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WilliZ Welt der Literatur

Leo Rosten: Jiddisch – eine kleine Enzyklopädie

Mit der jiddische Sprache habe ich mich hier in meinem Blog schon öfter befasst. Es ist nach allgemeiner Meinung eine aus dem Mittelhochdeutschen hervorgegangene westgermanische, mit hebräischen, aramäischen, romanischen, slawischen und weiteren Sprachelementen angereicherte Sprache, die von den aschkenasischen Juden (die Juden in Mittel-, Nord- und Osteuropa und ihre Nachfahren, z.B. die in die USA ausgewandert sind) gesprochen und geschrieben wurde und noch wird. Geschrieben wird diese Sprache mit hebräischen Buchstaben, für die es allerdings unterschiedliche Transliterationen in lateinische Buchstaben gibt.

Von dem älteren meiner beiden Söhne habe ich mir jetzt ein lexikarisches Werk ausgeliehen und gelesen, das von Leo Rosten verfasst, inzwischen ergänzt und kongenial ins Deutsche von Lutz-W. Wolff übersetzt und bearbeitet wurde: Jiddisch: Eine kleine Enzyklopädie.

    Leo Rosten: Jiddisch - eine kleine Enzyklopädie

Was chuzpe, koscher und meschugge heißt, wissen Sie sicher. Einen bagel, gefilte fisch oder lox haben Sie vielleicht auch schon gegessen. Aber wissen Sie, was das alles mit der Tora, dem Talmud und dem jüdischen Glauben zu tun hat? Jiddisch ist diejenige europäische Sprache, die dem Deutschen am nächsten steht. Wenn es heute im amerikanischen Slang hunderte von deutsch/jiddischen Lehnwörtern gibt, dann verdanken wir das nicht zuletzt den jüdischen Auswanderern, die ihre aus dem Mittelhochdeutschen stammende Sprache nach Amerika importiert haben.

Leo Rosten hat Ende der sechziger Jahre ein vergnügliches Hausbuch geschaffen, das jiddische Wörter, jüdische Geschichte, Folklore und Witze mit einer zwanglosen Einführung in die Grundelemente des Judaismus verbindet und uns so mit einer Welt vertraut macht, die uns fast verloren gegangen wäre. Für die vorliegende deutsche Ausgabe wurde das Buch mit vielen Stichworten angereichert, die uns aus der deutschen Alltagssprache vertraut sind.

Leo Rosten wurde 1908 in Lodz geboren. Aufgewachsen ist er in einem Arbeiterviertel Chicagos. Seine ›Hyman Kaplan‹-Romane beruhen auf Personen aus dieser Umgebung. Sein Humor, der mit Scholem Alejchem und Mark Twain verglichen wird, machte ihn bald populär, aber keines seiner Bücher hatte eine so nachhaltige Wirkung wie die ›Joys of Yiddish‹, die nicht weniger als 17 Auflagen und Neuausgaben erlebten. Leo Rosten starb am 19. Februar 1997.
(aus dem Klappentext)

Wer sich fürs Judentum, für die Religion des Judaismus und speziell für die jiddische Sprache interessiert, dem sei das vorliegende Buch wärmstens ans Herz gelegt. Es ist als Lexikon konzipiert. Aber wer einmal einen Blick hingeworfen hat, wird es bald von A bis Z durchlesen wollen, vielleicht nicht in einem Rutsch, eher nach und nach. Es ist nicht nur aufschlussreich, sondern äußerst amüsant verfasst; zu vielen Stichworten gibt es auch typisch jüdische Witze. Ich mag den jüdischen Humor.

Viele der jiddischen Wörter stammen aus dem Deutschen, genauer: aus dem Mittelhochdeutschen. Aber es gibt auch viele hebräische Begriffe, die über das Jiddische in den deutschen Wortschatz eingeflossen sind. Fast jeder benutzt diese Begriffe, ohne deren Herkunft zu kennen: Bammel haben oder Massel haben (bzw. etwas vermasseln), blau machen/sein, Schmiere stehen, Tacheles reden (nein, kommt nicht aus dem Griechischen), einen guten Rutsch wünschen – oder auch Wörter wie Pleitegeier, Reibach, Tinnef, Techtelmechtel oder Zoff.

Viele heutige Redensarten, Grundsätze und Sprichwörter entstammen in dieser oder jener Formulierung dem Talmud [eines der bedeutendsten Schriftwerke des Judentums, das aufzeigt, wie die Regeln der Tora in der Praxis und im Alltag von den Rabbinern verstanden und ausgelegt wurden – Tora, der erste Teil der Bibel: die fünf Bücher Moses]:

„Urteile im Zweifel für den Angeklagten.“
„Auch der Dumme kann fromm sein.“
„Achte auf den Inhalt, nicht auf die Verpackung.“
„Eine gute Tat führt zur nächsten.“
„Du sollst deinem Kind nicht drohen. Bestrafe es oder vergib ihm.“
„Beginne den Unterricht stets mit einer heiteren Erläuterung.“
„Böse Nachbarn zählen das Einkommen eines Mannes, nicht seine Unkosten.“
[…]
„Wenn man in Rom ist, soll man seinen Bräuchen folgen.“
„Ende gut, alles gut.“ (Das vor allen Dingen!)

(S. 599)

Anhand eines Begriffs (fefillin bzw. tfiln = Gebetsriemen) zeige ich auf, wie sich dieses Lexikon gestaltet. Apropos Gebetsriemen: Viele haben diese zwar auf Bildern schon einmal gesehen, was sie aber bedeuten, wissen die wenigsten. Hier (auch nur in Auszügen) der Text dazu:

tefillin siehe tfiln.

tfiln (f. Pl.)
Aus dem hebräischen tefilín „Phylakterien, Gebietsriemen“. Hebräisch tefilá „Gebet“.

