Kategorie-Archiv: Literatur

WilliZ Welt der Literatur

Albert Camus: Die Pest

    Das Böse in der Welt rührt fast immer von der Unwissenheit her, und der gute Wille kann so viel Schaden anrichten wie die Bosheit, wenn er nicht aufgeklärt ist. (S. 86)

Und weiter heißt es bei Camus: Die Menschen sind eher gut als böse, und in Wahrheit dreht es sich gar nicht um diese Frage. Aber sie sind mehr oder weniger unwissend, und das nennt man dann Tugend oder Laster. Das trostloseste Laster ist die Unwissenheit, die alles zu wissen glaubt und sich deshalb das Recht anmaßt zu töten. (S. 86f.)

Es ist wohl das bekannteste Werk des Romanciers und Philosophen Albert Camus, dem ich mich in diesem Weblog schon öfter gewidmet habe. Gemeint ist der Roman Die Pest, das ich in folgender Ausgabe habe: Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg – rororo 15 – 829.-853. Tausend März 1979 (Original: La Peste, 1947 Librairie Gallimard, Paris)

Albert Camus: Die Pest

Camus war der Philosoph des Absurden, der meinte, dass man dem Leid und Elend in der Welt keinen Sinn abgewinnen kann. Der Mensch fühlt, wie „fremd“ alles ist, die Außenwelt und ihre Sinnlosigkeit bringen ihn wegen seines Strebens nach Sinn in existentielle Konflikte. In diesem Roman nun führte Camus das Element der ständigen Revolte gegen die Sinnlosigkeit der Welt ein, wie sie in seinem Essay „Der Mensch in der Revolte“ („l’homme révolté“, 1958) später voll entwickelt wird. Insbesondere kommen aber die Werte Solidarität, Freundschaft und Liebe als möglicher Ausweg hinzu, wenn auch die Absurdität nie ganz aufgehoben werden kann.

In der nordafrikanischen Stadt Oran bricht eine furchtbare Seuche aus, die längst aus zivilisierten Regionen verbannt schien. Die sich unerbittlich ausbreitende mörderische Epidemie bestimmt allmählich das gesamte Leben der von der Außenwelt abgeschnittenen Stadt und verändert es. Außerordentlich wirklichkeitsnah, ist das Werk zugleich ein großartiges Sinnbild des apokalyptischen Grauens, das den Einzelmenschen angesichts der maßlosen kollektiven Verhängnisse unserer Zeit befällt. Doch nimmt der Leser die Gewißheit mit, daß Mut, Willenskraft und Nächstenliebe auch ein scheinbar unabwendbares Schicksal meistern können.
(aus dem Klappentext)


Oran/Algerien

In seinen Tagebücher (Albert Camus, Tagebücher 1935 – 1951) schrieb Camus dazu: „Ich will mit der Pest das Ersticken ausdrücken, an dem wir alle gelitten haben, und die Atmosphäre der Bedrohung und des Verbanntseins, in der wir gelebt haben. Ich will zugleich diese Deutung auf das Dasein überhaupt ausdehnen. Die Pest wird das Bild jener Menschen wiedergeben, denen in diesem Krieg das Nachdenken zufiel, das Schweigen – und auch das seelische Leiden.“

Personen:

Bernard Rieux, Arzt und Verfasser des Berichts
Frau Rieux (†)
Mutter Rieux

M. Michel, Hauswart († – 1. Opfer)
M. Othon, Untersuchungsrichter (†)

Raymond Rambert, Journalist
Jean Tarrou, junger Mann, Tagebuchschreiber († – das letzte Opfer)
Pater Paneloux († – zweifelhafter Fall)
Joseph Grand, Angestellter der Stadtverwaltung (erkrankt) -> Liebe zu Jeanne
M. Cottard (Selbstmordversuch) -> Verhaftung

Dr. Richard, Sekretär des Ärzteverbandes (†)
Dr. Castel (stellt Serum her)

Schmuggler und Menschenschieber
Garcia / Raoul / Gonzales / Marcel & Louis

Präfekt
Asthmaischer Spanier
männlicher Katzenbespucker

u.a.

Der Roman „Die Pest“ ist als Parabel der französischen Widerstandsbewegung Résistance ein Plädoyer für die Solidarität der Menschen im Kampf gegen Tod und Tyrannei und damit „gleichzeitig eine Chronik der Kriegszeit. Die von Albert Camus gewählte Stadt Oran steht stellvertretend für das von Nazideutschland besetzte Frankreich. Durch den Ausbruch der Pest wurde Oran zu einer hässlichen von der Außenwelt abgeschlossenen Stadt. Der Arzt Rieux, der der Erzähler der Geschehnisse ist, und Tarrou machen Aufzeichnungen von den Ereignissen, auf die die Bewohner nicht vorbereitet waren. Nicht nur Rieux, sondern ebenso die anderen Hauptpersonen machen es sich nach und nach zur Aufgabe, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen die Pest und ihre verheerenden Folgen für die Bevölkerung vorzugehen und sich den von Tarrou aufgestellten Sanitätstrupps [Widerstandsgruppen] anzuschließen. Auch der Jesuitenpater Paneloux meldet sich als freiwilliger Helfer und sieht es als seine Pflicht an, in der vordersten Reihe seinen Dienst zu tun. Der Roman ‚Die Pest’ besitzt wie der Roman ‚Der Fremde’ eine soziale und eine metaphysische Ebene. In mehreren Gesprächen zwischen Rieux und Pater Paneloux, sowie zwischen Rieux und Tarrou wird die Frage nach dem Leid in der Welt erörtert. In seiner ersten Predigt spricht der Pater von der Pest als einer Geißel Gottes, dieser Standpunkt wird von Rieux vehement abgelehnt. Jedoch sucht Pater Paneloux in seiner zweiten Predigt nicht mehr nach einer Erklärung für das Leid. Er hat seinen Zuhörern keine Belehrungen mehr zu geben und spricht sie daher mit ‚wir’ und nicht wie in seiner ersten Predigt mit ‚ihr’ an.“ (siehe weiter: Albert Camus: das Absurde – die Wahrheit – die Revolte – Die Pest).

Der Roman endet mit einer eindringlichen Mahnung:

Während Rieux den Freudenschreiben lauschte, die aus der Stadt empordrangen, erinnerte er sich nämlich daran, daß diese Fröhlichkeit ständig bedroht war. Denn er wußte, was dieser frohen Menge unbekannt war und was in den Büchern zu lesen steht: daß der Pestbazillus niemals ausstirbt oder verschwindet, sondern jahrzehntelang in den Möbeln und der Wäsche schlummern kann, daß er in den Zimmern, den Kellern, den Koffern, den Taschentüchern und den Bündeln alter Papiere geduldig wartet und daß vielleicht der Tag kommen wird, an dem die Pest zum Unglück und zur Belehrung der Menschen ihre Ratten wecken und erneut aussenden wird, damit sie in einer glücklichen Stadt sterben. (S. 202)

Absurd und zugenäht

Was unterscheidet uns vom Camus’schen Protagonisten, Jean Tarrou, dem jungen Tagebuchschreiber in Die Pest, der mit der Frage nach dem Tun, um seine Zeit nicht zu verlieren, die passende Antwort samt der zu bewerkstelligen Mittel parat hatte? Ist nicht vieles ähnlich absurd, verflixt und zugenäht in unserem Leben? Um dem Ganzen die Krone der Absurdität aufzusetzen, ließ Camus, nachdem die Pest abgeebbt war, als letzten seiner Helden jenen Jean Tarrou doch noch erkranken – und sterben.

