Kategorie-Archiv: Geistesblitze

Vom Denken und Dichten – Von Philosophie, Wissenschaft bis Religion

Sprachen in Gefahr

„Manuel Segovia lebt in einem kleinen Dorf im mexikanischen Bundesstaat Tabasco. Seine Muttersprache ist Ayapaneco, eine alte regionale Sprache. Doch mit dem einzigen Menschen, der außer ihm noch Ayapaneco spricht, hat sich Segovia überworfen. Die beiden alten Männer leben nur fünfhundert Meter entfernt im selben Dorf. Doch seit Jahren haben sie miteinander kein Wort mehr gesprochen.“ (Quelle: zdf.de – von Alfred Krüger)

Sprachen und Dialekte haben es mir angetan. Nicht umsonst komme ich immer wieder auf dieses Thema in diesem Blog zurück. Ja, ich liebe diese sprachliche wie kulturelle Vielfalt und empfinde es als schmerzlich, wenn z:B. auch im Zuge der Globalisierung Sprachen und damit kulturelle Identifizierungen verloren gehen. In meinem Beitrag Bedrohte Sprachen in Deutschland habe ich beschrieben, dass solches auch vor unserer Haustür geschieht. Bleiben uns am Ende wirklich nur noch die rund 20 Großsprachen (wie Chinesisch, Englisch, Spanisch oder Portugiesisch)?

„Statistisch gesehen stirbt alle vierzehn Tage eine Sprache, hat die US-amerikanische National Geographic Society errechnet. Besonders gefährdet seien die Sprachen kleiner ethnischer Gruppen in Lateinamerika und in der asiatisch-pazifischen Region, heißt es im UNESCO-Atlas der bedrohten Sprachen. Aber auch in Deutschland seien dreizehn Minderheiten- und Regionalsprachen gefährdet – darunter Plattdeutsch, Nordfriesisch und Sorbisch.“

„Linguisten und Ethnologen bemühen sich weltweit, gefährdete Sprachen für die Nachwelt zu retten – so etwa im Rahmen der Förderinitiative ‚Dokumentation bedrohter Sprachen’ (DobeS), einer Art digitaler Arche Noah für bedrohte Sprachen.“

„Über einhundert gefährdete Sprachen hat DobeS bisher für die Nachwelt dokumentiert – schriftlich sowie als Audio- und Videodateien. Das digitale Archiv der Initiative befindet sich im Max-Planck-Institut für Psycholinguistik im niederländischen Nimwegen. Über die Projektwebseite ist diese Arche Noah für bedrohte Sprachen für alle Interessierten zugänglich.“

Endangered Languages – Bedrohte Sprachen

„Es gibt eine Reihe weiterer Projekte wie zum Beispiel das Enduring Voices Project (noch nicht sehr weit gediehen) der US-amerikanischen National Geographic Society“

„Auch das Suchmaschinenunternehmen Google betreibt eine Arche Noah für bedrohte Sprachen. Auf der Webseite Endangered Languages werden zurzeit mehr als 3.000 Sprachen mit Sprachbeispielen oder Videos dokumentiert (ist auch noch stark rudimentär und auch fehlerbehaftet). Auf einer Weltkarte wird angezeigt, welche Sprachen in welchen Ländern zurzeit akut bedroht sind.“

Übrigens: „Mindestens 21 europäische Sprachen – darunter Isländisch, Litauisch und Maltesisch – seien vom digitalen Aussterben bedroht, so das Ergebnis einer groß angelegten Untersuchung aus dem vergangenen Jahr.“

Willst Lakritz? Otto Kopka ist tot

Es gibt nicht viele Menschen, vor denen ich wirklich Hochachtung habe. Jetzt ist so ein Mensch, Otto Kopka, letzte Woche, am 23. Mai, im 82. Lebensjahr verstorben. Bevor Otto Kopka mit seiner Frau Christa 1995 wie ich mit meiner Familie nach Tostedt zog, war er 30 Jahre als Pastor in Marschacht an der Elbe tätig. In Tostedt verbrachte er seinen Lebensabend.

Otto Kopka (1931-2013)

Als gute Nachbarn hatten wir oft genug Kontakt miteinander und wurden auch öfter von Otto und seiner Frau, nach deren Tod von ihm und seiner Lebensgefährtin, zum Kaffee eingeladen. Bei den anregenden Gesprächen über „Gott und die Welt“ verging die Zeit wie im Fluge. Da sowohl mein Vater wie auch der Vater meiner Frau aus Ostpreußen stammten und Otto Kopka ebenfalls in Masuren 1931 geboren wurde, so haben wir auch über Flucht und Vertreibung während des 2. Weltkrieges und danach gesprochen (siehe auch: Wie konnte es geschehen?).

Wir sprachen auch über die zwischen Ende 1989 und Mai 1991 verstärkt aufgetretenen Leukämie-Erkrankungen in der Samtgemeinde Elbmarsch (8.000 Einwohner), zu der die Gemeinde Marschacht gehört. Fünf Kinder zwischen einem und neun Jahren sowie ein junger Erwachsener waren erkrankt. Die Samtgemeinde Elbmarsch liegt im Urstromtal der Elbe. Das gegenüberliegende Elbufer, an dem das AKW Krümmel liegt, steigt bis zu 70 Metern steil an. Die Krankheitsfälle traten alle entlang der Elbe auf niedersächsischer Seite auf, fünf direkt gegenüber dem Atomkraftwerk Krümmel, in dessen Nachbarschaft sich einer der ältesten deutschen Kernforschungsreaktoren befindet (siehe hierzu: Bürgerinitiative gegen Leukämie in der Elbmarsch – Buchbeitrag: Die Leukämie in der Elbmarsch). Otto Kopka, damals noch Pastor im Amt, traute den hoffnungslos an Blutkrebs erkrankten Sönke und seine Verlobte Anke: „Anfang Oktober tritt er mit seiner Verlobten vor den Traualtar. Trauer und Glück in einem, Pastor Kopka spricht die Dinge so an, wie sie sind. Daß auch ihm die Stimme zeitweise versagt, ist nur zu verständlich. Auch wenn Sönke im Rollstuhl fährt – die Hochzeit wird im ‚Marschachter Hof’ gefeiert.“

