In gewisser Weise ließen sich diejenigen am leichtesten von der Parteidoktrin überzeugen, die ganz außerstande waren, sie zu verstehen. Diese Menschen konnte man leicht dazu bringen, die offenkundigsten Vergewaltigungen der Wirklichkeit hinzunehmen, da sie nie ganz die Ungeheuerlichkeit des von ihnen Geforderten begriffen und überhaupt nicht genügend an politischen Fragen interessiert waren, um zu merken, was gespielt wurde.
(George Orwell: 1984, S. 144)
30 Jahre sind inzwischen seit dem Jahr 1984 vergangen. Und man kann sich fragen, was sich von dieser finsteren Zukunftsversion, die George Orwell in seinem Roman 1984 beschreibt, verwirklicht hat. Ich habe den Roman vorliegen als Ullstein Buch 3253 – Verlag Ullstein, Frankfurt/M – Berlin – Wien, April 1983, 900. – 11020. Tsd. – aus dem Englischen von Kurt Wagenseil (Original: Nineteen Eighty-Four).
Denkt man nur an all die Überwachungskameras, die allerorten angebracht sind, und denkt man an den NSA-Abhörskandal, der Anfang Juni 2013 durch den ehemalige Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden enthüllte wurde: Seit spätestens 2007 werden in großem Umfang die Telekommunikation und insbesondere das Internet durch Geheimdienste der USA und Großbritannien global und verdachtsunabhängig überwacht. Dann fragt es sich, ob wir inzwischen nicht wirklich in einem Überwachungsstaat leben. Besonders die so genannte Vorratsdatenspeicherung birgt eine Vielzahl von Gefahren für demokratische Gesellschaften. Denn dies steht im grundsätzlichen Widerspruch zu dem etwa in Deutschland höchstrichterlich festgelegten Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Außerdem baut ein solches Überwachungssystem auf der Grundannahme auf, dass jeder Mensch grundsätzlich ein potenzieller Straftäter sei und daher überwacht werden müsse.
Ist Orwells 1984 also schon Realität? Immerhin gilt der Roman als häufig zitiertes Negativ-Beispiel und als Symbol eines zur Diktatur ausgearteten Überwachungsstaats. Orwell prägte auch den Begriff Big Brother (engl. Großer Bruder): Big Brother is watching you!
Mit atemberaubender Unerbittlichkeit zeichnet der Autor in diesem visionären Roman das erschreckende Zukunftsbild einer durch und durch totalitären Gesellschaft, die bis ins letzte detail durchorganisierte Tyrannei einer absolut autoritären Staatsmacht. Dieses Buch entstand unter dem Eindruck unkontrollierter Willkürherrschaft, des Nazismus, des Faschismus, des Stalinismus, aber auch der wirtschaftsimperialistischen Tendenzen bei den Industriemächten während des Zweiten Weltkrieges. Pessimistischer und grimmiger noch als in seinen anderen Büchern bringt Orwell hier seine Überzeugung zum Ausdruck, daß die Machtstruktur einer Gesellschaft auch durch Revolution nicht grundlegend verändert werden kann und daß die Zerstörung des Menschen durch eine perfektionierte Staatsmaschinerie unaufhaltsam ist. Seine düstere Zukunftsvision gewinnt dadurch einen beklemmenden Wirklichkeitsbezug, dem sich auch der Leser von heute nur schwer entziehen kann.
(aus dem Klappentext)
„1984“ ist eigentlich nur ein Zahlendreher und bezieht auf das Jahr 1948 (der Roman erschien 1949). Laut Anthony Burgess (in den Essays zu seinem Roman 1985) beschreibt Orwell in seinem Roman ‚eigentlich’ das London der Nachkriegszeit. Auch in London gab es damals Versorgungsengpässe. Teile der Stadt waren in der Luftschlacht um England zerstört. Der ehemalige Sitz des ‚Ministry of Information’ in London entspricht der Beschreibung nach den vier Ministerien im Roman, wobei das ‚Ministry of Love’ im Buch keine Fenster enthält.