Albert Camus: Absurd und zugenäht © Collage Wilfried Albin

„Frage: was tun, um seine Zeit nicht zu verlieren? Antwort: sie in ihrer ganzen Länge auskosten. Mittel: tagelang auf einem unbequemen Stuhl im Wartezimmer eines Zahnarztes sitzen; den Sonntagnachmittag auf seinem Balkon verbringen; Vorträge anhören in einer Sprache, die man nicht versteht; in der Eisenbahn die längsten und umständlichsten Strecken fahren, selbstverständlich stehend; am Vorverkaufsschalter eines Theaters Schlange stehen und keine Karte lösen usw. usw.“

(Albert Camus: Die Pest – Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg – rororo 15, 1979, S. 20)

Martin Walser: Ein liebender Mann

    Alle Übel der Welt sind entstanden durch Liebesmangel.
    (Martin Walser: Ein liebender Mann S. 204)

Ähnlich wie Martin Walser sich um Goethe drückte (und um Thomas Mann sowieso), so hatte ich mich bisher auch um Walsers Ein liebender Mann gedrückt. Bisher, denn noch vor meinem Sommerurlaub habe ich mir das kleine handliche Büchlein gegönnt und gelesen. Die Süddeutsche Zeitung hat ihre Kritik auch passend mit Die Leiden des alten Werthers betitelt, denn in dem Roman nimmt sich Martin Walser Goethes letzter Liebe an, die des 73-Jährigen zur 19-jährigen Ulrike von Levetzow. Immerhin verdanken wir diesem Liebeswerben die Marienbader Elegie (Text bei zeno.org), auch wenn es mit diesem Werben gehörig in die Hose ging (das Ende des Romans ist dann auch eher prosaisch als poetisch).

    Martin Walser: Ein liebender Mann

Sommer des Jahres 1823. Goethe […] ist nach Marienbad gereist, wo er, wie schon in den Jahren zuvor, auch auf Amalie von Levetzow und ihre Töchter trifft. Doch diesmal steht ihm der Sinn weniger nach der ansehnlichen und geistreichen Gesellschaft des ganzen Quartetts als ausschließlich und umfassend nach jener der Ältesten, Ulrike. (Quelle: faz.net)

„Man lässt sich bezaubert ein auf Liebes-Passion, Dichter-Gescheitheit, lebendigstes Zeitkolorit. Da übertrifft Walser, sprachmächtig, nicht nur sich selbst, sondern auch so manche berühmte Goethe-Schilderung der deutschen Literatur“, schreibt Joachim Kaiser in der Süddeutschen. Dem kann ich mich nur anschließen, auch wenn manches Wort, das Walser Goethe in den Mund legt, doch sehr nach Walser klingt (und dabei vielleicht sogar überzeugender).

Bestechend, da witzig und schön, sind die Dialoge, die Goethe mit der blutjungen Ulrike führt. Hier spürt man, wie ein ins Alter gekommener Mann sich berauschen lässt von der Jugend und sich von Amors Pfeil durchbohrt hingibt an eine Liebe, vor der bekanntlich kein Alter schützt (die törichte Liebe). Das Liebeswerben geht soweit, dass Goethe sich zu einem Heiratsantrag hinreißen lässt. In einem Schreiben an Ulrikes Mutter bekennt er dann aber doch:

Ich habe mich danach gesehnt, Sie um Entschuldigung bitten zu dürfen für eine aus Panik geborene Handlung, deren Peinlichkeit nur noch durch ihre Komik überboten ist. (S. 176)

Ja, eigentlich ist es mehr als peinlich, wenn ein ‚alter Sack’ sich an eine ‚junge Schöne’ heranwagt. Damals wie heute. Aber Martin Walser, dem man an anderer Stelle in Literatur gehüllte Altersgeilheit vorgeworfen hat, umschifft die Klippe – im Gegenteil: Er lässt uns mitleiden mit diesem alten Goethe, der am Ende um eine bisher nicht gemachte Erfahrung reicher ist, dem Lieben, ohne geliebt zu werden.

Diese Liebe, als sie voll entbrannt ist, lässt Goethe, wie sollte es anders sein, schreiben. Und so entsteht die bereits erwähnte Marienbader Elegie. Gefühl und Schreiben verknüpfen sich, werden zu einem Ganzen: Das war das Schönste beim Schreiben, besonders beim Gedichteschreiben: die vollkommene Sicherheit des Zustandekommens. Egal, was dann irgend jemand zu dem Ergebnis sagen würde, für ihn war glücksentscheidend, dass das, was nachher da stand, ganz dem Gefühl entsprach, das ihn beim Schreiben geleitet hatte. (S. 162 f.)

Ja, diese Männer, besonders diese alten Männer („Je oller, desto toller“ – kennt sich der Volksmund aus). Immerhin kommt Walser in der Gestalt Goethes zu der Erkenntnis (S. 202): Die Männer gehören in den Sandkasten und an den grünen Tisch. Die Frauen ans Ruder. (Wenn sie nicht gerade Merkel heißen).

Martin Walser: Die Inszenierung (Vorankündigung)

86 Jahre alt – und noch kein bisschen leise. Bevor ich hier weiter auf ältere Werke von Martin Walser zu sprechen kommen werde, möchte ich zuvor einen neuen Roman aus der Feder des „Mannes vom Bodensee“ ankündigen. Es ist noch nicht ein Jahr her, da erschien Walsers letzter Roman Das dreizehnte Kapitel (aber damit nicht sein letztes Buch). Am 30. August ist es nun soweit, dann kommt Die Inszenierung in die Buchläden.

    Martin Walser: Die Inszenierung

Augustus Baum, ein berühmter Theaterregisseur, liegt nach einem Schlaganfall im Krankenhaus. Herausgerissen aus der Inszenierung der „Möwe“ von Tschechow, inszeniert er weiter, vom Krankenzimmer aus. Nicht nur das Stück, sondern auch sich selbst. Die Nachtschwester Ute-Marie, seine Frau Dr. Gerda und er sind die Personen, die er so handeln lässt, dass ein Roman draus wird.

Es ist ein Roman, der ohne Erzähler auskommt. Die Figuren handeln durch Rede und Gegenrede, mit einander und gegen einander redend handeln sie. Sie stehen auf dem Spiel, darum müssen sie sprechen. „Die Inszenierung“ ist der Roman der direkten Rede, aber nicht nur das. Obwohl er von nichts als Liebe handelt, ist er eine Seltenheit, wenn nicht sogar Sensation: Dr. Gerda, die Ehefrau, und Ute-Marie, die Nachtschwester, sind bei aller Lebensverschiedenheit gleich gut, gleich bedeutend, gleich zurechnungsfähig und auch gleich schön. Das gibt dem Uralt-Thema eine überraschende, ja faszinierende Aktualität.