In Amerika: tfiln, tefillin, t‘fillin

Gebietsriemen. Tefillin sind zwei lange, dünne Lederriemen mit denen sich fromme Juden zwei quadratische Lederkapseln (von etwa fünf Zentimeter Länge und Breite) am linken Arm und an der Stirn befestigen, wenn sie beten. Die Kapseln enthalten kleine Pergamentstreifen mit vier Schriftversen aus Exodus (13,1-10; 13,11-16) und dem Deuteronomium (6,4-9; 11,13-21) in hebräischer Sprache. Die Tefillin werden von erwachsenen orthodoxen Juden beim Morgengebet getragen.

Der Gebrauch der Tefillin geht auf Exodus 13,9 zurück, wo es heißt: „Darum soll dir’s ein Zeichen sein in deiner Hand und ein Denkmal vor deinen Augen, auf dass des Herrn Gesetz sei in deinem Munde.“ Widerholt wird dieses Gebot im Deuteronomium 6,8.

Die Art und Weise, wie Tefillin angelegt werden, ist genau vorgeschrieben. Sie werden, zum Zeichen der Ehrfurcht, im Stehen getragen. Die eine Kapsel wird auf der Innenseite des linken Arms unmittelbar über dem Ellenbogen getragen (auf diese Weise ist sie beim Beten in der Nähe des Herzens); der Riemen wird sieben Mal um den linken Unterarm geschlungen. Die andere Kapsel wird auf der Stirn getragen, meist oberhalb des Haaransatzes; der Riemen wird um den Kopf geschlungen und verknotet. Die losen Enden werden über die Schulter gelegt und hängen nach vorn. Schließlich wird das Armband dreimal um den Mittelfinger der linken Hand gewickelt (das steht für den hebräischen Buchstaben schin, mit dem der kabbalistische Gottesname Schaddai beginnt).

Das ganze Ritual hat die psychologische Wirkung, dass es dem Betenden hilft, weltliche Sorgen abzuschütteln und sich auf den Gottesdienst zu konzentrieren. […]

Am Sabbat wurden keine Gebietsriemen getragen. Der Sabbat war ein heiliger Tag und bedurfte zusätzlicher Heiligung durch die Gebetsriemen nicht. […]

All dies deutet daraufhin, dass es sich bei den „Phylakterien“ – das griechische Wort phylakterion bedeutet „Schutz“ oder „Festung“ – ursprünglich um eine Art Amulett handelte. Die Juden glaubten, dass jeder, der die Tefillin trägt, vor Schaden geschützt sei, weil „Gottes Glanz“ auf ihn falle. Deshalb war es auch verboten, die Gebetsriemen mit dem Gebetsschal zu verdecken. Es war sogar üblich, die Tefillin auf der Straße zu tragen, aber da dies die Aufmerksamkeit von Antisemiten erregte und Verfolgungen auslöste, setzt sich diese Sitte nie wirklich durch. […]
(S. 606 f.)

    Tefillin – Gebetsriemen der Juden

„Dieses Wörterbuch ist eine Freude.“ (Viola Roggenkamp in der ‚Zeit‘)

„Leo Rostens Standardwerk erklärt die jiddischen Begriffe äußerst amüsant mit Synonymen, Anekdoten und Witzen Es ist also auch ein Lexikon des jüdischen Lebens, der jüdischen Soziologie und Geschichte wie auch der Religion. Die deutsche Ausgabe wurde nicht nur kongenial übersetzt, sondern auch kommentiert und um viele wichtige Teile ergänzt. Rostens Buch zu lesen ist ein Vergnügen.“ (Arno Lustiger in der ‚Welt‘)

siehe auch: Jiddische Seiten – Yiddishe Saiten

Misha Amouk: Goodbye, Jehova – Wie ich die bekannteste Sekte der Welt verließ

Wem sind die Zeugen Jehovas noch nicht ‚über dem Weg gelaufen‘. Es gibt wohl keinen, bei dem sie noch nicht an der Haustür geklingelt haben. Meist ist man peinlich berührt, weil man einerseits keine Lust hat, mit denen längere Gespräche zu führen, andererseits aber höflich sein möchte, auch wenn man sie abweist. Die Zeitschrift Wachtturm hat jeder schon einmal in Händen gehalten, die wenigstens haben hineingeschaut. Wenn man etwas von den Zeugen Jehovas weiß, dann eigentlich nur, dass sie keine Feier- oder Festtagen wie beispielsweise Weihnachten oder Geburtstagen begehen und dass sie Bluttransfusionen ablehnen. Und da war dann noch etwas vom bevorstehenden Weltuntergang.

Was passiert eigentlich auf der anderen Seite der Tür, wenn du sie den Zeugen Jehovas vor der Nase zuschlägst?

