte sich nach allen Seiten. Johann hätte am liebsten nur noch die Prinzessin angeschaut. Dieser riesige Mund paßte so gut unter das verrutschte Glasauge. Für Niklaus lagen wieder ein Paar Socken und ein Päckchen Stumpen unterm Baum. Die Socken, es waren die vom vorigen Jahr, ließ er auch diesmal liegen. Die Stumpen, den Teller voller Plätzchen und die umhäkelten Fußlappen trug er zu seinem Platz. Im Vorbeigehen sagte er zur Prinzessin hin: Du bist so eine. Sie salutierte und sagte: Richtig. Dann ging er noch einmal zurück, zum Vater hin, zur Mutter hin und bedankte sich mit einem Händedruck. Aber er schaute beim Händedruck weder den Vater noch die Mutter an. Schon als er seine Rechte, der der Daumen fehlte, hinreichte, sah er weg. Ja, er drehte sich fast weg, reichte die Hand zur Seite hin, fast schon nach hinten. Und das nicht aus Nachlässigkeit, das sah man. Er wollte denen, die ihn beschenkt hatten, nicht in die Augen sehen müssen. Niklaus setzte sich wieder zu seinem Glas Bier. Nur an Weihnachten, an Ostern und am Nikolaustag trank er das Bier aus dem Glas, sonst aus der Flasche. Johann sah und hörte gern zu, wenn Niklaus die Flasche steil auf der Unterlippe ansetzte und mit einem seufzenden Geräusch leertrank. Wie uninteressant war dagegen das Trinken aus dem Glas. Niklaus setzte auch jede Flasche, die angeblich leer aus dem Lokal zurückkam und hinter dem Haus im Bierständer auf das Brauereiauto wartete, noch einmal auf seinen Mund; er wollte nichts verkommen lassen.

Der Vater ging zum Tannenbaum und holte ein blaues Päckchen, golden verschnürt, gab es der Mutter. Sie schüttelte den Kopf, er sagte: Jetzt mach ’s doch zuerst einmal auf. Eine indische Seife kam heraus. Und Ohrringe, große, schwarz glänzende Tropfen. Sie schüttelte wieder den Kopf, wenn auch langsamer als vorher. Für den Großvater lag ein Nachthemd unter dem Baum. Er sagte zu Johann, der es ihm bringen wollte: Laß es nur liegen. Als letzter packte der Vater sein Geschenk aus. Lederne Fingerhandschuhe, Glacéhandschuhe, sagte der Vater. Damit könnte man fast Klavier spielen, sagte er zu Josef. Und zog sie an und ging ans Klavier und ließ schnell eine Musikmischung aus Weihnachtsliedern aufrauschen. Hanse Luis klatschte Beifall mit gebogenen Händen; das war, weil er seine verkrümmten Handflächen nicht gegen einander schlagen konnte, ein lautloser Beifall. Er sagte: Was ischt da dagege dia Musi vu wittr her. Er konnte sich darauf verlassen, daß jeder im Nebenzimmer wußte, Radio hieß bei Hanse Luis Musik von weiter her. Dann stand er auf und sagte, bevor er hier auch noch in eine Bescherung verwickelt werde, gehe er lieber. Es schneie immer noch, er solle bloß Obacht geben, daß er nicht noch falle, sagte die Mutter. Kui Sorg, Augusta, sagte er, an guate Stolperer fallt it glei. Er legte einen gebogenen Zeigefinger an sein grünes, randloses, nach oben eng zulaufendes Jägerhütchen, das er nie und nirgends abnahm, knickte sogar ein bißchen tänzerisch ein und ging. Unter der Tür drehte er sich noch einmal um, hob die Hand und sagte, er habe bloß Angst, er sei, wenn es jetzt Mode werde, statt Grüßgott zu sagen, die Hand hinauszustrecken, dumm dran, weil er so krumme Pratzen habe, daß es aussehe wie die Faust von denen, die Heil Moskau schrieen. Und dann in seiner Art Hochdeutsch: Ich sehe Kalamitäten voraus, Volksgenossen. Und wieder in seiner Sprache: Der sell hot g’seet: No it hudla, wenn ’s a ’s Sterbe goht. Und mit Gutnacht miteinand war er draußen, bevor ihm die Prinzessin, was er gesagt hatte, in Hochdeutsch zurückgeben konnte. Elsa rannte ihm nach, um ihm die Haustür aufzuschließen. Dann hörte man sie schrill schreien: Nicht, Luis … jetzt komm, Luis, laß doch, Luiiiis! Als sie zurückkam, lachte sie. Der hat sie einreiben wollen. Johann staunte. Daß Adolf, Paul, Ludwig, Guido, der eine Helmut und der andere und er selber die Mädchen mit Schnee einrieben, sobald Schnee gefallen war, war klar; nichts schöner, als Irmgard, Trudl oder Gretel in den Schnee zu legen und ihnen eine Hand voll Schnee im Gesicht zu zerreiben. Die Mädchen gaben dann Töne von sich wie sonst nie. Aber daß man so eine Riesige wie Elsa auch einreiben konnte! Hanse Luis war einen Kopf kleiner als Elsa. Kaum war Elsa da, erschien Hanse Luis noch einmal in der Tür und sagte: Dr sell hot g’sell, a Wieb schla, isch kui Kunscht, abe a Wieb it schla, desch a Kunscht. Und tänzelte auf seine Art und war fort. Die Prinzessin schrie ihm schrill, wie gequält nach: Ein Weib schlagen, ist keine Kunst, aber ein Weib nicht schlagen, das ist eine Kunst. Der Dulle hob sein Glas und sagte, Ohne dir, Prinzessin, tät ich mir hier im Ausland fühlen.