Nicht erst seit seinem flammenden Roman „Ein liebender Mann“ kreist Martin Walser um Themen wie Leidenschaft, Abhängigkeit und Wahn. „Die Inszenierung“ ist ein zwischen Ironie und Tragik oszillierendes Kammerspiel über das Kunstwerk der Verheimlichung, die Ehe und das seriöseste und zugleich lächerlichste Leiden überhaupt: die Liebe. (Quelle: u.a. rheingau-musik-festival.de – Vorankündigung für den 20.09.2013 Freitag 20:00 Uhr – Hotel Kloster Johannisberg, Geisenheim-Johannisberg – Walser liest aus seinem neuen Roman)

Mit Augustus Baum werden wir also wieder einem der Walser’schen Protagonisten mit einsilbigen Nachnamen begegnen, derer es nun mit den Zürns, Halm, Horn, Dorn, Fink und zuletzt Schlupp schon eine Menge gibt. Und es wird ein Roman der direkten Rede sein. Auch dürfte allein der Titel darauf hinweisen, dass es doppeldeutig zugeht und es sich nicht allein um eine Theaterinszenierung handeln wird. Mit rund 160 Seiten fällt das Buch dann eher bescheiden aus. Ich bin wieder einmal gespannt …

Heinrich Böll: Der Zug war pünktlich – Erzählung

Bei uns im Ort gibt es das Kaufhaus Bade. Bevor man in den Einkaufsbereich kommt, steht an der rechten Seite ein Regal, in dem man ausrangierte Bücher ablegen, aber natürlich auch mitnehmen kann. Die meisten dieser Bücher sind nicht interessant, aber wenn ich schon bei Bade bin, dann werfe ich doch einen Blick in das Regal und habe dann doch manche literarische Perle gefunden. So auch diese Erzählung, neben einem Band Kurzgeschichten die erste Buchveröffentlichung von Heinrich Böll: Der Zug war pünktlich (Deutscher Taschenbuch Verlag (818), München – 4. Auflage Mai 1973). Eigentlich war es meine Frau, die das Buch entdeckt hat – mehr des Titels wegen …. Urlaubszeit ist für mich auch Lesezeit. So nahm ich das Buch mit und, da inzwischen ausgelesen, liegt es wieder bei Bade für den nächsten Leser parat.

Die umfangreiche Erzählung „Der Zug war pünktlich“ – noch unter dem unmittelbaren Eindruck des Krieges geschrieben – war die erste Buchausgabe, mit der Heinrich Böll 1949 an die Öffentlichkeit trat. Die Geschichte beginnt auf dem Bahnhof einer Stadt im Ruhrgebiet. Ein Soldat sucht sich einen Platz im Fronturlauberzug, der ihn an die Ostfront zurückbringen soll. Es wird eine trostlose Fahrt. „Bald bin ich tot. Ich werde sterben, bald“, denkt der Soldat. Männer, die der Zufall zusammengewürfelt hat, spielen Skat, teilen miteinander Brot und Wurst und versuchen ihre Angst mit Schnaps zu betäuben. Andreas erinnert sich an seinen Freund, an eine Frau, in deren Augen er nur für Bruchteile einer Sekunde blicken konnte, er denkt an seine früheren Verwundungen, und er haßt alle, die den Krieg als eine Selbstverständlichkeit empfinden. In Lemberg hält der Zug. Hier begegnet Andreas einer polnischen Spionin, die als Prostituierte Nachrichten für den polnischen Widerstand sammelt. Die Frau hat Mitleid mit dem Deutschen. Sie will ihn retten. Für Andreas verstärkt sich jedoch die Gewißheit des nahen Todes. Böll hat diese Geschichte vom sinnlosen Sterben mit einem überzeugenden Realismus zu einer erbitterten Anklage gegen den Krieg verdichtet. (aus dem Klappentext)

    Heinrich Böll: Der Zug war pünktlich – Erzählung

„Es gibt Autoren, die dem Krieg einen scheinbaren Adel zugestehen, solche, die den Humor der Kämpfer und ihre elementaren Freuden gekannt haben. In keinem Werk Bölls wird man eine, auch nur einschränkende Billigung des Krieges finden; nirgendwo erscheint der Mensch anders als sein Opfer.“ (Henri Plard – siehe auch fr.wikipedia.org)

Als Publizist und Autor führte Heinrich Böll Klage gegen die Grauen des Krieges und seine Folgen, polemisierte gegen die Restauration der Nachkriegszeit und wandte sich gegen den Klerikalismus der katholischen Kirche, aus der er 1976 austrat. In den sechziger und siebziger Jahren unterstützte er die Außerparlamentarische Opposition. 1983 protestierte er gegen die atomare Nachrüstung. Insbesondere engagierte sich Böll für verfolgte Schriftsteller im Ostblock. Der 1974 aus der UdSSR ausgewiesene Alexander Solschenizyn war zunächst Bölls Gast.

Ich muss gestehen, bisher nur sehr wenig von Böll gelesen zu haben, eher kenne ich die Verfilmungen seiner Romane, so Die verlorene Ehre der Katharina Blum in der Regie von Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta (den Roman habe ich dann aber auch gelesen). So ganz kann ich es mir nicht erklären, so wenig von Böll gelesen zu haben, immerhin vertrat Heinrich Böll Ideale, für die ich auch einstehe. Vielleicht war er mir insgesamt doch zu katholisch, vielleicht auch zu politisch (wahrscheinlich war es diese Mischung aus beidem). Böll erhielt ja 1972 für sein Werk den Nobelpreis für Literatur. Böll-Freunde mögen mir verzeihen. Als Böll 1972 den Nobelpreis erhielt, hätte ich mir (eben schon damals) Günter Grass als Preisträger gewünscht. Und 1999, als dann Grass den Preis erhielt, hätte ich mir Martin Walser gewünscht. Aber ich denke, Walser wird auch ohne Nobelpreis auskommen können.

Jörg Magenau: Martin Walser – eine Biografie

    „Wenn man von etwas nicht auch das Gegenteil sagt, sagt man nur die Hälfte.“
    Martin Walser: Verteidigung der Kindheit
    „Man kann Menschen besser beurteilen nach dem, was sie verschweigen, als nach dem, was sie sagen.“
    Martin Walser: 1. Hauptsatz der ‚menschlichen Wärmelehre’

Jörg Magenaus Martin Walser-Biographie (Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, rororo 24772 – aktualisierte und erweiterte Neuausgabe, Oktober 2008) gewährt einen tiefen Einblick in das Schaffen eines der bedeutendsten Schriftsteller unserer Zeit und untersucht dabei Martin Walsers „spannungsvolles Verhältnis zur deutschen Geschichte und zur Öffentlichkeit. Sie erzählt von Wandlungen, Werk und Wirken, zeigt ihn als Gläubigen und Skeptiker, als heimatverbundenen Familienvater und als ewigen Reisenden, als Machtkritiker und als Freund der Mächtigen, als Lesenden und als Lobenden. Mit dem Porträt des widersprüchlichen Intellektuellen entsteht zugleich eine Kulturgeschichte der Bundesrepublik.“ So steht’s auf der Rückseite des Buchumschlags.

    Jörg Magenau: Martin Walser - eine Biographie

Diese lesenswerte Walser-Biografie war ja bereits Anlass für mich, Walser aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten: Zu Martin Walser (1): Ich bin nicht WalserZu Martin Walser (2): Links und DKP-nahZu Martin Walser (3): Erfahrungen beim Verfassen einer SonntagsredeZu Martin Walser (4): Tod eines Kritikers

Hier möchte ich auf das Schreiben von Martin Walser etwas näher eingehen. Walser ist inzwischen 86 Jahre alt und hat damit ein Alter erreicht, in dem viele schon keine Lust mehr haben, ihre Briefmarkensammlung oder was auch immer zu ordnen, sondern eher ihre letzten Tage zählen. Auch Walser ‚zählt’, denn das Schlimmste ist für ihn, „daß es aufhören könnte.“ Und das Schönste: „Daß einem etwas einfällt, was einem früher nicht hätte einfallen können.“ (S. 569 der Biografie). Oder: „Denn das Alter erlaubt eben auch, weniger Rücksicht nehmen zu müssen auf all das, ‚was sich ziemt.’ – Karl von Kahn (in ‚Angstblüte’): ‚Im Alter nimmt Verschiedenes ab. Auch die Kraft moralisch zu sein.’“ (S. 581)

So schreibt Walser bis zum Schluss: „Sein Interesse konzentrierte sich auf das eigene Bewußtsein. Hier spielt sich alles ab. Die ganze Welt ist Bewußtsein, ist Bewegung, ist Sprache, aber sie geht nicht in der Sprache auf. Deshalb entsteht Dichtung, deshalb muß man schreiben, so wie man auch atmen muß. Das Schreiben ist für Walser eine Lebensfunktion, Eine Schreibkrise kann es folglich nur im Todesfall gebe. Er schreibt einfach immer weiter.“ (S. 397 f.)