Zeugen Jehovas kennen die meisten von uns nur aus der Fußgängerzone oder als lästigen Besuch an der Tür – häufig etwas bieder, vor allem aber harmlos. Misha Anouk weiß, wie es auf der anderen Seite aussieht. Er wuchs in einer Zeugen-Jehovas-Familie auf und lief im Predigtdienst von Haustür zu Haustür – stets hoffend, keine Mitschüler zu treffen. Mit erfrischendem Humor erzählt er von einer Kindheit ohne Weihnachten, aber mit Geistern, von ersten Zweifeln und Weltuntergängen, die auf sich warten lassen. In seinem mitreißenden Insiderbericht analysiert Misha Anouk die emotionale Verführung der Zeugen Jehovas, beschreibt Organisation und Struktur der Wachtturm-Gesellschaft und erzählt, weshalb er schließlich eine Sünde beging, um die bekannteste Sekte der Welt zu verlassen.
(Umschlagtext)

Während meines Osterurlaubs habe ich das Buch Goodbye, Jehova!: Wie ich die bekannteste Sekte der Welt verließ gelesen. Es ist wirklich sehr ausschlussreich und düfte alle die ansprechen, dies sich für die Verführbarkeit der Menschen, insbesondere durch Sekten, speziell durch die Zeugen Jehovas, interessieren. Es geht sehr in die Tiefe und wird ausreichend durch Zitate aus den Publikationen der Wachtturm-Gesellschaft, der organisatorischen Zentraleinrichtung der Zeugen Jehovas, belegt. Bei mir kann noch ein besonderes persönliches Interesse hinzu (s.u.).

    Buch und Autor Misha Anouk: Goodbye, Jehova!

Misha Anouk wurde in die Wahrheit hineingeboren. So bezeichnen Zeugen Jehovas ihren Glauben. Kein Wunder, das er fast 20 Jahre lang überzeugt war, Teil der wahren Religion zu sein. Doch dann kommen erste Zweifel. Er begreift, dass sein Platz woanders ist, jenseits der sich von der Außenwelt abschottenden Glaubensgemeinschaft. „Für mich ist und war die Frage nie, ob Zeugen Jehovas gute oder schlechte Menschen sind. Die Frage war immer nur, ob dieser Glaube für mich gut war.“ Goodbye, Jehova! Ist ein glänzend geschriebener Insiderbericht von einem, der jeden Aspekt der Glaubensgemeinschaft hautnah miterlebt hat. Mit Hilfe von wissenschaftlichen Erkenntnissen und anhand der Wachtturm-Literatur analysiert Misha Anouk unaufgeregt und mit viel Witz das „System Wachtturm“ und beschreibt, mit welchen psychologischen Tricks neue Mitglieder angeworben werden, wie sich die Organisation intern und extern gegen Kritik immunisiert und warum der Weltuntergang noch immer auf sich warten lässt.
(Klappentext)

Misha Anouk, geboren 1981 auf Gibraltar, ist freier Autor und widmet sich als Redner und in der täglichen Arbeit der Aufklärung über Bewusstseinskontrolle, Verschwörungstheorien, politische und gesellschaftliche Entwicklungen, Social-Media-Phänomene sowie der Medienkritik. Mit seiner Familie lebt er in Wien. Misha Anouk bloggt regelmäßig auf www.indub.io, twittert unter @mishaanouk und hat eine Facebook-Seite.

Was passiert eigentlich auf der anderen Seite der Tür, wenn du sie den Zeugen Jehovas vor der Nase zuschlägst?“ Misha Anouk ist jahrelang an jedem Samstag von Tür zu Tür gezogen, um andere Menschen von der „Wahrheit“ zu überzeugen, wie die Zeugen Jehovas den Kern ihres Glaubens nennen. In seinem Buch „Goodbye, Jehova! Wie ich die bekannteste Sekte der Welt verließ“ beschreibt er den Ablauf der Hausbesuche. „Nachdem du die Tür geschlossen hast, wird hinter deiner Hausnummer ein Code notiert: M oder W für dein Geschlecht, NH für ‚Nicht zu Hause‘, KI für ‚Kein Interesse‘.“

So ein „KI“ ist gar nicht so leicht zu bekommen, denn die Zeugen Jehovas nehmen den Predigtdienst, so heißt das Missionieren, sehr ernst. Sie glauben an Harmagedon, den Weltuntergang, an dem Jehova alles Böse vernichten wird und nur die Zeugen und Menschen, die in Jehovas Gunst stehen, überleben und in einer Art Paradies weiterleben werden. Wann genau der Weltuntergang eintritt, ist nicht klar. Die Wachturmgesellschaft, die Leitung der Zeugen Jehovas, hat mit ihren Prognosen schon mehrfach falsch gelegen und hält sich nun mit genauen Aussagen zurück.
Quelle: stern.de

Zunächst: Gleich am Anfang des Buchs bin ich über den Namen Gilead gestolpert, den die theologische Hochschule der Wachtturm-Gesellschaft in Brooklyn, New York (S. 29), trägt. Vielleicht nicht von ungefähr haben in dem Buch Der Report der Magd von Margaret Atwood ‚fanatische religiöse Sektierer im Norden der USA die sogenannte Republik Gilead installiert.‘ Daneben grüßt, wenn man das Buch liest, nicht nur Orwells ‚Big Brother‘ aus 1984, sondern es winkt auch Huxleys ‚Brave New World’. Wären die Zeugen Jehovas nicht so real, man könnte sie für eine Ausgeburt eines Science fiction-Schriftstellers halten.

Nun ich habe das Buch, wie oben erwähnt, auch aus sehr persönlichem Interesse gelesen. Misha Anouks Eltern waren Zeugen Jehovas (der Vater ein ‚Ältester‘) und so wuchs er von Geburt an in einer ‚Versammlung‘ auf. Meine Eltern waren jahrelang ‚Offiziere‘ der Heilsarmee.