Kurz zum Inhalt: Die Welt ist in die drei verfeindeten Machtblöcke Ozeanien, Eurasien und Ostasien aufgeteilt, die sich in dauerhaftem Krieg miteinander befinden. Die Handlung des Romans spielt in Ozeanien, wo eine vom – nie wirklich sichtbaren – „Großen Bruder“ (Big Brother) geführte Parteielite („Innere Partei“) die restlichen Parteimitglieder („Äußere Partei“) und die breite Masse des Volkes (die „Proles“) unterdrückt. Die allgegenwärtige „Gedankenpolizei“ überwacht permanent die gesamte Bevölkerung. Mit nicht abschaltbaren Geräten, die zugleich alle Wohnungen visuell kontrollieren und abhören, schürt das Staatsfernsehen Hass auf einen unsichtbaren „Staatsfeind“ namens Emmanuel Goldstein, der angeblich die gegen die Partei gerichtete Untergrundorganisation der „Bruderschaft“ leitet. Dieser Hass wird den Menschen als Teil der allgegenwärtigen Propaganda täglich neu eingehämmert und dient dazu, die Bevölkerung durch das gemeinsame, allgegenwärtige und anscheinend übermächtige Feindbild zusammenzuschweißen und von ihrem entbehrungsreichen, von harter Arbeit geprägten Leben abzulenken. (Quelle und weitere Inhaltsangabe und zu den Figuren Winston Smith, Julia und O’Brien siehe de.wikipedia.org)
Nun der Superstaat Ozeanien ist nicht allein ein Überwachungsstaat. Es gibt auch andere Methoden der Machtausübung, die noch tiefere Wirkung zeigen. Da ist die Kontrolle bzw. Manipulation der Vergangenheit. Im Ministerium für Wahrheit wird ein gigantischer Aufwand betrieben, alle existierenden Dokumente der gegenwärtigen Parteilinie anzupassen. Was dem augenblicklichen Bild nicht entspricht, wird angepasst oder getilgt. Heute erleben wir diese ‚Verdammnis des Andenkens’ (Damnatio memoriae) meist darin, dass eine ‚Sache’ ausgesessen wird in der Hoffnung, dass bestimmte Fakten möglichst schnell vergessen werden. Oder es gibt ‚Manipulationen’ in der Form, dass z.B. von Politikern bestimmte Behauptungen aufgestellt werden, die schwer zu überprüfen sind oder eher noch einfach nicht überprüft werden. In Kombination mit einer Abart des Orwell’schen Zwiedenken (auch Doppeldenk), der Fähigkeit, in seinem Denken zwei widersprüchliche Überzeugungen aufrechtzuerhalten und beide zu akzeptieren, werden die Bürger getäuscht.
Aber Orwell geht noch weiter und kreiert eine neue Sprache, die eines Tages alle Bürger des Superstaates sprechen sollen: Neusprache bzw. Neusprech. „Neusprech“ bezeichnet die vom herrschenden Regime vorgeschriebene, künstlich veränderte Sprache. Das Ziel dieser Sprachpolitik ist es, die Anzahl und das Bedeutungsspektrum der Wörter zu verringern, um die Kommunikation des Volkes in enge, kontrollierte Bahnen zu lenken. Damit sollen sogenannte Gedankenverbrechen unmöglich werden. Durch die neue Sprache bzw. Sprachregelung soll die Bevölkerung so manipuliert werden, dass sie nicht einmal an Aufstand denken kann, weil ihr die Worte dazu fehlen.
Auch in unseren Zeiten gibt es einen allmählichen Wandel der Sprache, der weniger augenfällig ist als in „1984“ mit „Neusprech“. Dieser Wandel verläuft eher unterschwellig und wird außer durch die Politik besonders auch durch Medien, Wirtschaft usw. forciert. Ich denke dabei z.B. auch Wörter, die jährlich für das Unwort des Jahres nominiert werden und oft Euphemismen für unangemessene, sogar menschenverachtende Begriffe darstellen. Ich verweise hierbei erneut auf Neil Postman und sein Buch Wir amüsieren uns zu Tode. Und: Was bestimmte Fachtermini betrifft, da nimmt unser Wortschatz sicherlich noch zu. Der Wortschatz für allgemeine Begriffe minimiert sich dagegen zusehends.