Das Schreiben, gerade auch im Alter, ist ein Abwägen: „Was kann man von sich verraten, ohne sich lächerlich zu machen? Was darf man sagen, ohne dafür gerügt zu werden? Und andererseits: Was muß unbedingt heraus, der eigenen Seelenhygiene zuliebe und ohne Rücksicht auf Verluste?“ (S. 591)

Walser, der so häufig in die Schusslinie der Kritiker geraten ist, „der weltgewandte Charmeur, der in Gesellschaft erblüht und erst im Disput über sich hinauswächst – und der Zweifler, der das Gefühl hat, was er zu sagen hätte, bliebe besser ungesagt, weil er sich damit doch nur Ärger einhandeln wird.“ (S. 443) – er weiß inzwischen, „Gegen … medialen Konjunkturen resistent zu sein und eine erfreuliche Gelassenheit entwickelt zu haben gehört zu den Vorzügen der späteren Jahre.“ (S. 573)

Schreiben ist für Walser auch Therapie, um nach Niederlagen noch Herr des Geschehens zu bleiben: „Er mußte den Verlauf […] immer wieder in Gedanken nachvollziehen und aufschreiben, was ihm widerfahren war. Es gelang ihm nicht, seinen Auftritt nachträglich mehr Glanz zu verleihen. Aber das Erzählen machte ihn zum Herrn des Geschehens, obwohl er auch auf dem Papier der Verlierer blieb.“ (S. 420) – Und es gibt die „Erkenntnis, daß es kein Scheitern gibt, sondern immer nur eine Gesellschaft, die einzelne für gescheitert erklärt.“ (S.130)

Wer wie Walser schreibt, der „… entsagt der äußeren Welt, so gut er kann, und ist damit beschäftigt, sie in seinen Romanen zu verschönern, um sie für sich erträglich zu machen. Einen ‚weißen Schatten’ soll sie werfen. Deshalb schreibt er.“ (S. 444) So „versucht [Walser] die Zumutungen des Daseins durch die Schönheit des Ausdrucks zu besiegen.“ (S. 451) – Es ist aber auch ein Schreiben gegen den Monotheismus, ein häufig benutzter „Kampfbegriff Walsers. Damit konnte er islamischen Fundamentalismus, christlich-abendländisches Missionarstum und marxismusfrommen Dogmatismus in einem Begriff zusammenfassen.“ (S. 438)

Wie aber schreibt Martin Walser? Fragen nach Zettelkästen und dergleichen beantwortet die Biografie zwar nicht, aber wir erfahren immerhin, dass es „ … ihm nicht [liegt], eine Handlung zu entwerfen und im Schreiben dann nur noch auszuführen. Die Sprache muß die Führung übernehmen. Er will sich überraschen lassen, wohin es ihn trägt, sonst wäre ihm das Schreiben langweilig. ‚Organisierte Spontaneität’.“ (S. 400)

Zuletzt die Frage nach den Themen, über die Martin Walser schreibt: „Es geht um Konkurrenzverhältnisse, um berufliche Deformationen, um Liebesversuche und Eheherausforderungen: Abhängigkeitsverhältnisse aller Art. Walser interessiert sich nach wie vor für die Anpassungsleistungen, die erforderlich sind, um den gesellschaftlichen Anforderungen zu genügen. Er verlangt seinen Helden keinen Heroismus ab. Er liebt sie, weil sie sind wie er. Das macht seine Bücher zutiefst human.“ (S. 341)

Die Biografie endet damit, dass Martin Walser Goethe mit dem Satz zitiert: „‚Wer mich nicht liebt; der darf mich auch nicht beurteilen.’ Das klingt arrogant, dient aber durchaus der Wahrheitsfindung.“ (S. 600) Dem ist von meiner Seite nichts hinzuzufügen.

Und noch ein Allerletztes zur Biografie: Auf Magenaus Rückfrage behauptete Martin Walser: „Ihr Buch ist interessant zu lesen, aber ich bin das nicht!“

Thomas Mann: Der Tod in Venedig

Eigentlich hatte Thomas Mann nichts ‚Homo-Erotisches’ geplant – es sollte etwas über die
„Leidenschaft als Verwirrung und Entwürdigung“ werden, die Geschichte des Greises Goethe zu jenem kleinen Mädchen in Marienbad (Ulrike von Levetzow). Dem Thema nahm sich stattdessen fast 100 Jahre später Martin Walser an: 2008 veröffentlichte er mit „Ein liebender Mann“ diese Goethe-Ulrike-‚Geschichte’ (dazu später mehr). „Der Tod in Venedig“, eine Novelle von etwas mehr als 100 Seiten, entstand 1911 – und erschien 1913 im Einzeldruck.

Nachdem ich Thomas Manns Der Zauberberg gelesen habe, bot es sich an, jetzt auch (für mich zum ersten Mal) diese Novelle zu lesen – immerhin war „Der Zauberberg“ anfangs als „eine Art von humoristischem, auch groteskem Gegenstück“ zur Erzählung „Der Tod in Venedig“ gedacht. Der Roman also als ‚umgekehrtes’ Pendant zur Novelle. Die Novelle Der Tod in Venedig habe ich so als Taschenbuch (Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, Band 11266, 23. Auflage Oktober 2011 – Original S. Fischer Verlag, Berlin, 1913) vorliegen.

    Thomas Mann: Der Tod in Venedig

Der über 50-jährige Schriftsteller Gustav Aschenbach, seines Erfolgs wegen geadelt, begegnet im Mai 1911 (die Jahreszahl wird nur als 19.. abgegeben, Thomas Mann reiste mit Familie 1911 nach Venedig) auf einem Spaziergang einen seltsamen Mann in Wanderkleidung. Ihm befällt eine Art schweifender Unruhe, die er sich als Reiselust deutet. So macht er sich also auf, um über einen Umweg nach Venedig zu fahren, wo er schon einmal weilte.

Eines „Abends entdeckt von Aschenbach in der Hotelhalle am Tisch einer polnischen Familie einen langhaarigen Knaben ‚von vielleicht vierzehn Jahren’, der ihm als ‚vollkommen schön’ erscheint. Er deutet seine Faszination als ästhetisches Kennertum, eine Kunstauffassung vertretend, die die Sinnlichkeit der Kunst verleugnet. Doch mit jedem Tag, den Aschenbach den jungen Tadzio am Strand beobachtet und bewundert, verfällt der Alternde dem Anblick des Jünglings mehr und mehr.“ (Quelle: de.wikipedia.org).

Nun Thomas Mann hält sich an „ein Gleichgewicht von Sinnlichkeit und Sittlichkeit …“.