Die Bescherung war vorbei, jetzt also die Lieder. Schon nach dem ersten Lied, Oh du fröhliche, oh du selige, sagte der Schulze Max zur Mutter, die beiden Buben könnten auftreten. Der Vater hatte die Glacéhandschuhe wieder ausgezogen und spielte immer aufwendigere Begleitungen. Nach Kommet ihr Hirten, ihr Männer und Frau’n sagte der Schulte Max zu Dulle: Auf diese Musikanten trinken wir noch ein Glas. Wenn du einverstanden bist. Dulle nickte heftig. Dann gehen wir aber, sagte der Schulze Max. Dulle nickte wieder. Wieder heftig. Der Schulze Max: Wir wollen überhaupt nicht anwachsen hier. Dulle schüttelte den Kopf ganz heftig. Der Schulze Max: Heute schon gar nicht, stimmt ’s? Dulle nickte so heftig, daß er danach seine Brille wieder an ihren Platz hinaufschieben mußte. Der Schulze Max: Auch eine Wirtsfamilie will einmal unter sich sein, stimmt ’s? Dulle nickte wieder, hielt aber, damit er heftig genug nicken konnte, schon während des Nickens die Brille fest. Der Schulze Max: Und wann möchte, ja, wann muß eine Familie ganz unter sich sein, wenn nicht am Heiligen Abend, stimmt ’s? Dulle nahm, daß er noch heftiger als zuvor nicken konnte, seine Brille ab. Der Schulze Max: Und was haben wir heute? Dulle, mit einer unglaublich zarten, fast nur noch hauchenden Stimme: Heilichabend. Der Schulze Max, sehr ernst: Daraus ergibt sich, sehr, sehr verehrte Frau Wirtin, daß das nächste Glas wirklich das letzte ist, das letzte sein muß.

aus: Martin Walser: Ein springender Brunnen (suhrkamp taschenbuch 3100 – 1. Auflage 2000 – S. 92- 96, S. 98-101)

100. Geburtstag von Albert Camus

    „Um einer angeborenen Gleichgültigkeit die Waage zu halten, wurde ich halbwegs zwischen das Elend und die Sonne gestellt. Das Elend hinderte mich zu glauben, dass alles unter der Sonne und in der Geschichte gut sei; die Sonne lehrte mich, dass die Geschichte nicht alles ist.“
    Albert Camus

Gut (oder nicht gut), ich habe es nicht „auf dem Zettel“ gehabt: Heute ist ein für mich eigentlich besonderer Jahrestag. Vor 100 Jahren wurde in Mondovi, Französisch-Nordafrika, heute Dréan, Algerien, Albert Camus geboren. Er war ein Schriftsteller und vor allem Philosoph, der nachhaltig mein Denken beeinflusst hat. So ist es nicht verwunderlich, wenn ich Albert Camus hier öfter erwähnt habe, mich zu ihm und seine Werke geäußert habe.