So kam es, dass ich als Zeuge Jehovas aufwuchs. Ob ich dabei Mitspracherecht hatte, ist Ansichtssache. Ich war mir in meiner Kindheit keiner Alternative bewusst. Wohin hätte ich denn auch sollen als Kind? (S. 30)

Ich kann die Gefühle, die hinter diesen wenigen Worte stecken, sehr gut nachempfinden. Obwohl die Heilsarmee sicherlich kaum mit den Zeugen Jehovas zu vergleichen ist, die religiöse Ausrichtung ist die einer christlichen Kirche protestantisch-freikirchlicher Prägung (ihre Wurzeln liegen im Methodismus), so bildet sie doch ähnlich einen geschlossenen Kreis. Ist man erst einmal Glied dieser Gemeinschaft (ich wie Misha Anouk durch Geburt), dann ist ein ‚Ausbruch‘, eine ‚Flucht‘ so schnell nicht möglich (zumindest nicht in jungen Jahren).

Als Kind von Heilsarmeeoffizieren wurde ich noch als Baby (ähnlich wie in ‚normalen‘ Kirchengemeinden) in der Heilsarmee getauft, nur heißt es hier ‚dem Herrn geweiht‘. Und meine Konfirmation (‚Einsegnung‘) geschah auch in der Heilsarmee (manchmal frage ich mich, warum ich eigentlich Kirchensteuer bezahle, nur weil meine Eltern trotz der Mitgliedschaft zur Heilsarmee auch weiterhin Mitglied der evangelischen Kirche waren?). Und abends wurde ich als Heilssoldat ‚eingereiht‘.

Hatte ich eine Wahl? Natürlich war es meine Entscheidung, Mitglied der Heilsarmee zu werden. Aber so ‚freiwillig‘, wie man denken könnte, war es sicherlich nicht. Ich wollte meine Eltern nicht enttäuschen.

Je mehr man von mir beim Predigen erwartete, desto mehr hatte ich wiederholt mit Panikattacken zu kämpfen. Ich rede nicht gern mit fremden Menschen. Schon gar nicht wollte ich an deiner Für klingeln und mit dir über die Gute Botschaft sprechen. Ich habe es gehasst. (S. 137 )

Nun die Heilsarmee geht nicht von Haus zu Haus. Sie tritt höchstens durch ‚Freiversammlungen‘ an die Öffentlichkeit. Wer abends in der Stadt gern einmal ein Bierchen trinken geht, kennt sie vielleicht von ihren ‚Wirtschaftsmissionen‘ her, die dem ‚Predigtdienst‘ der Zeugen Jehovas durchaus ähnlich sind. Allerdings sind hier nur bestimmte Mitglieder der Heilsarmee unterwegs. Hierbei werden Spenden gesammelt und die Zeitschrift namens „Heilsarmee-Magazin“ (bis 31. Dezember 2007 hieß sie martialisch „Der Kriegsruf“) verteilt.

Wesentliches Merkmal der Heilsarmee sind die Uniformen der Mitglieder, Salutisten genannt. Wie schon der Name sagt, so ist die Heilsarmee militärisch organisiert. Der (oder durchaus auch die) Oberste ist der General/die Generälin, der/die Leiter/in der Gemeinschaft weltweit. Dieser (oder eben auch diese) residiert in London, wo sich auch das Internationale Hauptquartier (IHQ) befindet. Leiter der einzelnen Gemeinden (Korps genannt) sind überwiegend hauptamtliche Mitarbeiter (Offiziere, ich denke von Kadetten bis zum Oberst) und entsprechen einem Pastor oder Pfarrer einer Kirchengemeinde. Alle anderen Mitglieder sind Heilssoldaten. So wie man die Zeitschrift ‚Der Kriegsruf‘ inzwischen namentlich neutral als ‚Heilsarmee-Magazin‘ kennt, so spricht man wohl auch eher von Gottesdiensten statt Heils- (am Sonntagmorgen) oder Heiligungsversammlungen (am späten Sonntagnachmittag). Der Heimbund wurde inzwischen ebenso neutral in Frauenkreis oder Frauentreff umbenannt. Die Jugendliga nennt man wohl Kids- und Jugendclub.

Auch junge Heilssoldaten sind angehalten, Uniform zu tragen. Man kann sich vorstellen, wie ich mich mit 14 Jahren in einer solchen gefühlt habe. In dem Alter hat man schon pubertätsbedingt Schwierigkeiten genug mit sich selbst, da muss man sich nicht auch noch
dadurch outen, dass man einer Religionsgemeinschaft angehört, die durch ihr ‚kriegerisches‘ Aussehen in der Öffentlichkeit oft der Lächerlichkeit preisgegeben wird.

Die Wachtturm-Gesellschaft ist eine Leistungsgesellschaft. Dabei: Es passiert nie etwas. Es droht bloß ständig etwas vorzufallen. Man ist gezwungen, immer auf Trab zu sein, die Spannung wird künstlich aufrechterhalten. Ein ständiger Stresstest. (S. 275)

Mein Stresstest war das Zeugnisablegen und die Bußbank. Ein Gottesdienst (zumindest zu meiner Zeit) sah in etwa so aus: Auf ein Lied folgte das Gebet, dann Zeugnisse. Mitglieder der Heilsarmee (aber durchaus auch Besucher) stehen auf und berichten, wie sie zu Jesus gefunden haben bzw. wie ihnen Jesus in der letzten Woche geholfen hat. Das hat einen durchaus spontanen Charakter. Begleitet wird das durch ‚Halleluja‘-Rufe. Ich kann mich zwar nicht mehr genau erinnern, aber ich denke, dass man auch von mir von Zeit zu Zeit erwartete, Zeugnis abzulegen. – Dem folgten erneut Lieder, die Kollekte, eine kurze Predigt und dann der Aufruf, „nach vorn“ zur Bußbank zu kommen (gewissermaßen als Ersatz für das Abendmahl bzw. für die Beichte). Ein Salutist kommt und betet mit dem „Suchenden“. Während des Aufrufs erfolgt das sogenannte „Fischen“ (Salutisten gehen durch die Reihen und sprechen Besucher des Gottesdienstes an, um sie zur Bußbank zu bitten). Nach dem Bußbankgebeten wird als Schluss ein weiteres Lied gesungen (siehe hierzu auch Uwe Heimowski: Die Heilsarmee in books.google.de)