„‚Man denke sich den folgenden dichterischen Charakter. Ein Mann, edel und leidenschaftlich, aber auf irgendeine Weise gezeichnet und in seinem Gemüt eine dunkle Ausnahme unter den Regelrechten … vornehm als Ausnahme, aber unvornehm als Leidender, einsam, ausgeschlossen vom Glücke, von der Bummelei des Glücks und ganz und gar auf die Leistung gestellt.’ Was Thomas Mann 1907 noch auf Shakespeares ‚Othello’ bezog, gestaltete er selbst vier Jahre später zu Gustav Aschenbach in dieser ‚Novelle gewagten, wenn nicht unmöglichen Gegenstandes’, vom plötzlichen ‚Einbruch der Leidenschaft’ in einen homo-erotisch veranlagten Menschen. Der nicht mehr junge Schriftsteller Gustav Aschenbach – mit den Gesichtszügen Gustav Mahlers – entdeckt für sich am Lido des schwül-warmen Venedig die Gestalt des apollinisch schönen Knaben Tadzio und strebt in seinen Gedanken zu ihm, steigert sich in eine unerfüllbare Liebe und verspielt damit, nach einem Wort von Heinrich Mann, ‚was ihm das wünschenswerteste schien’.
Ohne seine eigene Intention zu verbergen, erklärte Thomas Mann später (1920 an Carl Maria Weber) Gustav Aschenbachs Sehnen nach Tadzio: ‚Es ist das Problem der Schönheit, daß der Geist das Leben, das Leben aber den Geist als ‚Schönheit’ empfindet’, denn ‚der Geist, welcher liebt, ist nicht fanatisch … er wirbt, und sein Werben ist erotische Ironie …’ Er wollte seine Novelle verstanden wissen als ‚Übersetzung eines schönsten Liebesgedichtes der Welt ins Kritisch-Prosaische, des Gedichtes, dessen Schlußstrophe beginnt: ‚Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste.’’ (Hölderlin, ‚Sokrates und Alkibeiades’)“
(aus dem Klappentext)

In dem Knaben Tadzio entdeckt Thomas Mann „… die geheimnisvolle Verbindung, welche das Gesetzmäßige mit dem Individuellen eingehen müsse, damit menschliche Schönheit entstehe.“ (S. 54). Aber er erkennt auch, „… daß das Wort die sinnliche Schönheit nur zu preisen, nicht wiederzugeben vermag.“ (S. 96)

Auch als Aschenbach erfährt, dass in Venedig die „indische Cholera“ (S. 119) grassiert, bleibt er in der Stadt. „Infiziert durch überreife Erdbeeren, die er bei einem Streifzug durch die Gassen Venedigs gekauft hatte, stirbt Aschenbach an der Cholera, während er aus seinem Liegestuhl Tadzio ein letztes Mal am Strand beobachtet. Dabei erscheint es dem Sterbenden, als lächle und winke der Knabe ihm von weitem zu und deute mit der anderen Hand hinaus aufs offene Meer. ‚Und, wie so oft, machte er sich auf, ihm zu folgen.’“ (Quelle: de.wikipedia.org). Wie heißt es in der Novelle: „… die Sehnsucht ist ein Erzeugnis mangelhafter Erkenntnis.“ (S. 94)

„Der Tod in Venedig“ ist übersät mit vielerlei Todesmotiven. Das beginnt mit der Physiognomie des seltsamen Mannes in Wanderkleidung am Anfang, deren Beschreibung an einen Totenschädel denken lässt und geht weiter über die venezianischen Gondel, deren Farbe mit der Schwärze eines Sarges beschrieben wird. Am Ende ist es der Tod selbst, der Aschenbach ereilt.

Trotz der scheinbar homo-erotischen Thematik ist die Novelle ein Versuch über die Schönheit, der später (so im Felix Krull) als die Suche nach einem androgynen Doppelwesen, ein Wesen, das Mann und Frau in sich vereinigt, zu verstehen ist.

Nun auch für diese Erzählung gilt stellenweise wieder das, was Martin Walser den „Doktor Faustus“ von Thomas Mann zu lesen aufgeben ließ, weil er diese Prosa „nicht ertagen konnte“. Besonders das zweite Kapitel, das im Wesentlichen die Herkunft, den Lebensweg und Charakter Aschenbachs beschreibt (man kann das Kapitel auch gern ‚überspringen’), ist geprägt von einem Schwulst im Stil, aber auch im Inhaltlichen, den Walser im erwähnten „Ein liebender Mann“ (im Bezug auf Goethe) als „Rokoko“ bezeichnet. Hier ein Beispiel:

„Aber es scheint, daß gegen nichts ein edler und tüchtiger Geist sich rascher, sich gründlicher abstumpft, als gegen den scharfen und bitteren Reiz der Erkenntnis; und gewiß ist, daß die schwermütig gewissenhafteste Gründlichkeit des Jünglings Seichtheit bedeutet im Vergleich mit dem tiefen Entschlusse des Meisters gewordenen Mannes, das Wissen zu leugnen, es abzulehnen, erhobenen Haupte darüber hinwegzugehen, sofern es den Willen, die Tat, das Gefühl und selbst die Leidenschaft im geringsten zu lähmen, zu entmutigen, zu entwürdigen geeignet ist.“ (S. 26)

Ansonsten ist „Der Tod in Venedig“ durchaus lohnenswert zu lesen. Und trotz Tod und Verderben, Thomas Mann mag mir verzeihen, weckt die Novelle eine gewisse Reiselust in mir. Der Sommer darf kommen ….

Übrigens: Die Novelle wurde 1971 von Luchino Visconti mit Dirk Bogarde in der Hauptrolle verfilmt. Im Film ist Aschenbach nicht Schriftsteller sondern Komponist.

Siehe hierzu auch: Tadzios schönes Geheimnis

Martin Walser: Jenseits der Liebe

Marcel Reich-Ranicki, der bis dato einflussreichste deutschsprachige Literaturkritiker der Gegenwart (Literaturpapst) hatte den 1976 von Martin Walser verfassten Roman Jenseits der Liebe in der F.A.Z. förmlich verrissen. Unter der Überschrift ‚Jenseits der Literatur’ schrieb er: ‚Ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman. Es lohnt sich nicht, auch nur ein Kapitel, auch nur eine einzige Seite dieses Buches zu lesen’ (siehe meinen Beitrag: Zu Martin Walser (4): Tod eines Kritikers).

Ich habe das gerade einmal 150 Seiten umfassende Buch als suhrkamp taschenbuch 525 – Suhrkamp Taschenbuch Verlag – 1. Auflage 1979 vorliegen und in diesen Tagen erneut gelesen.

Im Klappentext steht hierzu:

Der Firmenrepräsentant Franz Horn, der dem Direktor Thiele und dessen Unternehmen ein höchst erfolgreicher Mitarbeiter war, begreift, daß seine Zeit vorbei ist. Thiele und der jüngere promovierte Kollege Liszt hatten es lange vorzüglich verstanden, durch ein ernsthaft freundschaftliches Verhalten von dieser Degradierung abzulenken. Genau zu jener Zeit, als es begann, mit ihm bergab zu gehen, vollzog sich auch die Trennung Horns von seiner Familie. Was in seinem Arbeitsleben an Pression erzeugt war, an Depression sich angestaut hatte, hatte sich lange genug unkontrolliert und zerstörerisch zu Hause entladen. Als Horn erfolglos von einer Geschäftsreise zurückkehrt, sieht er sich so, wie er ist: ohne glaubwürdige Beziehung zu Menschen, ohne gesellschaftlichen Rückhalt, ohne politische Überzeugung, ohne Selbstvertrauen, darum ohne Glück und Potenz – am Ende.

Walser demonstriert, was es heißt, jene Grenze zwischen Liebe und jenseits der Liebe überschritten zu haben. Er zeigt auf, daß Liebe oder der Mangel daran sich auch sozial begreifen lässt, daß Liebe einsetzbar ist, entzogen werden kann. Daß sie unter vielerlei Namen auftritt und immer ein Teil dessen ist, was uns lebensfähig macht.