Albert Camus

Welche Bedeutung Camus auch heute noch für viele Menschen hat, ist an der Resonanz abzulesen, die der heutige Jahrestag in vielen hervorruft. Über Twitter habe ich einige dieser Äußerungen festgehalten und möchte diese – ohne weitere Kommentare von mir – zum Aufruf bereitstellen:

Klaus Höppner, ein Orient-Romantiker

In jungen Jahren habe ich wie viele andere Jungen Karl May gelesen. Und wie schon geschrieben, interessierten mich die Orient-Abenteuer mehr als die Abenteuer von Winnetou und Co. im Wilden Westen.

Wüsten, besonders Sandwüsten, üben eine ungewöhnliche Faszination aus. Wer zur Abendstunde, wenn die Sonne untergeht, über eine Sanddüne wandert, erlebt einen Wechsel der Farben, wie man diesen sonst nirgendwo erlebt. Strahlt der rote Sand zunächst noch im knalligstem Rot, so wechselt dieser urplötzlich in einen grau-roten Farbton, so als stürbe die Wüste. So schrieb ich einmal, um zu begründen, warum ich die Wüste zu meinen Lieblingsplätzen zähle.

In der Wochenendausgabe unseres Wochenblattes Nordheide erschien nun ein Bericht über Klaus Höppner, der „auf seinen ausgedehnten Reisen nach Afrika und Asien … insgesamt 7.000 Kilometer … während verschiedener Reisen in den Jahren 1976 bis 1987 meist auf dem Kamelrücken zurückgelegt [hat]. Er durchquerte die Thar-Wüste in Indien und die Nubische Wüste in Ägypten, begleitete die Salzkarawanen der Tuareg im Niger, trieb Kamele vom Sudan nach Ägypten und fuhr in Mali mit einer Piroge auf dem Niger bis Timbuktu.“

Schon als Kind habe ihn diese fremde Welt fasziniert. Das kann ich also sehr gut nachempfinden. Und es ist bereits viele Jahr her, meine Söhne waren noch klein, da zeigte uns Klaus an einem längeren Nachmittag einen kleinen Teil seiner Bilder (Dias) von seinen Reisen. Er hat dabei ein seltenes Talent die endlos vielen Geschichten und Anekdoten auf spannende und plastische Weise zu erzählen.

Von einer dieser Reisen mit einer Kamelkarawane durch den Sudan hat er auch vor langer Zeit ein Buch veröffentlicht: Cowboys der Wüste. Im Klappentext dazu heißt es: Wie die Cowboys im Wilden Westen treiben die Kameltreiber ihre Kamelkarawane quer durch den Sudan nach Ägypten. Klaus Höppner war einer von ihnen.Während des 1000 km langen Rittes lernte er Hitze und Kälte, Hunger und Krankheit kennen und überlebte nur, weil er sich den Bedingungen der Karawane total unterwarf. Sein fesselnder Bericht vermittelt einen lebendigen Eindruck von Land und Leuten und beweist, daß Reisen auch heute noch ein Abenteuer sein kann.

    Klaus Höppner: Cowboys der Wüste

So ganz glücklich ist Klaus Höppner nicht mit dem Bericht in der Zeitung. Zum einen sind es nicht Hunderte von Dias, die er auf seinen Reisen zwischen 1976 bis 1987 gemacht hat, sondern über 15 Tausend. Zum anderen hatte er neben dem im Bericht Erwähnten von zwei Reisen erzählt, die ihn besonders beeindruckt hatten. Davon leider kein Wort.