Otto Kopka sang lange Jahre mit kraftvollem Bariton in der Johanneskantorei Tostedt und auch im Heidenauer Kirchenchor. Im Februar 2010 durfte ich mit meiner Frau ihn mit dem Chor und weiteren Mitwirkenden beim Oratorium Der Messias von Georg Friedrich Händel sehen und hören. Die Karten hatten wir von ihm.

    Pastorin Ruth Stalmann-Wendt mit Otto Kopka (Pastor i.R.)

Adventskonzert in der ev.-luth. Maria-Magdalena-Kirche Heidenau am 13.12.2010
Pastorin Ruth Stalmann-Wendt mit Otto Kopka (Pastor i.R.) – Quelle: Gemeindebrief der Kirchengemeinde Heidenau

Otto Kopka, der uns später das Du anbot, war ein aufrechter Christ, der sich vor keinen Karren spannen ließ, vor allem keinen kommunalpolitischen. Er war engagiert in Dingen, die ihn interessierten. So lernte er ausdauernd Polnisch, um mit der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Tostedts polnische Partnerstadt Lubasczów zu besuchen.

Zum Ende einer Begegnung mit ihm las Otto Kopka uns immer gern etwas vor. Was war da Näherliegendes als eine Erzählung aus Siegfried Lenz’ „So zärtlich wie Suleyken“:

… oder kratzten sich am Fuss oder am Bein.
Dann, nach angemessener Weile, erfolgte wieder etwas Ungewöhnliches. Joseph Gritzan langte in die Tasche, zog etwas Eingewickeltes heraus und sprach zu dem Mädchen Katharina Knack: «Willst», sprach er, «Lakritz?»

Thomas Mann & Zauberberg’sche Redensarten

Komme ich heute noch einmal auf Thomas Manns Roman Der Zauberberg zu sprechen. Ich bin in diesem Roman über viele so genannte Redensarten gestolpert, die, obwohl der Roman inzwischen 89 Jahre auf dem Buckel hat, überraschend aktuell sind, d.h. wir verstehen auch heute noch (meist) die eigentliche Bedeutung, die sich hinter einem saloppen Spruch verbirgt. Ich deutet es als ein positives Zeichen, das belegt, dass unser Wortschatz sich eher vermehrt als abnimmt.

So wühlt man sich durch den deutschen Wortschatz

Ich habe mir die Mühe gemacht, viele dieser Redenarten zu sammeln und hier aufzuführen. Wer vielleicht den einen oder anderen Sinn dann doch nicht verstehen sollte, dem sei die Website redensarten-index.de anempfohlen, die vielleicht das ‚Rätsel’ löst. Hier nach einem Stichwort sortiert die gefundenen Redensarten (die Seitenzahl bezieht sich auf die Taschenbuchausgabe Band 800, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, hier – 193. – 212. Tausend: Februar 1980):