    Martin Walser: Jenseits der Liebe

Um es gleich zu sagen: Die Kritik Reich-Ranickis war nicht nur nicht angemessen, sondern auch durch politische Ressentiments bestimmt. Martin Walser galt als linker Intellektueller und sollte ‚abgestraft’ werden. Denn der Roman ist äußerst politisch, geht es in ihm um eine ‚Liebe’, die als Machtinstrument eingesetzt wird. Aber es ist sicherlich auch der Stil, in dem Walser geschrieben hat und der Reich-Ranicki mit Sicherheit nicht gefallen haben dürfte. Hierzu schrieb Aurel Schmidt in der National-Zeitung Basel – und kommt damit der Sache schon deutlich näher:

„Walser schreibt eine zwingende, mitreißende Sprache, die jede Nuance, jede Schattierung, jede kleinste Veränderung, jede Einwirkung auf das Bewußtsein genau registriert … Es ist eine nervige Sprache, in der eine Fülle von Beobachtungen aufgehoben sind.“

Ja, es ist eine ‚nervige Sprache’ – denn die Erzählung in 3. Person Einzahl (‚er’) geht bald in einen inneren Monolog über (‚ich’) oder wechselt zum Pronomen ‚man’, entspricht so fast mehr noch der Erzähltechnik des stream of consciousness. So fließen Erinnerungen in die Erzählung, die den Hintergrund des Geschehens verdeutlichen. Das klingt kompliziert, ist es aber nicht, denn Walser gelingt es auf unnachahmliche Weise den Leser in die Rolle des Franz Horn zu versetzen.

Der Roman ist dabei durchaus aktuell angesichts der Tatsache, dass heute immer mehr Menschen am Burnout-Syndrom erkranken, also besonders emotional erschöpft sind. Franz Horn versucht sich am Ende durch Tabletten selbst zu töten. Das gelingt nicht … Das führte dazu, dass Martin Walser auch diesen Romanunhelden noch einmal in ‚den Ring’ schickte. Sechs Jahre später, 1982, sehen wir die Protagonisten Horn, Thiele und Liszt im Roman Brief an Lord Liszt wieder miteinander kämpfen.


Ravensburg, Galgenhalde

‚Jenseits der Liebe’ spielt übrigens in Ravensburg. Franz Horn lebt in einer Straße namens Galgenhalde, was schon viel besagt.

Heute Ruhetag (37): William Shakespeare – Ein Sommernachtstraum

Er gilt als der Lyriker aller Lyriker, als Dramatiker schlechthin. Wer sich halbwegs für Literatur interessiert, kommt an ihm nicht vorbei: William Shakespeare. 1564 in Stratford-upon-Avon geboren und dort 1616 gestorben. Seine Komödien und Tragödien gehören zu den bedeutendsten und am meisten aufgeführten und verfilmten Bühnenstücken der Weltliteratur. Sein überliefertes Gesamtwerk umfasst 38 Dramen, außerdem Versdichtungen, darunter einen Zyklus von 154 Sonetten.

Die Komödie Ein Sommernachtstraum oder Ein Mittsommernachtstraum (engl. A Midsummer Night’s Dream) wurde 1595 oder 1596 von William Shakespeare geschrieben und vor 1600 uraufgeführt (gedruckt 1600). Das Stück ist eines der meistgespielten Shakespeare-Stücke. In den englischsprachigen Ländern ist der Sommernachtstraum ein Klassiker für Schul- und Laientheaterinszenierungen.

Das Stück beginnt in Athen. Theseus, Herzog von Athen, und Hippolyta, Königin der Amazonen, wollen heiraten. Da erscheint Egeus, ein Athener, gefolgt von seiner Tochter Hermia und dem jungen Athener Lysander, die ein Liebespaar sind. Egeus jedoch hält Demetrius für die bessere Wahl. Dieser ist vernarrt in Hermias Schönheit und hat bei Egeus auch schon um ihre Hand angehalten. Davor hatte er sich aber bereits mit Helena, einer Freundin Hermias, verlobt. Egeus verlangt, dass Hermia bestraft werde, wenn sie seiner Forderung, Demetrius zu heiraten, nicht entspreche. Theseus erklärt, sollte sich Hermia weiterhin nicht dem Willen des Vaters fügen, müsse sie den Rest ihres Lebens in einem Nonnenkloster verbringen oder sterben.

Spätere Szenen spielen im Wald: Der Feenkönig Oberon und seine Gattin zürnen miteinander, leben voneinander getrennt, aber doch in ein und demselben Wald in der Nähe von Athen. In diesen Wald kommen zwei Liebespaare: Helena, die den Demetrius, Demetrius, der die Hermia, Hermia, die den Lysander, Lysander, der die Helena liebt. Oberon erbarmt sich der Liebenden und lässt durch einen Diener Puck, auch Robin Gutfreund genannt – nachdem dieser durch Schelmerei zuerst das Blatt gewendet und neue Verwirrungen angerichtet hat – durch einen Zaubersaft das Gleichgewicht herstellen. (Quelle u.a. klassiker-der-weltliteratur.de)

Literaturinteressierten dürfte die Figur des Handwerkers Zettel vielleicht bekannt sein, gab dieser dem 1970 erschienenen Monumentalwerk des Dichters Arno Schmidt den Titel: Zettel’s Traum. Oberon benützt den einfältigen Zettel, seiner Gemahlin einen Streich zu spielen. Er lässt auf Titanias Augen von einem Liebeszaubersaft tröpfeln, und so hält die Feenkönigin den mit einem Eselskopf versehenen Zettel für einen Liebesgott.

Heute Ruhetag = Lesetag!

Ein Sommernachtstraum

Hippolyta (Königin der Amazonen, mit Theseus verlob).
Was diese Liebenden erzählen, mein Gemahl,
Ist wundervoll.

Theseus (Herzog von Athen).
Mehr wundervoll wie wahr.
Ich glaubte nie an diese Feenpossen
Und Fabelein. Verliebte und Verrückte
Sind beide von so brausendem Gehirn,
So bildungsreicher Phantasie, die wahrnimmt,
Was nie die kühlere Vernunft begreift.
Wahnwitzige, Poeten und Verliebte
Bestehn aus Einbildung. Der eine sieht
Mehr Teufel, als die weite Hölle faßt:
Der Tolle nämlich; der Verliebte sieht,
Nicht minder irr, die Schönheit Helenas
Auf einer äthiopisch braunen Stirn.
Des Dichters Aug, in schönem Wahnsinn rollend,
Blitzt auf zum Himmel, blitzt zur Erd hinab,
Und wie die schwangre Phantasie Gebilde
Von unbekannten Dingen ausgebiert,
Gestaltet sie des Dichters Kiel, benennt
Das luftge Nichts und gibt ihm festen Wohnsitz.
So gaukelt die gewaltge Einbildung;
Empfindet sie nur irgend eine Freude,
Sie ahnet einen Bringer dieser Freude;
Und in der Nacht, wenn uns ein Graun befällt,
Wie leicht, daß man den Busch für einen Bären hält!

Hippolyta.
Doch diese ganze Nachtbegebenheit
Und ihrer aller Sinn, zugleich verwandelt,
Bezeugen mehr als Spiel der Einbildung:
Es wird daraus ein Ganzes voll Bestand,
Doch seltsam immer noch und wundervoll.

aus: Fünfter Aufzug – Erste Szene: Ein Zimmer im Palast des Theseus

    Ein Sommernachtstraum – Oberon und Titania

William Shakespeare: Ein Sommernachtstraum

Zu Martin Walser (4): Tod eines Kritikers

Walser ist ein Differenzierungskünstler der Innenwelten. Weil er sich offenbart, ist er so leicht angreifbar.“ So heißt es auf Seite 520 in Jörg Magenaus Martin Walser-Biographie (Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, rororo 24772 – aktualisierte und erweiterte Neuausgabe, Oktober 2008). In seiner Dankesrede Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels am 11. Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche, in der er eine „Instrumentalisierung des Holocaust“ ablehnte, hatte sich Martin Walser auf diese Weise angreifbar gemacht und musste sich den Vorwurf des Antisemitismus gefallen lassen.