7.000 Kilometer durch die Wüste: Unterwegs mit der Salzkarawane im Niger © Klaus Höppner
Unterwegs mit der Salzkarawane im Niger © Klaus Höppner

Klaus Höppner ist nun dabei, diese vielen Dias zu sichten und zu Fotobüchern zu seinem ‚eigenen Vergnügen’ zusammenzustellen. Geplant sind 24 Bücher; sieben davon, beginnend mit den besonders außergewöhnlichsten Reisen, sind bereits fertig. Es ist eine mühevolle Arbeit. Viele Dias müssen vom Staub gefreit und dann am Computer nach dem Scannen aufarbeitet werden. Leider haben die Dias im Laufe der Jahre auch farblich gelitten und sind blaustichig geworden. Während der Reisen hat er natürlich Tagebuch geschrieben. Abends am Lagerfeuer schrieb er, das Büchlein auf den Knien gelehnt, seine Erlebnisse des Tages nieder, manchmal nur Stichworte, denn viel Zeit blieb ihm nicht zum Schreiben. Nach den vielen Jahren ist es heute ein besonderes Problem, das damals Niedergeschriebene wieder zu entziffern.

Klaus Höppner ist ein eher stiller Typ. Aber wenn er auf seine Reisen zu sprechen kommt, dann blüht er auf und erzählt mit einer Lebendigkeit, als wäre das Geschehene erst vor kurzer Zeit passiert. Es muss ein kaum zu beschreibendes Gefühl sein, wenn in einem die für einen Europäer ungewöhnlichen Erlebnisse wieder wach werden. Wer einmal die Wüste ‚erlebt’ hat, den lässt sie das weitere Leben nicht mehr los.

Umberto Eco: Der Name der Rose

    Der Antichrist entspringt […] aus der Frömmigkeit selbst, aus der fanatischen Liebe zu Gott oder zur Wahrheit, so wie der Häretiker aus dem Heiligen und der Besessene aus dem Seher entspringen. Fürchte die Wahrheitspropheten […] und fürchte vor allem jene, die bereit sind, für die Wahrheit zu sterben: gewöhnlich lassen sie viele andere mit sich sterben, oft bereits vor sich, manchmal für sich.
    (Umberto Eco: Der Name der Rose, S. 624)

Am letzten Wochenende hatte ich zum (erneuten) Lesen eingeladen, zu Umberto Ecos Roman Der Name der Rose. Und zuvor hatte ich versucht den Appetit dadurch anzuregen, in dem ich ‚erste Details’ (Die Bibliothek als Labyrinth) aus diesem Roman, der bekanntlich im Spätmittelalter spielt, offen zu legen.

Nun, Der Rose der Rose erschien 1980 im italienischen Original als „Il nome della rosa“ und 1982 in der kongenialen deutschen Übersetzung von Burkhart Kroeber.

Das mehrschichtige Werk, Epochenporträt, philosophisches Essay und der äußeren Form nach ein breit angelegter historischer Kriminalroman, der anno 1327 in einer italienischen Benediktinerabtei spielt, entwirft in der Substanz ein lebendiges Bild des späten Mittelalters mit seinen politischen, sozialen und religiösen Konflikten. Es ist zudem durchsetzt mit zahlreichen Anspielungen auf die Gegenwart, besonders auf das Italien der 1970er Jahre. Mit seiner „Nachschrift zum Namen der Rose“ versuchte Eco, auch den in Mediävistik, Semiotik oder postmoderner Kultur weniger bewanderten Lesern einen Zugang zu den tieferen Schichten des Buches zu eröffnen.