Stichwort – Redensart
Affe – mich laust der Affe (S. 269)
ahnen – Du ahnst es nicht! (S. 315)
alles – Sein ein und alles gewesen sei (S. 686)
Angst – Kann einem angst und bange werden (S. 392)
aufgebrummt – Aufgebrummt (S. 62)
Augen – Dem gehen die Augen über (S. 652)
ausgespien – Er-ledigt …. und ausgespien (S. 597)
Biegen – denn nun geht es auf Biegen und Brechen (S. 640)
Biegen – auf Biegen und Brechen gehe[n] (S. 737)
Binsen – Geht in die Binsen (S. 372)
Binsen – zum Kuckuck gehen, in die Binsen oder vor die Hunde (S. 442)
Blatt – Das unbeschriebene Blatt (S. 40)
Blaue – ins Blaue hinein (S. 628)
Bock – Einen Bock geschossen (S. 662)
Buch – Wie es im Buche stand (S. 512/ S. 524)
dick – Es so dicke hat (S. 432)
dick – Trage dick … auf (S. 664)
Dinge – Den Dingen ihren Lauf lassen (S. 731)
Ehre – Ehre und Misere (S. 729)
ewig – Ewig und drei Tage (S. 18)
Federlesen – Kein Federlesen machen (S. 681)
Fersengeld – Fersengeld geben (S. 463)
Finger – Nicht den kleinen Finger reichen (S. 64)
Finger – Da man dem Teufel nicht den kleinen Finger reichen darf, ohne daß er die ganze Hand nimmt und den ganzen Menschen dazu … (S. 105)
Flinte – Flinte ins Korn werfen (S. 262)
Fuß – auf guten Fuß mit ihm stellen [S. 632)
Fuß – auf Kriegsfuß gestellt (S. 264)
Gedanken – Einen Gedanken nachgehangen (S. 202)
gehen – Wie geht’s, wie steht’s? (S. 387)
Glocke – An die große Glocke gehängt (S. 439)
Gnade – Gnade vor Recht ergehen [lassen] (S. 704)
Gras – Ins Gras beißen (S. 235)
Grund – Er redet … in Grund und Boden (S. 312)
Gurken – Sauregurkenzeit (S. 671)
Haare – Die Haare zu Berge steigen (S. 466)
haben – Hast du was kannst du [was] (S. 262)
Hafer – Stach ihn der Haber [Hafer] (S. 599)
Haufen – Über den Haufen werfen (S. 731)
Hehl – Sich Zwang antun … ein Hehl [daraus] machen (S. 252)
Herzen – Aus seinem Herzen eine Mördergrube machen (S. 251)
Herzen – ist mir ein Stein vom Herzen gefallen (S. 643)
Höhe – Das ist die Höhe! (S. 315)
holterdiepolter – holterdiepolter, über Stock und Stein (S. 269)
holterdiepolter – es geht nachgerade holterdiepolter! (S. 606)
Hund – Kein Hund … vom Ofen locken (S. 731)
Hundert – Vom Hundertsten ins Tausendste kommen (S. 551)
Hut – Auf Ihrer Hut sein (S. 541)
Kauf – In Kauf genommen (S. 285)
Kauf – nahm das in Kauf (S. 290)
Kauf – [etwas] in den Kauf nehmen (S. 615)
Kauf – in den Kauf nehmen (S. 632)
Klipp – Klipp und klar gesagt (S. 262)
Kohlen – Saß wie auf Kohlen (S. 680)
Kopf – Gleich mit dem Kopf durch die Wand (S. 453)
Kopf – Hals über Kopf! (S. 463)
Leber – Was ist dir über die Leber gelaufen? (S. 250)
leibt – Wie sie leibt und lebt (S. 272)
Licht – In einem völlig neuen Lichte erscheinen lassen (S. 251)
Löffeln – Mit Löffeln gegessen (S. 200)
Löwe – Gut gebrüllt, Löwe (S. 236)
lumpen – Sich denn lumpen lassen (S. 214)
Mann – Selbst ist der Mann (S. 441)
Mann – Manns genug (S. 553)
Mark – daß es einem durch Mark und Pfennig geht (S. 617)
Mund – Redete nach dem Munde (S. 377)
Münze – Für bare Münze nehmen (S. 731)
Nase – Drehen [einem] eine Nase (S. 499)
nichts – Mir nichts, dir nichts (S. 60)
nichts – Nichts für ungut! (S. 445)
Ohr – Floh ins Ohr gesetzt (S. 555)
Ohr – Sich die Nacht um die Ohren schlagen (S. 603)
Ohr – Über beide Ohren verliebt sein (S. 613)
Palme – Die Palme glauben reichen zu sollen (S. 165)
Panier – Haben das Panier ergriffen (S. 159)
Pasche – Aus der Pasche ziehen (S. 600)
peinlich – Berührte ihn peinlich (S. 167)
Posten – Auf dem Posten sein (S. 696)
Pudel – wie ein begossener Pudel! (S. 641)
Qual – Tantalusqualen (S. 159)
Rechnung – darin Rechnung tragen (S. 615)
Rockschoß – Hängt sich den Leuten nicht an die Rockschöße (S. 558)
Roß – Vom hohen Roß herunter ( S. 561)
Rücken – [etwas] den Rücken kehren (S. 263)
Schicksal – Dem Schicksal in die Speichen fallen (S. 86)
Schmiede – Vor die rechte Schmiede kommen (S. 159)
Schrot – Von anderem Schrot und Korn (S. 558)
Schürchen – Hatte … am Schnürchen (S.110)
Schweiß – Im Schweiße seines Angesichts (S. 321)
Schwulität – In großen Schwulitäten (S. 653)
Spatzen – Daß der Himmel billig den Spatzen zu überlassen sein (S. 168)
Spatzen – Pfiffen die Spatzen es von den Dächern (S. 549)
Spitz – Sich leicht einen kleinen Spitz oder Zopf daran trinken (S. 610)
Spott – Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen (S. 651)
Stange – Bleibe gleich bei der Stange (S. 529)
Tag – Frisch mit dem jungen Tage (S. 42)
Tasche – daß er uns in die Tasche steckt? (S. 626)
Taubenfüße – Nicht auf Taubenfüßen, so auf Adlersschwingen kommen (S. 167)
Tee – Abwarten und Tee trinken (S. 233)
Teufel – In’s Teufels Namen (S. 488)
Wahrheit – Der Wahrheit ins Auge sehen (S. 316)
Wasser – Mit allen Wassern … gewaschen (S. 683)
Weg – Ein Weg, den wir zum ersten Male gehen, ist bedeutend länger als derselbe, wenn wir ihn schon kennen (S. 68)
Weg – ging seines Weges wie ein Mann (S. 617)
Wein – Ihnen reinen Wein einschenken (S. 643)
Wort – Das Wort vom Munde genommen (S. 323)
Würfel – Die Würfel fielen (S. 438)
X – Ein X für ein U [vor-]machen (S. 564)
Zahn – Fühle … ein bisschen auf den Zahn (S. 541)
Zügel – Die Zügel schießen lassen (S. 341)

Soviel du brauchst

Seit gestern Mittwoch, den 1. Mai 2013, findet in Hamburg der 34. Deutsche Evangelische Kirchentag statt, der bis zum Sonntag, den 5. Mai, dauern wird. Der Kirchentag steht unter der Losung „Soviel du brauchst“ (2. Mose 16,18).