Apropos Neil Postman und sein Buch „Wir amüsieren uns zu Tode“. Dort schrieb er in einer Einleitung (ich wiederhole mich gern noch einmal):
„Orwell fürchtete diejenigen, die Bücher verbieten. Huxley befürchtete, daß es eines Tages keinen Grund mehr geben könnte, Bücher zu verbieten, weil keiner mehr da ist, der Bücher lesen will.“ „Dieses Buch handelt von der Möglichkeit, daß Huxley und nicht Orwell recht hatte.“ (aus der Einleitung, S. 7f.)
Huxleys „Schöne neue Welt“ ist eine andere Art eines dystopischen Roman (Anthony Burgess nennt solche Anti-Utopien in seinem Buch „1985“ Kakotopien, zu griech. κακός (kakós): schlecht). Natürlich kannte Orwell den aus den 1930-er Jahren stammenden Roman. Er glaubte aber nicht, dass es zu einer solchen Gesellschaft kommen könnte; wenn ja, dann hätte sie „keinen Bestand“. So schrieb er an zwei Stellen in „1984“ ( in der „Theorie und Praxis des oligarchischen Kollektivismus“):
Anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts gehörte die Vision einer zukünftigen unglaublich reichen, über Muße verfügenden, geordneten und tüchtigen Gesellschaftsordnung – einer schimmernden antiseptischen Welt aus Glas, Stahl und schneeweißem Beton – zum Vorstellungsbild nahezu jedes gebildeten Menschen. Wissenschaft und Technik entwickelten sich mit wunderbarer Geschwindigkeit, und die Annahme schien natürlich, daß sie sich immer weiterentwickeln würden. Das war jedoch nicht der Fall, teils infolge der durch eine lange Reihe von Kriegen und Revolutionen verursachten Verarmung, teils weil wissenschaftlicher und technischer Fortschritt von einem durch Erfahrung gestützten Denken abhingen, das in einer diktatorisch kontrollierten Gesellschaftsordnung keinen Bestand haben konnte. (S. 173)
Es war zweifellos möglich, sich eine Gesellschaftsordnung vorzustellen, in der Wohlstand im Sinne von persönlichen Besitz und Luxusartikeln gleichmäßig verteilt war, während die Macht in den Händen einer kleinen privilegierten Schicht lag. Aber in der Praxis würde eine solche Gesellschaftsordnung nicht lange Bestand haben […]
Noch einmal die Frage: Ist Orwells 1984 also schon Realität? Wie steht es mit Huxleys Prophezeiungen? Orwell mag vielleicht nur in Nord-Korea wirklich sein, denn sein Überwachungsstaat ist totalitär. Bei uns sind aber Tendenzen erkennbar, die sowohl Orwell wie Huxley Recht geben. Wir leben in einer Welt, in der das Vergnügen, die Unterhaltung und Ablenkung wichtige Elemente der Lebensgestaltung sind. Wir leben in einer Welt, in der wir mehr und mehr manipuliert werden, in der die Vergangenheit vielleicht nicht getilgt, aber den ‚heutigen Notwendigkeiten’ gern angepasst wird, indem uns nur Halbwahrheiten mitgeteilt werden. Und unser Privatleben wird ausgehorcht, um unser gesamtes Verhalten zu erforschen und damit Daten zu dessen Manipulation zu erhalten. Big Brother is watching you! Und Big Sister unterhält dich prächtig!
Huxleys Roman wurde mehrmals verfilmt. Die Ergebnisse waren eher bescheiden. Auch Orwells „1984“ wurde mehrmals verfilmt, einmal 1959, eher profan, und dann im Jahr 1984 selbst. Diese Verfilmung 1984 von Michael Radford mit John Hurt als Winston Smith, Suzanna Hamilton als Julia und Richard Burton als O’Brien in seiner letzten Filmrolle ist dagegen wirklich sehenswert, u.a. auch deshalb, weil sich der Film sehr eng an der Romanvorlage orientiert.
George Orwells 1984 – der Film (Trailer)
Aber das ist noch lange nicht alles. Der bereits erwähnte Roman „1985“ von Anthony Burgess (in Anspielung auf Orwells „1984“), den ich zur Zeit lese, enthält neben aufschlussreichen Essays zu Orwells „1984“ eine Art ‚Hochrechnung’ der Gegenwart (aus der Sicht von 1978, da erschien das Buch). Hauptthemen sind dabei die wachsende Macht der Gewerkschaften und der Islam. Dazu später mehr.