    Bußbank der Heilsarmee

Wie bei den Zeugen Jehovas so gibt es (wie hier zu erkennen ist) auch bei der Heilsarmee viele Termini technici, also ‚Fachausdrücke‘, die markantes Merkmal für eine solch ‚geschlossene Gemeinschaft‘ sind. Diese sind zudem Ausdruck einer speziellen Lehre, die eben nur für die Gemeinschaft von Bedeutung ist. Sie sind vor allem aber auch Unterscheidungsmerkmal gegenüber anderen kirchlichen Gemeinschaften.

Was ich heute jedoch mit Sicherheit sagen kann: Ich habe es aus den falschen Gründen getan. Nicht, um Gott näherzukommen. Nicht aus Überzeugung. Sondern aus einer mir gegenüber an den Tag gelegten Erwartungshaltung, die zentnerschwer auf meinen Schultern lastete. (S. 320)

Theoretisch bin ich heute noch Mitglied der Heilsarmee. Ich weiß gar nicht, ob man von sich aus austreten oder ob man gewissermaßen wie bei den Zeugen Jehovas als Abtrünniger oder Abweichler ausgestoßen werden kann. Ist für mich auch egal. Ich habe nichts gegen die Heilsarmee. Sie tut viel Gutes, besonders im sozialen Bereich.. Aber sie ist nicht ‚mein Ding‘. Ich freue mich z.B. über meinen älteren Sohn, der sich von sich aus in der evangelischen Kirche engagiert. Von daher bin ich auch weiterhin bereit, Kirchensteuer zu zahlen.

Noch einmal kurz zurück zu den Zeugen Jehovas, zu denen sich weltweit sieben bis acht Millionen Menschen bekennen, die ihre spezielle Auslegung der Bibel haben:

Es gibt keine Hölle […]. Einen Himmel zwar auch nicht, zumindest für dich nicht; aber dafür ein Paradies [..…]. Die Toten werden wiederauferstehen, Gott wird alle Krankheiten abschaffen, wir werden ewig leben. (S. 325)

Als ich mit meinen jüngeren Sohn über das Buch sprach und die Vergleiche mit meiner Heilsarmee-‚Vergangenheit‘ zog, meinte er, ich könnte auch ein Buch schreiben. Sicherlich könnte ich, aber anders als bei Misha Anouk ist diese, meine Vergangenheit schon viel zu lange her. Außerdem ist die Heilsarmee mit Sicherheit keine Sekte wie die Zeugen Jehovas. Man muss z.B. nicht Mitglied sein, um sein ‚Heil‘ zu finden. Das hier Geschriebene soll genügen.

Stimmen zum Buch
Seine Geschichte zeigt, wie gut das System der Zeugen Menschen manipulieren kann. (Zeit online)

Misha Anouk hat etwas durchgemacht, an dem andere Menschen zerbrechen würden. (Morgenpost)

Das Buch erlaubt nicht nur tiefe Einblicke in den Alltag eines Zeugen zwischen Königreichssaal und Predigtdienst an fremden Haustüren, es blättert auch das ganze Spannungsfeld zwischen diametral gegenüber stehenden Denkrichtungen auf. (Lübecker Nachrichten)

Ein bemerkenswertes Buch, hervorragend geschrieben und akribisch recherchiert. (Hamburger Abendblatt)

Hervorragend recherchiert, wahnsinnig intim und sehr, sehr gut. (NDR Das!)

The Governing Body of Jehovah‘s Witnesses, 25 Columbia Heights, Brooklyn, New York 11 201 – 2483, USA (S. 304)

Der ‘Blechtrommler’ schweigt

Am Montag starb Günter Grass im Alter von 87 Jahren in einem Lübecker Krankenhaus an einer Lungenentzündung Mit dem Roman „Blechtrommel“, 1959 erschienen und 1980 verfilmt, schreib er einen der wichtigsten Romane der deutschen Nachkriegsliteratur und avancierte mit seinem Gesamtwerk zum international bekanntesten deutschen Gegenwartsautor. 1999 erhielt er den Literaturnobelpreis. Der unbequeme Nationaldichter hielt darüber hinaus politischen Einspruch für eine historische Pflicht – und erregte Anstoß.

Mit seinem Gedicht „Was gesagt werden muss“ äußerte sich Grass kritisch gegenüber dem Staat Israel. Ein Antisemit, wie ihm auch vorgeworfen wurde, war er nicht.

Am 16. Oktober 1927 kommt „Ginterchen“ in Danzig-Langfuhr zur Welt. Die Eltern, ein deutscher Protestant und eine kaschubische Katholikin, besitzen einen Kolonialwarenladen, viele Kunden lassen anschreiben. Die Wohnung ist klein, Günter und seine Schwester Waltraud haben unter dem Fensterbrett eine eigene Ecke. Kein Bad, das Klo auf dem Flur. Katholisch wächst Grass auf, ist Messdiener. „Eine Kindheit zwischen Heiligem Geist und Hitler“, schreibt Michael Jürgs in seiner Grass-Biografie. Verwundet überlebt Grass mit 17 den Krieg, nach grauenhaften Erlebnissen.