34. Deutscher Evangelischer Kirchentag in Hamburg 2013

Mir gefällt die Losung, das Motto. Es ist die Antwort auf viele unserer Fragen. Es hat etwas mit den Ressourcen zu tun, über die wir verfügen. Es hat etwas mit dem Konsum zu tun, dem wir jeden Tag erliegen. Es hat aber auch etwas mit Zuneigung, Verständnis, Freundschaft und Liebe zu tun. Jeder soll soviel haben, wie er braucht, wirklich braucht. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

siehe auch: Evangelischer Kirchentag in Köln (2007) — Per Fahrrad zum Evangelischer Kirchentag in Bremen (2009)

Günter Grass: Grimms Wörter

Es war wohl der Sohn von Wilhelm Grimm, Herman, der meinte, das von seinem Vater und seinem Onkel, Jacob Grimm, herausgegebene deutsche Wörterbuch (DWB) wäre schon zu deren Lebzeiten ‚überholt’. Begonnen wurde mit diesem Wörterbuch 1838 (fertiggestellt dann erst 1961). Der Gebrauchswert für den heutigen Alltag, damit hat er Recht, ist sicherlich nicht sehr hoch. Da bringen Duden, Wahrig u.a. mehr Nutzen (siehe hierzu auch meine Beiträge: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm und Wortschatz).

Es beginnt damit, das der ältere der Grimm-Brüder, Jacob, keine Fremdwörter in diesem ‚deutschen’ Wörterbuch duldete. Evolution oder Revolution kommen nicht vor. Selbst der uns heute gängige Friseur (oder Frisör) und die Frisur gibt es nicht. Dafür finden wir den damals wohl eher üblichen Barbier, dann die deutschen Begriffe Haarscherer und Haarschneider – und für Frisur den Haarschnitt. Kurios muten uns heute manche ebenfalls von Jacob Grimm erstellte ‚Regeln’ des Wörterbuchs an: Durchgängige Kleinschreibung (außer bei Eigennamen), was heute ja schon fast wieder modern ist. Und das ß immer als sz geschrieben. Goethe kommt als Göthe daher.

Was den eigentlich Wert dieses 34.824 Seiten ausufernden und mit ca. 320.000 Stichwörtern versehenen Nachschlagewerkes ausmacht, sind die Hinweise auf die Herkunft der Wörter und eine nachvollziehbare Beschreibung, wie sich die Wörter im Laufe der Zeit verändert haben, oft auch dem Wortsinne nach. Vieles, wir erahnen es, rührt aus dem Stamm der indogermanischen (auch indoeuropäisch genannten) Sprachfamilie her (bis hin zum östlichen Zweig der gotischen Sprache). Oft werden viele Spalten lang Zitate (von Luther über Kant bis zu Goethe) zu den einzelnen Stichwörtern aufgeführt, die den Gebrauch der Wörter in der Literatur belegen. Allerdings wollte Jacob Grimm keine Zeitgenossen wie Heine zitiert wissen. Wer möchte, kann online im DWB stöbern. Als aufschlussreiches Beispiel empfehle ich den Artikel zum Wort Schnee (das aus gegebenem Anlass: Kate Bushs Gespür für Schnee)

Erwähnenswert ist, dass sich vor den Grimm-Brüdern bereits andere daran gemacht hatten, ein deutsches Wörterbuch zusammenzustellen. Das wohl bekannteste ist das von Johann Christoph Adelung, von dem Jacob Grimm (ja, wieder der) allerdings nicht allzu viel hielt: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart (1774–1786, 2. Aufl. 1793–1801). Adelung lässt übrigens auch Fremdwörter zu. – Online mit Volltextsuchegescannte Ansicht

Aber genug der langen Vorrede. Wie der Titel dieses Beitrags verrät, möchte ich ein 2010 erschienene Buch von Günter Grass vorstellen: Grimms Wörter. Der Untertitel, der wie eine neue literarische Gattung klingt, sagt es deutliche: Eine Liebeerklärung.

    Günter Grass: Grimms Wörter

„Die Brüder Grimm erhalten im Jahr 1838 einen ehrenvollen Auftrag: Ein Wörterbuch der deutschen Sprache sollen sie erstellen. Voller Eifer machen sie sich ans Werk. Aberwitz, Angesicht, Atemkraft – fleißig sammeln sie Wörter und Zitate, in wenigen Jahren sollte es zu schaffen sein. Barfuß, Bettelbrief, Biermörder – sie erforschen Herkommen und Verwendung, sie verzetteln sich gründlich. Capriolen, Comödie, Creatur – am Ende ihres Lebens haben Jacob und Wilhelm Grimm nur wenige Buchstaben bewältigt.

Günter Grass erzählt das Leben der Brüder Grimm als Liebeserklärung an die deutsche Sprache und die Wörter, aus denen sie gefügt ist. Er schreibt über die Lebensstationen der Brüder, über ihre uferlose Aufgabe und die Zeitgenossen an ihrer Seite.

Spielerisch-virtuos spürt ‚Grimms Wörter’ dem Reichtum der deutschen Sprache nach und durchstreift die deutsche Geschichte seit der Fürstenherrschaft und den ersten Gehversuchen der Demokratie. Von der Vergangenheit mit ihren politischen Kämpfen und ganz alltäglichen Sorgen schlägt Grass manche Brücke in seine eigene Zeit.“
(aus dem Klappentext)

Wer einen Sinn für Sprache und einen besonderen für anspruchsvolle Literatur hat, dem kann ich diese ‚Liebeserklärung’ nur empfehlen. Oder wie Sigrid Löffler im ‚rbb Kulturradio’ sagte: „Für Grass-Verehrer ist dieses Buch ein Muss, für das übrige Publikum einfach eine lohnende Lektüre.“

Deutsches Wörterbuch der Brüder Grimm – Erster Band: A - Biermolke

Man sieht, wie Günter Grass in seinem Exemplar dieses 33-bändigen Werkes blättert, den ersten Band „A – Biermolke“ vielleicht auf den Knien längere Zeit beim Stichwort Alfanzerei verweilend … Und wie er sieht, wie sich die Brüder Grimm an die Arbeit machen:

So begann ihre Zettelwirtschaft. Von überall her schneite es Wörter und wortbezügliche Zitate. Jedem aufgelesenen Wort hatten die Sammler seine Herkunft nachzuweisen. Es galt herauszufinden, bei welchem Dichter das jeweilige Stichwort bereits Vorklang gefunden hatte. Von Parzivals Gralsuche und dem Nibelungenlied über Luthers Bibeldeutsch bis zu Goethes und Schillers Gereimtem fand sich Zitierbares. Außerdem wollte Jacobs Ehrgeiz wissen, ob dieses oder jenes Wort bei dem arianischen Bischof Ulfilas bereits gotisch nachzuweisen sei, wie es sich alt- oder mittelhochdeutsch gewandelt habe. Die Lautverschiebung und ihre Folgen. Was war dem Wortschwall der Mundarten abzuhören? Welches Echo fand das eine, das andere Stichwort in den skandinavischen Sprachen? Was klingt bereits im Sanskrit an? Welches deutschstämmig anmutende Wort ist dem Latein entlehnt? Was soll mit anstößigen, weil schmutzigen Wörtern geschehen, zumal wenn sie lebendig, weil volksnah sind? Welche Dichter waren besonders stichhaltiger Zitate trächtig?
(S. 31 der Taschenbuchausgabe)

Manches Stichwort bei den Grimms gibt auch dem knurrigen Grass Anlass, sich über die Jetztzeit Gedanken zu machen („genau aufs Stichwort …“), hier nur ein Beispiel:

Mich treibt Zorn an, der sich an westlichen Colonialherren reibt, die als Sieger des Kalten Krieges meinen, hemmungslos zugreifen, fortan auf Pump leben zu dürfen und nun, nach dem Triumph des Kapitalismus über den Kommunismus, beginnen, ihresgleichen zu zerstören, weil ihnen der Feind fehlt.
(S. 108 der Taschenbuchausgabe)

Ohne Zweifel: „‚Grimms Wörter’ gehört zu den wichtigsten Büchern Grass’ und ist vielleicht sein schönstes.“ (Jörg Magenau, ‚Der Tagesspiegel’) – und noch einmal: Wer die deutsche Sprache liebt, wer sich für deren Reichtum interessiert, dem sei als Einstieg gewissermaßen Grass’ Prosawerk empfohlen. Das Blättern im der Brüder Grimms Deutschen Wörterbuch gibt’s gratis dazu.

Habemus papam: Franziskus

Die katholische Kirche hat einen neuen Papst: Der 76 Jahre alte Erzbischof von Buenos Aires, Jorge Mario Bergoglio, wird als Franziskus Oberhaupt von 1,2 Milliarden Gläubigen. Die Wahl Bergoglios ist eine faustdicke Überraschung. Er hatte wegen seines Alters und seiner seit 2010 angeschlagenen Gesundheit eher als Außenseiter bei der Papstwahl gegolten. 2005 bei der Wahl Joseph Ratzingers (Habemus papam: Benedikt XVI), der zum 28. Februar aus gesundheitlichen Gründen zurücktrat, war er noch dessen Gegenkandidat.

Der neue Papst gilt als „sozial engagiert, theologisch aber konservativ. Er liebt nicht die großen Auftritte, gilt als wortkarg und medienscheu. Zur Tagespolitik hält er möglichst Distanz. Trotzdem geißelt er mit klaren Worten soziale Ungerechtigkeit und Korruption. Man nennt ihn auch den ‚Kardinal der Armen’; er besucht Gefängnisse und Armenviertel. Sein persönlicher Lebensstil gilt als prophetisch: bescheiden, volksnah, ökologisch.“
(Quelle: blog.zdf.de)

Bergoglio hat die bisherige kirchliche Lehre in der Frage der Homosexualität bekräftigt. Er kritisierte im Jahr 2010 in einem Brief an die argentinische Regierung mit deutlichen Worten die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe. Auch sein Handeln während der argentinischen Militärdiktatur werfe Fragen auf.

Der Mainzer Kardinal Karl Lehmann ist „sehr zufrieden und sehr glücklich“ über den neuen Papst. Kardinal Jorge Mario Bergoglio habe sich als Seelsorger und durch sein enges Verhältnis zu den Armen ausgezeichnet, sagte Lehmann in den ARD-Tagesthemen. Der Kirche tue es gut, dass jetzt ein Nichteuropäer Papst sei. Der neue Papst habe nach seiner Wahl beim Essen mit den Kardinälen einen sehr unbefangenen und gelassenen Eindruck gemacht. Er verfüge über viel Humor. Nach Darstellung Kardinal Lehmanns spricht Bergoglio sehr gut Deutsch. Er studierte in Deutschland und ging in den 80er Jahren für einen Forschungsaufenthalt nach Frankfurt am Main.

Der neue Papst gilt als dialogbereit und trotz des Alters als aufgeschlossen auch gegenüber den neuen Medien. Zu Änderungen und Erneuerungen innerhalb der katholischen Kirche wird es aber nach meiner Meinung auch unter Franziskus nur in kleinen Schritten kommen.

Wortschatz

Wie viele Wörter der deutschen Sprache ein durchschnittlicher Deutscher kennt und verwendet, lässt sich noch erahnen. Angeblich umfasst der Wortschatz der deutschen Standardsprache ca. 75.000 Wörter. Wie groß der Wortschatz der deutschen Sprache insgesamt ist, dürfte dagegen kaum auszumachen sein, da dann sicherlich auch „Fachwortschätze“, also Wörter der Fachsprachen, hinzuzurechen wären.