Anno Domini 1327, letzte Novemberwoche, in einer reichen Cluniazenserabtei an den Hängen des Apennin („zwischen Lerici und La Turbie“): Bruder William von Baskerville, gelehrter Franziskaner aus England, kommt als Sonderbotschafter des Kaisers (Ludwig IV. der Bayer) in delikater Mission: Er soll ein hochpolitisches Treffen zwischen der Ketzerei verdächtigen Minoriten (Armutsstreit) und Abgesandten des Papstes (Papst Johannes XII.) organisieren. Doch bald erweist sich sein Aufenthalt in der Abtei als apokalyptische Schreckenszeit: In den sieben Tagen und Nächten werden William und sein Gehilfe Adson Zeugen der wundersamsten und für eine Abtei höchst befremdlichen Begebenheiten: Ein Mönch ist im Schweineblut-Bottich ertrunken, ein anderer aus dem Fenster gesprungen, weil er die Liebe eines Mitbruders nicht ertrug, ein dritter liegt tot im Badehaus. Gerüchte schwirren durch die Abtei, und nicht nur der Abt hat etwas zu verbergen. Überall sind fromme Spurenverwischer und Vertuscher am Werk. William, der Exinquisitor, wird vom Untersuchungsfieber gepackt: Weit mehr als der Streit zwischen Kaiser und Papst interessiert ihn die Entlarvung des Mörders. Er sammelt Indizien, entziffert geheime Schriften, Zeichen und verschlüsselte Manuskripte, erforscht ein gespenstisches Labyrinth, dringt immer tiefer ein in die Geheimnisse der Abtei, doch als er den Mörder schließlich findet, ist es zu spät. Da die Welt keine Ordnung hat, kann die Klärung des Falles nur eine scheinbare (literarische) Ordnung vorspiegeln, jedenfalls nicht verhindern, daß trotz der Aufklärung (oder als ihre Folge?) am siebten Tage, wie geweissagt, der Antichrist kommt mit Feuer und Rauch, und »dank allzuviel Tugend siegen die Kräfte der Hölle«. Wer ein Auge blinzelnd zukneift und in das Buch schaut wie in einen fernen Spiegel, wird die Mönchskutten und Kardinalshüte aus Williams Tagen leicht mit den Parteiabzeichen und Obristenuniformen neueren Datums verwechseln.

Die Cluniazenser-Abtei
Die Cluniazenser-Abtei

Von der Kirche zum Aedificium führt ein Geheimgang. Das Aedificium ist das Hauptgebäude. Es beinhaltet eine Küche, einen Schreibsaal und die Bibliothek. Es wird an allen Ecken mit einem Turm abgeschlossen. Die Schlafsäle der Mönche befinden sich gleich neben der Kirche. Wichtig sind auch noch der Schweinestall, das Hospital, und das Badehaus. Zu der Bibliothek ist zu sagen, daß sie wie ein Labyrinth aufgebaut ist. Ein Raum, das Finis Africae ist nur durch einen Geheimgang zu erreichen.

Nicht umsonst ist dem Roman ein Personenverzeichnis beigelegt. Ich habe es leicht ergänzt. Damit behält man die Personen gut im Überblick. Die Reihenfolge der ‚Todesfälle’ habe ich auch eingetragen (die in Klammern ab Nr. 7 sterben ‚erst’ nach der ‚Auflösung’):

„Dramatis Personae“  
William von Baskerville Franziskaner-Mönch
Adson von Melk Benediktiner-Novize, Williams Gehilfe
   
Remigius von Varagine Kellermeister (Cellerar)/Wirtschaftsverwalter
Abbo von Fossanova Abt, einst Leichenträger † 6
Salvatore armer Teufel, Sprachgenie (gemischte Redensweise)
Ubertin von Casale Cluniazenser, Mystiker, Freund Williams
Michael von Cesena franziskanischer Ordensgeneral, kaiserliche Legation
Severin von St. Emmeram Botanikus (Kräuter- und Giftforscher) † 4
Malachias von Hildesheim Bibliothekar † 5
Berengar von Arundel Gehilfe des Bibliothekars, Verführer † 3
Venantius von Salvemec Übersetzer aus dem Griechischen/Arabischen, Aristoteles-Experte † 2
Jorge von Burgos blinder Greis, Prophet († 7)
Benno von Uppsala Rhetorik/Grammatik, Büchernarr, später Gehilfe des Bibliothekars († 8 )
Aymarus von Alessandria Kopist, Intrigant
Nicolas von Morimond Glaser, später Cellarar brav
Bernard Gui Ketzer- und Hexenjäger, franz. Inquisitor, Befehlshaber der päpstliche Legation (Bernhardus Guidouis)
Adelmus von Otranto Monstermaler † 1
Alinardus von Grottaferrata Greis, der älteste Mönch († 9)
Pacificus von Tivoli Kenner der heidnischen Dichter, Intrigant
Pietro von Sant’Albano Petrus) Geschichte des Ketzertums, Intrigant
   
sonstige (vergl. S. 99):  
Patrick von Clonmacnois  
Rhabanvon Toledo  
Magnus von lona  
Waldo von Herford  
   
und weitere fleißige Mönche, Mindere Brüder, päpstliche Legaten, französische Bogenschützen, tote und lebendige Ketzer, einfache Leute, Volk – Fra Dolcino – toter, noch sehr lebendiger Ketzerführer – und das Mädchen – namenlos, vielleicht die Rose
   