Dass er die letzten Monate bei der Waffen-SS war, berichtet Grass erstmals 2006 in dem autobiografischen Meisterwerk „Beim Häuten der Zwiebel“ – nach mehr als 60 Jahren. Scham, ein nie zu tilgender Makel, ein Kainsmal, so Grass. Kaum einer hält die NS-Verführung des Jugendlichen für ein Problem, wohl aber wird ihm das lange Schweigen darüber angekreidet. (Quelle: heute.de)

Heute Ruhetag (53): Mendele Moicher Sforim – Die Fahrten Binjamins des Dritten

Martin Walser hat, wie berichtet (siehe: Martin Walser: Shmekendike blumen (Duftende Blumen)), die jiddische Literatur für sich entdeckt. Im Mittelpunkt seines als Buch erschienenen Essays steht Scholem Jankew Abramowitsch bzw. Schalom Jakob Abramowitsch (in englischer Schreibweise Sholem Yankev Abramovitsh), der unter dem Namen Mendele Moicher Sforim (Mendele Moykher Sforim, d.h. Mendele der Buchhändler) seine Bücher veröffentlichte. Abramovitsh (um uns auf diese Schreibweise festzulegen) lebte von 1835 bis 1917 und gilt als einer der Begründer der neuen jiddischen Literatur.

Abramovitsh verfasste seine Werke zunächst in Hebräisch. Seine großen Romane und Erzählungen schrieb er dann aber in Jiddisch, um damit ein breites jüdisches Publikum zu erreichen. Sein Wirken und sein literarisches Werk bewegen sich zwischen gegensätzlichen Polen: auf der einen Seite finden wir die satirische Beschreibung des Ghettojuden, auf der anderen Seite verzeihende Liebe und Engagement für das jüdische Volk. Einige seiner Werke sind auf Deutsch nachzulesen.

Hier möchte ich den Schelmenroman Die Fahrten Binjamins des Dritten in seiner deutschen Übersetzung vorstellen.

Binjamin ist ein jüdischer Don Quijote (so auch der Untertitel der polnischen Übersetzung), der mit seinem Sancho Pansa Senderl, das Weib seine Umwelt mit allerlei phantastischen Gestalten ausschmückt. Diese sind alten jüdischen Legenden und Volksmärchen entnommen. Bei allem Spott über volkstümlichen Aberglauben und Weltfremdheit spiegelt sich in der Thematik auch eine messianische Sehnsucht nach Heimkehr zu den Quellen der Vorväter.

Leider habe ich keine Transliteration des jiddischen Textes gefunden: Jiddisch ist eine aus dem Mittelhochdeutschen hervorgegangene westgermanische, mit hebräischen, aramäischen, romanischen, slawischen und weiteren Sprachelementen angereicherte Sprache. Geschrieben wird Jiddisch allerdings mit hebräischen Schriftzeichen, die nach gestimmten Regeln in lateinische Buchstaben umschrieben (‚transliteriert‘) und so auch für uns lesbar werden. Nur folgenden Ausschnitt konnte ich im Netz ausfindig machen:

ikh hob, borekh hashem, azoy vi ir kukt mikh on oto, a matone fun zayn libn nomen, a keyle a kol negine, un davn musfim yomim neroim in der svive, ikh bin a moyel un a matse-redler eyner in der velt, ikh fir amol oys a shidekh, fir ikh oys; ikh hob a shtot, azoy vi ir kukt mikh on oto, in der shul. haynt halt ikh aykh, tsvishn undz zol es blaybn, a sheynkl, vos melkt zikh tsu bislekh; ikh hob a tsig, vos melkt zikh kinehore zeyer gut, un hob nit vayt fun danen a raykhn korev oto, vos lozt zikh unter a shlekhter tsayt oykh a bisl melkn. haynt khuts di ale zakhn, zog ikh aykh oto, iz got a tate un di kinder yisroel zaynen rakhmonim bney rakhmonim….

[Mendele moykher-sforim: Masoes binyomin hashlishi]

Für den Interessierten gibt es im Netz allerdings eine Lesung des Romans auf Hebräisch.

    Heute Ruhetag = Lesetag!

Kapitel 1: Wer Binjamin ist, woher er stammt und wie ihn die Reiselust überkommen hat