Immer wieder haben sich Sprachwissenschaftler daran gemacht, den deutschen Wortschatz zu erfassen. Das bekannteste Beispiel ist das der Brüder Grimm und ihr deutsches Wörterbuch. Die Fertigstellung benötigte über 120 Jahre und enthält ‚lediglich’ ca. 320.000 Stichwörter, die auf 34.824 Seiten mit 67.744 Textspalten in 33 Bänden (Gesamtgewicht 84 kg) erläutert werden.

    Wortschatz

Für Philologen und Liebhaber der deutschen Sprache ist dieses Wörterbuch eine geradezu unendliche Fundgrube. Für den Hausgebrauch eignet es sich aber weniger. Da sind uns Duden, Wahrig u.a. hilfreicher.

Natürlich sind Wörterbücher dem Wandel unterlegen. Täglich kommen neue Begriffe, also Wörter, hinzu, die dann erst in einer Neuauflage eines ‚Buchs’ berücksichtigt werden können. Was bietet sich da Besseres an – als das Internet.

Zum einen erspart uns das Internet das Wälzen in einem 33 Bände starken Nachschlagwerk wie dem Deutschen Wörterbuch der Grimms – dieses ist online verfügbar. Zum anderen gibt es dort Sammlungen – z.B. die von Neologismen, also Wortneuschöpfungen, wie wortwarte.de -, die sich dem deutschen Wortschatz insgesamt verpflichtet fühlen: Wortschatz – Universität Leipzig.

So wühlt man sich durch den deutschen Wortschatz

Es war der ältere der beiden Grimm-Brüder, Jacob, der Fremdwörter tunlichst in dem genannten Wörterbuch vermeiden wollte. Auch heute bemühen sich verschiedene Institutionen um die Pflege der deutschen Sprache – und möglichst um die Vermeidung von Begriffen aus anderen Sprachen, besonders den Anglizismen. Dazu gehört die Gesellschaft für deutsche Sprache, die u.a. das Wort des Jahres kürt. Erwähnt sollte auch das Institut für Deutsche Sprache, über deren Website diverse Nachschlagewerke online verfügbar sind.

Apropos Vermeidung von Fremdwörter: Die Franzosen bemühen sich besonders darum. Aber auch ein kleines Land mit einer sehr alten Sprachkultur achtet konsequent darauf, die Übernahme von Fremdwörtern so gering wie möglich zu halten: Island. Neue Begriffe erschafft man in der Regel aus dem vorhandenen Wortschatz des Isländischen. „So entstand das Wort für ‚Computer’, tölva, aus den Worten tala, ‚Zahl’, und völva, ‚Wahrsagerin, Seherin’. Der Begriff für ‚Aids’, alnæmi, wurde aus al-, ‚all-‚, und næmi, ‚Empfindlichkeit’, gebildet. Ein ähnliches Wort ist skrifstofa (‚Schreibstube’) für Büro. … Seit 1964 besteht darum in Island ein eigenes Komitee, das für neumodische Begriffe rein isländische Ausdrücke findet.“ (Quelle: de.wikipedia.org)

Ich habe mich in diesem Blog schon öfter mit der deutschen Sprache und deren Wortschatz in Ihren verschiedenen Ausprägungen beschäftigt: Kafkas Wortschatz und KiezdeutschVon Archaismen und NeologismenWenn der Amtsschimmel wiehertMan spricht DeutschBedrohte Sprachen in Deutschland – u.a.

Dieser Beitrag hat einen besonderen Hintergrund, den ich in einen der nächste Tage auflösen werden. Vielleicht kann sich der eine oder die andere denken, was mir da ‚vorschwebt’, oder?!

Übrigens: Allein das Wort Wortschatz gefällt mir sehr. Es ist gewissermaßen eine Verbeugung der Sprache vor der Sprache – indem die Sammlung aller Wörter als Schatz betrachtet wird.

Der Papst geht

Natürlich war auch ich erstaunt, als ich der Meldung las: Der Papst tritt zurück. Am Rosenmontag kann man das schon für einen Scherz halten. Wie viele dachte ich, ein Papst tritt nicht zurück, der stirbt und dann kommt ein neuer. Nun mit Päpsten habe ich nicht viel am Hut, auch wenn in diesem Blog das Wort Papst öfter vorkommt, als ich dachte (Literaturpäpste gibt es ja auch noch).

Aber ich habe schon einige Wort gefunden, als 2005 der erste polnische Papst Johannes Paul II starb (Noch ist Polen nicht verloren) – und nach über 480 Jahren erstmals wieder ein Deutscher zum Papst erkoren wurde: Habemus papam: Benedikt XVI.

Zum 28. Februar nimmt also Benedikt XVI seinen Pileolus, sein Scheitelkäppchen, und zieht sich in ein Kloster zurück. Dieser Entscheidung kann man nur Respekt zollen. Aber ich denke, dass es auch Zeit wird.

Als er vor fast acht Jahren zum Papst gewählt wurde, schrieb ich:

Bei aller Freude besteht bei vielen Skepsis, denn Benedikt XVI ist als konservativ bekannt, als Bewahrer der reinen Glaubenslehre, die sich entgegen jedem Modetrend zu bewähren hat.

Aber in bestimmten Dingen muss sich der neue Hirte über eine Milliarde Menschen doch fragen lassen, ob auch unabhängig vom Zeitgeist Änderungen überholter Ansichten notwendig sind.