    Jörg Magenau: Martin Walser - eine Biographie

2002 erschien Walsers Roman Tod eines Kritikers. Als Vorbild der Figur André Ehrl-König, des von der Bildfläche verschwundenen Starkritikers, gilt gemeinhin Marcel Reich-Ranicki, der einflussreichste deutschsprachige Literaturkritiker der Gegenwart (Literaturpapst). Bereits 1977 publizierte Martin Walser in DIE ZEIT (25. März 1977) seine Polemik „Über Päpste“ gegen eine sich päpstlich-unfehlbar gerierende Literaturkritik, meinte damit aber hauptsächlich Reich-Ranicki. Und in seinem Roman „Ohne einander“, erschienen 1993, hatte Walser einen Literaturkritiker namens Willi André König eingeführt, der „in der Branche Erlkönig genannt wurde.“

„Noch bevor der Roman anderen Rezensenten zugänglich, geschweige denn im Buchhandel erhältlich war, hatte die FAZ das unredigierte Manuskript zur Prüfung für einen Vorabdruck erhalten. In seinem offenen Brief an Walser lehnte der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher eine Vorveröffentlichung in seiner Zeitung aber ab und machte damit den Inhalt des Werkes öffentlich. Schirrmacher, der 1998 bei der Verleihung des Friedenspreises an Martin Walser noch die Laudatio gehalten hatte, nannte in seinem Artikel den Roman eine zwanghaft aus Verbitterung geborene Abrechnung Walsers mit seinem langjährigen Kritiker Marcel Reich-Ranicki. Als Thema des Buches sah Schirrmacher schlicht den ‚Mord an einem Juden’.“ (Quelle: de.wikipedia.org)

Es entbrannte wieder eine Antisemitismus-Diskussion, denn Marcel Reich-Ranicki ist Jude. Man warf Walser vor, sein „Roman bediene sich bei der Beschreibung Ehrl-Königs durchgängig historischer Chiffren und antisemitischer Klischees.“ Das ging dann sogar soweit, dass man Walser vorwarf, „die Propagierung von ‚Judenhass’ jahrelang vorbereitet zu haben“. Dazu kamen ressentimentgeladene öffentliche Äußerungen Walsers: „In unserem Verhältnis ist er der Täter und ich bin das Opfer“, sagte er 1998 beispielsweise über Reich-Ranicki. „Jeder Autor, den er so behandelt, könnte zu ihm sagen: Herr Reich-Ranicki, in unserem Verhältnis bin ich der Jude.“ („Süddeutsche Zeitung“ v. 19./20. September 1998).

Es ist sicherlich richtig, dass Martin Walser „mit seinem Roman jahrzehntelange Demütigungen [bearbeitete]. Was sich so lange angestaut hatte, musste nun als Wut heraus. Das war eine Notwendigkeit, ein therapeutischer Akt und dann erst, in einem zweiten Schritt, literarischer Gestaltungswille. Als er vollbracht war, fühlte Walser sich ‚so unabhängig wie noch nie’ und behauptete tapfer, über kein Buch so froh gewesen zu sein wie über dieses.“ (S. 528 der Biografie).

Gehen wir ins Jahr 1976 zurück. Walser hatte seinen kleinen Roman „Jenseits der Liebe“ veröffentlicht. „Am 27. März kaufte er sich auf dem Weg nach Frankfurt am Bahnhof die F.A.Z. und fand darin Marcel Reich-Ranickis Rezension, die mit den Sätzen begann: ‚Ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman. Es lohnt sich nicht, auch nur ein Kapitel, auch nur eine einzige Seite dieses Buches zu lesen’. Schon die Überschrift – ‚Jenseits der Literatur’ – gab kund, daß es Reich-Ranicki eher um eine Exkommunizierung als um sachliche Kritik zu tun war. […] Vom einstigen Talent sei nichts übriggeblieben als Sterilität, Geschwätzigkeit und eine saft- und kraftlose Diktion. Ja, er diagnostizierte geradezu eine Verbalinkontinenz, wenn er dem Autor vorwarf, ‚Die Worte nicht mehr halten’ zu können.“ (S. 343)

Dem nächsten Werk Walsers, der Novelle Ein fliehendes Pferd (1978), war dann Reich-Ranicki dann schon wieder eher wohlgesonnen: Walser habe „offenbar nicht mehr den Ehrgeiz, mit der Dichtung die Welt zu verändern. Er will nur ein Stück dieser Welt zeigen. Mehr sollte man von Literatur nicht erwarten.“ (Marcel Reich-Ranicki: Martin Walsers Rückkehr zu sich selbst. In: FAZ, 4. März 1978). Aber nichts anderes wollte Walser schon mit seinem Roman „Jenseits der Liebe“. Reich-Ranicki wertete nicht Literatur, sondern die Gesinnung des Schriftstellers.

Sinngemäß äußerte sich Reich-Ranicki einmal so: Schriftsteller sollten froh sein, wenn er sie rezensiere. Lobt er ein Buch, so dürfte es 100.000 Leser finden. Bei einem Verriss sind es dann immer noch 20.000.

Kein Wunder, wenn sich Martin Walser eines Tages dieser Gestalt eines machtbesessen „Großkaspars“ annahm, der nach Meinung vieler Literaturkenner keine seriöse Literaturkritik betreibt, sondern Selbstinszenierung auf Kosten der Schriftsteller. Es ging für Walser aber um mehr, nämlich vor allem um die Schilderung der Machtverhältnisse im Literaturbetrieb insgesamt – und die Mechanismen, die ihn im Innersten zusammenhalten. Das Ergebnis ist der Roman ‚Tod einer Kritikers’.

Dabei „glaubte [Walser], keine ‚Abrechnung’ und schon gar keine ‚Exekution’ geschrieben zu haben, wie Kritiker ihm vorhielten, sondern auch eine versteckte Liebeserklärung.“ (S. 528 der Biografie) – „Er hatte ja sogar – davon war er überzeugt – Reich-Ranicki in der Figur des André Ehrl-König schöner, witziger, größer, souveräner gemacht, als er wirklich war. Bloß daß ihm das niemand abnehmen wollte.“ (S. 543)

Und: „Das Buch ist nicht antisemitisch, sondern handelt davon, wie Antisemitismus zum Medienthema wird.“ (S. 530) Aber das erkannten nur die wenigsten. „‚So leidenschaftlich geht die Suche nach verdächtigen Stellen mittlerweile voran, daß jeder, der keine Passage mit ‚antisemitischen Klischees’ finden kann, sich selbst des Antisemitismus verdächtig macht’, beschrieb Thomas Steinfeld in der Süddeutschen Zeitung die Atmosphäre.“ (S. 522)

„Reich-Ranicki […] behauptete allen Ernstes, in ‚Tod eines Kritikers’ werde nach ‚dem Vorbild des ‚Stürmers’ ‚gegen Juden gehetzt’. ‚Der Autor vom Bodensee’ [wie er Walser jetzt nur noch nannte] kann sich nicht damit abfinden, daß ich noch lebe und arbeite. Er kann sich ja ausrechnen, daß das nicht mehr lange dauern wird. Aber er ist auf grausame Weise ungeduldig.’ Angst habe er, sagte der wortgewaltige Kritiker, als müsse er tatsächlich um sein Leben fürchten.“ (S. 537)