Päpstliche Legation:  
Bertrand del Poggetto Kardinal
Lorenz Decoalcon Bischof von Padua
Meister Jean d’Anneaux  
Jean de Baune Bischof von Arborea, Dominikaner
   
Kaiserliche Legation:  
William Alnwick  
Arnold von Aquitanien  
Hugo von Novocastrum (Newcastle)
Hieronymus Bischof von Kaffa
Berengar Talloni  
Bonagratia von Bergamo  

Apropos Krimi: In der Nachschrift zum >Namen der Rose< (dtv 10552 - Deutscher Taschenbuch Verlag, April 1986) schreibt Eco unter der Überschrift: Die Metaphysik des Kriminalromans (S. 63 f.) u.a.: Nicht zufällig fängt das Buch an, als ob es ein Krimi wäre (und täuscht den naiven Leser auch weiterhin, bis zum Schluß, weshalb er womöglich gar nicht merkt, daß es sich hier um einen Krimi handelt, in dem recht wenig aufgeklärt wird und der Detektiv am Ende scheitert). Ich glaube, daß Krimis den Leuten nicht darum gefallen, weil es in ihnen Mord und Totschlag gibt; auch nicht darum, weil sie den Triumph der (intellektuellen, sozialen, rechtlichen und moralischen) Ordnung über die Unordnung feiern. Sondern weil der Kriminalroman eine Konjektur-Geschichte [Vermutung] im Reinzustand darstellt. Eine Geschichte, in der es um das Vermuten geht, um das Abenteuer der Mutmaßung, um das Wagnis der Aufstellung von Hypothesen angesichts eines scheinbar unerklärlichen Tatbestandes, eines dunklen Sachverhalts oder mysteriösen Befundes – wie in einer ärztlichen Diagnose, einer wissenschaftlichen Forschung oder auch einer metaphysischen Fragestellung. Denn wie der ermittelnde Detektiv gehen auch der Arzt, der Forscher, der Physiker und der Metaphysiker durch Konjekturen vor, das heißt durch Mutmaßungen und Vermutungen über den Grund der Sache, durch mehr oder minder kühne Annahmen, die sie dann schrittweise prüfen.

Letzten Endes ist die Grundlage aller Philosophie (und jeder Psychoanalyse) die gleiche wie die Grundfrage des Kriminalromans: Wer ist der Schuldige? Um es zu wissen (um zu glauben, man wisse es), muß man annehmen, daß alle Tatsachen eine Logik haben, nämlich die Logik, die ihnen der Schuldige auferlegt hat. Jede Ermittlungs- und Konjekturgeschichte, jede Story von Aufklärung und Vermutung erzählt uns etwas, dem wir seit jeher beiwohnen (pseudoheideggerisches Zitat). Damit ist klar, warum sich der Hauptstrang meiner Geschichte (wer ist der Mörder?) in so viele Nebenstränge verzweigt: in lauter Geschichten von anderen Konjekturen, die alle um die Struktur der Vermutung als solcher kreisen [usw.]

Was ist sonst noch zu diesem Roman zu sagen? Es ist diese Mischung aus Kriminalroman, Geschichtsunterricht und philosophisch-theologischem Exkurs, die mir gefallen hat. Und da ich ein ganz spezielles Verhältnis zu Büchern habe (nicht umsonst habe ich Bibliothekswesen studiert), finde ich diesen Gedanken, dass ein einziges Buch so etwas wie eine Kulturrevolution auslösen könnte, höchst bemerkenswert. Und die Verstellung von einem Labyrinth im Zusammenhang mit einer Bibliothek hat auch seinen besonderen Reiz.