Die Skepsis besteht bis heute zurecht. Aus religiöser Sicht war Benedikt XVI sicherlich ein guter Papst. Und sicherlich hat er sich für den Frieden auf unserer Erde eingesetzt. Aber als Hirte so vieler Menschen mit all ihren menschlichen Bedürfnissen im Diesseits vermochte er keine befriedigenden Änderungen überholter Dogmen der katholischen Kirche durchzusetzen. Für uns alle bleibt die katholische Doppelmoral unübersehbar sichtbar. Der sexuelle Missbrauch durch kirchliche Würdenträger wurde bisher nur unzurechend aufgearbeitet.

Jetzt wird über einen Nachfolger spekuliert. „Als geeignete Nachfolger werden unter anderem der Mailänder Erzbischof Angelo Scola (71) und die beiden Afrikaner Peter Turkson (64) aus Ghana und Francis Arinze (80) aus Nigeria genannt. Auch Kardinal Marc Ouellet (68) aus Quebec und dem New Yorker Erzbischof Timothy Dolan (63) werden Chancen eingeräumt. Aus Lateinamerika werden der Erzbischof von Sao Paulo, Kardinal Otto Scherer (63), und Kurienkardinal Leonardo Sandri (69) aus Argentinien genannt. Aus Asien gilt der philippinische Kardinal Luis Antonio Tagle (55) als ‚papabile’, also als möglicher Papst.“ (Quelle: heute.de).

Wer es auch sein wird, die Erwartungen sind hoch: Das neue Kirchenoberhaupt muss offen für die Welt sein und der Katholizismus wieder an Bodenständigkeit gewinnen.

21.12.2012 – Weltuntergangstag – aber wie leben noch …

Verschwörungstheorien, die Apokalypse – es muss schon etwas Faszinierendes daran sein, wenn Katastrophen größeren Ausmaßes ein solches Interesse finden. Okay, es geht um uns und unser ‚Überleben’. Wer möchte nicht gern wissen, ob er morgen noch lebt …

Weltuntergänge sollte es schon viele geben, meist zu prägnanten Daten wie dem 31.12.999, als Papst Sylvester II persönlich diesen verbreitete, oder natürlich 1000 Jahre später, als mancher Computer muckte, der große Crash aber ausblieb. Selbst Luther hat erst für 1532, dann für 1538 und nochmals für 1541 den Untergang prognostiziert. Begriffe wie das Ende der Welt, das Jüngste Gericht oder Armageddon verknüpfen sich mit dem Weltuntergang. Alles vielmals Stoff für Bücher. Alles mehrmals verfilmt.

Heute nun ist jener 21. Dezember 2012, an dem laut Maya-Kalender eine neue Zeitrechnung beginnt, die eventuell, vielleicht, möglicherweise oder gar fast bestimmt mit einem Weltuntergang einhergeht.

    Codex Dresdensis - Faksimile Graz 1975 - Seite 74 (Ausschnitt)

Um mich hier nicht zu wiederholen, verweise ich auf einen älteren Beitrag von mir: Codex Dresdensis. Gerade noch rechtzeitig vor dem möglichen Weltuntergang am heutigen Tag wurden in den Ruinen der Maya-Hochburg Xultun im heutigen Guatemala Wandzeichnungen und damit der bislang älteste astronomische Kalender der Maya aus dem 9. Jahrhundert gefunden, der besagt, dass „die Welt weitergehen würde und dass die Dinge in 7.000 Jahren genauso sein würden wie heute“. (Quelle u.a. welt.de)

Also sind die Weihnachtsgeschenke doch nicht umsonst gekauft. Feiern wir alle ein friedvolles und geruhsames Weihnachtsfest. Dazu jetzt schon alles Gute.

siehe auch meine Beiträge (leider sind manche Links in den Beiträgen nicht mehr aktuell):

Tuiavii aus Tiavea: Der Papalagi

Papalagi – wer in etwa in meinem Alter ist, der wird irgendwann einmal über dieses Buch, das angeblich die (nicht gehaltenen) Reden des Südsee-Häuptlings Tuiavii aus Tiavea enthält, gestolpert sein, vielleicht sogar gelesen haben. Aber wohl auch heute noch erfreut sich das Buch einer gewissen Beliebtheit: Der Papalagi

Tuiavii aus Tiavea: Der Papalagi

Der eigentliche Verfasser ist wohl Erich Scheurmann, ein deutscher Maler und Schriftsteller. 1914 erhielt dieser von seinem Verleger einen Vorschuss über 2.000 Mark für eine Südsee-Geschichte. Scheurmann fuhr nach Samoa, das zu dieser Zeit noch deutsche Kolonie war. Er wurde dort vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges überrascht und verließ Samoa 1915, um in die USA zu reisen. Dort schrieb er den fiktiven Reisebericht „Der Papalagi“, der 1920 zu ersten Mal als Buch erschien. Ich habe das Buch als eine reich illustrierte Ausgabe aus dem Tanner + Staehelin Verlag, Zürich (220.-260. Tausend November 1980 – erweiterte Neuauflage der Originalausgabe von 1920 – Felsenverlag, Buchenbach/Baden), vorliegen.

Jener Häuptling Tuiavii (was ein Titel und kein Name ist) lebte dem Buch zufolge auf der Insel Upolu in dem Dorf Ti’avea. Ich habe nachgeschaut; den Ort gibt es tatsächlich auf der Insel, die im Jahr 1899 Teil der Kolonie Deutsch-Samoa geworden war. Während des Ersten Weltkriegs wurde die Insel dann von Großbritannien besetzt.