Alle meine Tage – so erzählt uns Binjamin der Dritte selber –, nämlich bis zu meiner grossen Reise, habe ich in Tunejadowka verbracht. Dort bin ich geboren, dort bin ich erzogen worden und dort habe ich mein frommes Weib, die Frau Selde, sie soll leben, geheiratet. Das Städtchen Tunejadowka ist ein verlorenes Nest, abseits von der Poststraße und von der Welt dermaßen abgeschnitten, daß, wenn es sich einmal ereignet und einer kommt dorthin angereist, sich Türen und Fenster öffnen, um den Ankömmling zu bestaunen. Die Nachbarn befragen einander dann, zum Fenster hinausgebeugt: Ha, wer mag das wohl sein? Woher ist der so plötzlich aus heiler Haut hier aufgetaucht? Was mag so einer hier suchen? Steckt nicht irgendeine Absicht dahinter? Es kann doch nicht sein, daß man einfach sich aufmacht und hierher reist! Sicherlich ist etwas dabei, das ergründet werden muß. Jeder will dabei seine Weisheit, seine Weltläufigkeit erweisen, unzählige aus der Tiefe des Gemüts geschöpfte Vermutungen lassen sich vernehmen; alte Leute erzählen Geschichten und Fabeln von Reisenden, die in dem und dem Jahr angekommen waren, Witzbolde machen darüber nicht eben anständige Späße, die Männer streicheln ihre Bärte und lächeln dazu, die alten Weiber weisen sie scheinbar zurecht, indem sie sie anschreien und zugleich lachen, junge Frauen entsenden einen schalkhaften Blick aus gesenkten Augen, halten die Hand vor den Mund und ersticken fast vor verstohlenem Lachen. Das Gespräch über diese Angelegenheit rollt von Haus zu Haus, wie ein Schneeball, der im Wälzen immer größer und größer wird, bis er ins Bethaus beim Ofen anlangt, an den Ort, wo alle Unterhaltungen über alle Dinge schließlich landen, sowohl über Familiengeheimnisse als auch über Politik, Stambul betreffend, den Türken und den Österreicher; sowohl über Geldgeschäfte, zum Beispiel über Rothschilds Vermögen im Vergleich mit dem der großen Gutsbesitzer und anderer Magnaten, als auch Gerüchte über Verfolgungen, etwa über die sagenhaften »Roten Juden« und dergleichen. Das alles wird der Reihe nach von einem besondern Komitee ehrwürdiger, ernsthafter Männer durchgenommen, die den ganzen Tag bis spät in die Nacht sich dort aufhalten, die Weib und Kinder darüber preisgeben und mit allen diesen Geschäften sich treulich befassen, der Sache ganz um ihrer selbst willen hingegeben, ohne für ihre Mühe und Plage auch nur einen zerbrochenen Heller zu empfangen. Von diesem Komitee gelangen die Angelegenheiten oft ins Dampfbad und auf die oberste Bank und werden dort in einem Plenum städtischer Hausväter endgültig entschieden; damit ist alles festgelegt und besiegelt, so daß hinterher alle Könige des Morgen- und des Abendlandes sich auf den Kopf stellen könnten, sie würden nichts mehr dagegen ausrichten. Der Türke ist mehr als einmal schon in einem solchen Plenum auf der obersten Bank fast ins Unglück gestürzt worden, und wer weiß, was aus ihm geworden wäre, wenn nicht einige aufrechte Hausväter ihm zu Hilfe geeilt wären. Auch Rothschild, der Ärmste, hat dort einmal fast zehn bis fünfzehn Millionen verloren, dafür hat ihm einige Wochen darauf Gott geholfen: man war da oben in bester Stimmung, die Birkenbesen wurden geschwungen und unter ihrem wohltätigen Einfluß gewährte man Rothschild einen Profit von ungefähr hundertfünfzig Millionen Rubel.

Die Bewohner von Tunejadowka sind zwar fast alle, nicht euch gesagt, große Habenichtse und arme Schlucker, aber man muß gestehen, daß sie lustige Habenichtse, fröhliche Bettler sind, von begeistertem Gottvertrauen erfüllt. Fragte man einen Bewohner von Tunejadowka etwa, von welchem Einkommen und wie er sich ernährt, so würde er zuerst verwirrt dastehen und keine Antwort darauf wissen. Bald aber wird er zu sich kommen und in aller Unschuld erwidern: »Ich, so arm ich auch lebe, ich, ach es gibt einen Gott, sag ich Euch, der seine Geschöpfe nicht verläßt, er schickt einem zu und wird gewiß auch weiter zuschicken, sag ich Euch!« – »Dennoch, was treibt Ihr? Habt Ihr ein Handwerk oder sonst einen Beruf?« – »Gelobt sei Gott, ich hab, Er sei gepriesen, so wie Ihr mich da seht, eine Gabe von Seinem lieben Namen, ein köstliches Instrument, eine Singstimme und bete an den hohen Feiertagen ›Mussaf‹; in der Umgebung. Ich bin auch ein Beschneider und ein Mazzot-Rädler, wie es kaum noch einen gibt. Manchmal bringe ich auch eine Heiratspartie zustande. So wie Ihr mich da seht, habe ich einen angestammten Sitz in der Schul, außerdem unterhalte ich, unter uns, einen kleinen Ausschank, der etwas abwirft. Ich besitze eine Ziege – möge sie der böse Blick verschonen –, die reichlich Milch gibt, und nicht weit von hier wohnt mir ein reicher Verwandter, der in schlimmen Zeiten sich auch etwas melken läßt. Jetzt, abgesehen von alledem, sage ich Euch, ist ja Gott ein Vater und seine Kinder Israel sind barmherzige Kinder von Barmherzigen. Ihr seht ja – man darf sich nicht versündigen.«

[…]

    Mendele Moicher Sforim aka Sholem Yankev Abramovitsh

Mendele Moicher Sforim: Die Fahrten Binjamins des Dritten

Martin Walser: Shmekendike blumen (Duftende Blumen)

    Ikh bin a fedemel, ayngevebt in der groyser shtikl materye, vos geht in der velt fun eybige tsaytn untern nomen yud.
    Ich bin ein Fädchen, das in den großen Stoff eingewoben ist, den es seit ewigen Zeiten in der Welt unter dem Namen Jude gibt.
    Sh. Y. Abramovitsh

Martin Walser hat die jiddische Literatur für sich entdeckt. Er, dem man in früheren Jahren Antisemitismus vorgeworfen hat, weil er einen (seinen) Literaturkritiker, einen Juden, hat zu Tode kommen lassen, literarisch versteht sich (siehe: Zu Martin Walser (4): Tod eines Kritikers). Er, der sich gegen eine ‚Instrumentalisierung des Holocaust‘ in Form einer dauerhaften ‚Moralkeule‘ gewehrt hat (siehe: Zu Martin Walser (3): Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede).