Interessant dabei ist, dass die öffentliche Diskussion über Walsers Werk in vielen Punkten dem Drehbuch des Romans folgte, weswegen dieser aus heutiger Sicht, wie schon Sigrid Löffler bemerkte, „gnadenlos klug und fast prophetisch“ wirkt. Oder wie es in der Walser-Biografie heißt: „Schirrmacher […] schrieb: ‚Es geht hier nicht um die Ermordung des Kritikers als Kritiker (…). Es geht um den Mord an einem Juden.’ Auch diesen unerhörten Vorwurf mußte er nur aus Walsers Roman abschreiben. ‚Das Thema war jetzt, daß Hans Lach einen Juden getötet hatte’, heißt es da. Walser schildert an dieser Stelle die Funktionsweise der Medien, die in ihrer Aufmerksamkeitskonkurrenz stets auf den größtmöglichen Skandal aus sind. Der größtmögliche Skandal aber ist der Antisemitismus. ‚Erst jetzt hatten die Medien ihr Saisonthema gefunden’, heißt es im Roman, der als Farce vorwegnahm, was in der Wirklichkeit als Tragödie folgte. Erstaunlich wie präzise die medialen Nachspieler sich an das Drehbuch hielten. Walser hätte sich über seine prognostische Präzision freuen können, wenn sie ihn nicht selbst getroffen hätte.“ (S. 531)

siehe hierzu auch: Das vermeintliche Skandalbuch

Nun auch diesen ‚Skandal’ hat Martin Walser überlebt. Ich hatte damals das Buch gelesen und konnte der Anschuldigungen wegen nur den Kopf schütteln. Natürlich brannte Walser einiges auf der Seele. Und was macht man als Schriftsteller, man schreibt es sich von dieser. Aber es ist kein Roman aus dem Affekt heraus. Walser hat sicherlich lange recherchiert und alles von Belang gesammelt. Und natürlich war da die Lichtgestalt Reich-Ranickis ein ‚gefundenes Fressen’.

Gegenüber Biografien bin ich immer etwas skeptisch. Aber die Martin Walser-Biographie von Jörg Magenau kann ich jedem nur wärmstens empfehlen, der sich wenigstens etwas für Walser interessiert. Inzwischen ist diese Biografie zu einer Art Standardwerk für den ‚Autor vom Bodensee’ geworden, auch wenn Walser auf Magenaus Rückfrage behauptete: „Ihr Buch ist interessant zu lesen, aber ich bin das nicht!“.

siehe auch:
Zu Martin Walser (1): Ich bin nicht Walser
Zu Martin Walser (2): Links und DKP-nah

Martin Walser: Ein fliehendes Pferd – der Film

Stellt euch vor, ihr seid im Urlaub am Bodensee (oder in den Alpen, z.B. in Grainau, oder an Ost- oder Nordsee, vielleicht auch am Scharmützelsee in Bad Saarow – wo auch immer) und werdet von einem euch zunächst Unbekannten angesprochen. Es stellt sich heraus, dass es sich um einen alten Schul- und/oder Studienkamerad handelt. Eigentlich wollte man in Ruhe einmal lesen, sich entspannen, einfach Ruhe haben. Und jetzt das! Der alte Schulkamerad erweist sich als „gleichermaßen besessen von Fitness wie gesunder Ernährung. Er ist verheiratet mit der deutlich jüngeren Helene. Sogleich wärmt er Erinnerungen an die gemeinsame Vergangenheit mit Helmut auf, was dieser, in seinem Bestreben von der Welt verkannt zu werden, nur mit Unbehagen über sich ergehen lässt. Gegen seinen Willen treffen sich die Paare zu weiteren Freizeitaktivitäten. Dabei polemisiert Klaus Buch aus der scheinbar überlegenen Warte des geistig und sexuell befreiten Erfolgsmenschen gegen das verklemmte und spießige Kleinbürgertum, während sich Helmut mit der Verteidigung seiner Lebensweise in die Defensive gedrängt sieht.“ (Quelle: de.wikipedia.org).

Helmut Halm, der Antiheld aus Martin Walsers Novelle Ein fliehendes Pferd, ist sichtlich pikiert, besonders als jener Klaus Buch peinliche Jugenderinnerungen ausbreitet. Lieber möchte sich Helmut „klammheimlich aus dem Staub machen, doch Sabine, die unter Helmuts geschwundenem Interesse an ihr und unter dem all zu ruhigen Eheleben leidet, ist der Abwechslung und dem Kontakt zum prahlerischen und lebenslustigen Klaus nicht abgeneigt.“ Und die ungezwungen zur Schau gestellte Erotik Helenes erregt und geniert ihn gleichermaßen.


Martin Walser: ein fliehendes Pferd – Filmvergleich 1985 – 2007

Die Novelle wurde 1985 in der Regie von Peter Beauvais und nach einem Drehbuch von Ulrich Plenzdorf fürs Fernsehen verfilmt. Darsteller warem Vadim Glowna, Rosel Zech, Dietmar Mues und Marita Marschall. 2007 gab es eine eine Neuverfilmung: Ein fliehendes Pferd unter der Regie von Rainer Kaufmann mit Ulrich Noethen als Helmut, Ulrich Tukur als Klaus, Katja Riemann als Sabine und Petra Schmidt-Schaller als Hel. Die Novelle wurde diesmal wesentlich freier als die erste Verfilmung in die Gegenwart übertragen. Dabei legte der Film seinen Fokus auf eine unterhaltende Beziehungskomödie. Als mehr Mainstream als Walser.

    Ein fliehendes Pferd - Filmplakat

Ich kann mich noch dunkel an die erste Verfilmung erinnern. Vadim Glowna hat mir als Schauspieler immer schon sehr gut gefallen. Der Film war den 80er Jahren zeitgemäß, auch wenn Martin Walser selbst den Film im Nachhinein als „Katastrophe“ empfand, die „nur die Novelle geplündert“ habe. Es ist immer etwas problematisch, Romane oder Novellen zu verfilmen. Anders mit der Neuverfilmung: Diesmal war Walser mit dem Ergebnis zufrieden: „Es ist ein Filmkunstwerk der eigenen Art, keine Verfilmung.“


Martin Walser: ein fliehendes Pferd – Trailer 2007

Witzig der Hinweis am Schluss des Trailers: Das Buch ist ab jetzt im Handel erhältlich! Natürlich war die Novelle (wenn auch in anderer Aufmachung) bereits seit 1978 erhältlich und mauserte sich im Laufe der Jahre zu einem Bestseller mit einer Gesamtauflage von über einer Million Exemplaren.

Zum Film zurück: Ich habe ihn mir ‚endlich’ in diesen Tagen abgeschaut. Sicherlich ist es keine Filmsensation. Immerhin lassen sich die Romanfiguren auch im Film wiedererkennen, was mir besonders bei den männlichen Rollen gefällt: Ulrich Noethen als Helmut ist der durchaus nörglerische, sicherlich nicht immer zufriedene Typ, der einen Zustand von Ruhe und Unbeweglichkeit angenommen hat, den er immerhin zu genießen weiß. Nur ganz so spießig ist er eigentlich nicht. Auch wenn es andere anders sehen, aber Helmut ist mir der sympathischere Mensch, vielleicht weil ich mich in gewisser Weise in ihm erkenne. Auch Ulrich Tukur als Klaus trifft durchaus seine Rolle. Ich mag diesen überdrehten Klaus genauso wenig wie Helmut. In der Novelle „enthüllt Helene die Verlogenheit ihres Lebens an dessen Seite: Klaus war von Selbstzweifeln zerfressen, glaubte nicht an seine Fähigkeiten als Journalist, sah sich als Versager.“ Der Film lässt dies aus.

Etwas nervig fand ich die Filmmusik, einen leichten Jazz mit dem „Flair der 60er-Jahre-Softpornomusik“. Nun ja … Ansonsten empfand ich den Film als Einladung zu einem Urlaub am Bodensee. Soweit haben mich meine Füße bisher noch nicht getragen. Was nicht ist, kann aber ja noch werden.