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Ti’avea auf der Insel Upolu (Samoa)

Was ist der Grund für die Beliebtheit dieses Buchs? Es ist eine Zivilisationskritik in elf „Reden“, die Scheurmann jenem Südseehäuptling in den Mund legte. Dieser berichtet von seiner Reise nach Europa und warnt sein Volk vor den dort herrschenden Wertvorstellungen. Real hatte jedoch nicht ein Südsee-Häuptling Europa bereist, sondern Scheurmann das polynesische Samoa. Bei seinem in etwa einjährigen Aufenthalt auf Samoa wird er viele Gespräche mit den Einwohnern geführt und deren Lebensumstände erforscht haben, was zur Idee zu diesem Buch führte.

    Tuiavii aus Tiavea: Der Papalagi

Die „Reden“ üben ohne Zweifel einen gewissen Reiz aus, wenn sich Scheurmann auch oft einer Sprache bedient, die die Dinge umschreibt, für die es aber auf Samoa schon längst Worte gab. Aber das erhöht natürlich die romantisch geprägte Exotik dieser Zivilisationskritik. Sicherlich regen die „Reden“ uns zum Nachdenken an – über unsere Stellung in der Gesellschaft, über unser Tun und Trachten. Aber wir sollten auch bedenken, dass „im Falle des Papalagi sich Scheurmann nicht der samoanischen Gesellschaft [widmet], sondern in den europäisch geprägten Vorstellungen von der Südsee als einem Paradies auf Erden [verharrt]. Die samoanische Lebenswelt ist dem reisenden Autor keine Zeile wert, seine Augen richten sich allein auf den europäischen Alltag durch die Brille des so hellsichtigen ‚Wilden’.“ Und weiter: „Dass dieser Ethnokitsch dann immer noch so populär ist, gibt zu denken – besonders angesichts der doch selten fremdenfreundlichen Tendenzen in unserem Alltag.“ (Quelle: literaturkritik.de)

Ganz so hart mag ich mit dem Buch nicht umgeben. Scheurmanns konstruierte Perspektive des Außereuropäischen hätte sich vielleicht nicht so konkret in Person eines Samoaner finden sollen. Das ist wohl der damaligen Zeit geschuldet, die dann tatsächlich in der Südsee ein Paradies vermutete. Wahrscheinlich wird aber auch Scheurmann selbst Samoa als heile Welt empfunden haben – angesichts der Hetze der Vorkriegszeit in Europa kein Wunder.

Der neue deutsche Bildungstest

Am letzten Samstag fragte das ZDF in einem ‚neuen deutschen Bildungstest’, was jemand heute wissen muss. Im Vorfeld der Show wurde in einer repräsentativen Forsa-Umfrage ganz Deutschland befragt: „Was ist Bildung?“ und „Was muss ein gebildeter Mensch heute alles wissen?“. Aus den Ergebnissen dieser Umfrage, zusammen mit einer Einschätzung führender Bildungsforscher und -experten, wurde ein Fragenkatalog entwickelt, der die 50 wichtigsten Fragen auflistet, die ein gebildeter Deutscher heute wissen muss. „‚Der neue deutsche Bildungstest’ wirft ein Schlaglicht auf einen neuen ‚Bildungskanon’, zu dem alles das gehört, was man benötigt, um sich in der modernen Welt zu orientieren.“

Das, was wir als Bildungskanon ansehen, ist ohne Zweifel wandelbar, so wie sich Wissen ständig erweitert und sich damit Bildung in andere Richtungen orientiert. Sicherlich kann man das in der Sendung abgefragte Wissen zu einem aktualisierten Wissenskanon zählen, aber eigentlich geht es bei den 50 Fragen im Wesentlichen um Alltagswissen, das jemand besitzen sollte, „um sich in der modernen Welt zu orientieren“, wie es heißt.

    Bildung

Aber Bildung beinhaltet dann doch mehr als dieses Alltagswissen. Ob Goethe und Beethoven ‚out’ sind, wie in der Sendung behauptet, muss bezweifelt werden. Ich will mich gar nicht so sehr auf eine klassische Bildung beziehen, aber um die Welt zu verstehen und um ‚gebildet’ zu sein, bedarf es mehr als das Wissen um die uns täglich begegnenden Dinge. Hier liegt eben der Knackpunkt dieser Sendung: Alltagswissen allein wird bereits als Bildung verkauft. Auf der anderen Seite, auch das ist klar, sollte sich jemand, der viele der Fragen nicht beantworten kann, fragen, ob er wirklich so gebildet ist, wie er meint (bekanntlich ist auch Einbildung eine Art von Bildung).

Selbst umfangreiches Wissen ist nicht immer mit Bildung gleichzusetzen. Ich habe Menschen kennen gelernt, die geradezu ein enzyklopädisches Wissen aufwiesen, die man die unmöglichsten Sachen fragen konnte – und die ich doch nicht unbedingt als gebildet bezeichnen möchte. Sie haben sich das Wissen angelesen (z.B. Wikipedea), viel mehr nicht.

Gebildet ist für mich ein Mensch, der ein Mindestmaß an Wissen aufweist, der gleichzeitig im Stande ist, dieses Wissen auch bei komplexen Zusammenhängen anzuwenden. Erst im Zusammenspiel zwischen Wissen und analytischer Befähigung ‚bildet’ sich Bildung. In meinem Beitrag Bildung, ein angefressener Bauch habe ich das Buch Bildung – Alles, was man wissen muss von Dietrich Schwanitz vorgestellt. Auch dieses Buch ist natürlich nicht der Bildung letzter Schluss.

Übrigens: Man muss nicht ‚alles’ wissen. Oft genügt es zu wissen wo ‚etwas’ steht.

Die 50 Quizfragen aus der Sendung

siehe auch meinen Beitrag: Bildungsnotstand in Deutschland?