Walsers Begeisterung für jiddische Literatur ist wohl durch die als Buch erschienene Studie Mendele der Buchhändler – Leben und Werk des Sholem Yankev Abramovitsh (Harassowitz Verlag, Wiesbaden) der amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Susanne Klingenstein geweckt worden. Walser und Klingenstein kennen sich seit mehreren Jahren und standen in ständigem Austausch miteinander (warum erinnert mich diese ‚Beziehung‘ an Walsers Roman Der Augenblick der Liebe aus dem Jahr 2004?). Dieses Buch ist dabei weitaus mehr als eine individuelle Biographie und Werkdeutung, sondern eine Gründungsgeschichte der jiddischen Hochliteratur. Im Mittelpunkt steht aber Scholem Jankew Abramowitsch (in englischer Schreibweise Sholem Yankev Abramovitsh), der unter dem Namen Mendele Moicher Sforim (Mendele Moykher Sforim, d.h. Mendele der Buchhändler) seine Bücher veröffentlichte.

Ihm hat Martin Walser mit seinem Essay Shmekendike blumen – ein Denkmal/A dermonung für Sholem Yankev Abramovitsh ich wiederhole: ein Denkmal gesetzt.

    Martin Walser:  Shmekendike blumen

Jiddisch, auch jüdisch-deutsch genannt, ist eine rund tausend Jahre alte Sprache, die von den mittel-, nord- und osteuropäische Juden gesprochen und geschrieben wurde und von einigen ihrer Nachfahren bis heute gesprochen und geschrieben wird. Es ist nach allgemeiner Meinung eine aus dem Mittelhochdeutschen hervorgegangene westgermanische, mit hebräischen, aramäischen, romanischen, slawischen und weiteren Sprachelementen angereicherte Sprache. Geschrieben wird Jiddisch mit hebräischen Schriftzeichen, die allerdings nach gestimmten Regeln in lateinische Buchstaben umschrieben (‚transliteriert‘) und so auch für uns lesbar werden.

Mit jiddischer Literatur habe ich mich schon früh befasst (siehe u.a. Isaac B. Singer: Feinde, die Geschichte einer Liebe), allerdings in deutscher Übersetzung. Martin Walser hat sich an die transliterarische Fassung der Texte gehalten (hebräische Schrift wird wohl auch er nicht lesen können), was einige Geduld verlangt (und vielleicht auch ein Wörterbuch, da nicht alle Wörter im Deutschen wiederzufinden sind). Wer sich aber getraut, dem tut sich eine erstaunliche Sprachwelt auf. „Es wäre zu armselig, wenn wir überhaupt nicht wahrnehmen, erleben könnten, was Jiddisch ist“, schreibt Walser: „Meine Empfehlung: So langsam lesen wie noch nie. Den Wörtern die Chance geben, in uns Echos zu wecken.“ – In Walsers Buch finden wir hierzu einige Beispiele.

In seinem neuen Essay ist Martin Walser ganz Leser und Entdecker, und als solcher bereist er eine sonst kaum beachtete literarische Landschaft – die jiddische Literatur. Einem ihrer großen Autoren und Mitbegründer der modernen jiddischen Literatur, Sholem Yankev Abramovitsh (1835-1917), will er schreibend ein Denkmal setzen: ihm und seinem Werk, das er «ein Lesewunder» nennt und in dem ihm ein Erzählen «unter einem Himmel voller Bedeutungen» begegnet. Martin Walser ist begeistert von der Vielfalt der Sprachwelten, die sich ihm darin eröffnet. Die enthusiastische Leseerfahrung, die in seinem Essay ihr Echo findet, lässt auch einen Autor in neuem Licht erscheinen, zu dem er seit seinen Anfängen immer wieder zurückgekehrt ist: Franz Kafka.

So ist Martin Walsers Essay nicht nur die Erkundung einer vernichteten Lebenswelt, sondern auch eine emphatische Einladung an das Publikum, sich in diesen wieder entdeckten Landstrich der Literatur zu begeben: «Ich hoffe, es gehe jedem Leser so: Man möchte diese Sprache sprechen.»
Quelle: rowohlt.de (hierzu auch eine kleine Leseprobe)

Natürlich geht es Walser nicht nur um den Wert dieser jiddischen Literatur, den er in seiner Begeisterung für sehr hoch hält. Martin Walser stellt klar, welchen Standpunkt er gegenüber den Juden einnimmt, wenn er schreibt:

Von Sühne zu sprechen ist grotesk. Mir ist im Lauf der Jahrzehnte vom Auschwitz-Prozess bis heute immer deutlicher geworden, dass wir, die Deutschen, die Schuldner der Juden bleiben. Bedingungslos. Also absolut. Ohne das Hin und her von Meinungen jeder Art. Wir können nichts mehr gutmachen. Nur versuchen, weniger falsch zu machen. (S. 102)

Etwas irritierend finde ich, was Walser dann schreibt. Es klingt so, als ginge er in dem jiddischen Autoren Abramovits und mit ihm in der jiddischen Sprache voll und ganz auf, sodass nichts mehr für das ‚Hier und Heute‘ bleibt. Walser wird in wenigen Tagen (am 24. März) immerhin 88 Jahre alt. Die Schaffenskraft Walsers der letzten Jahre war ungebrochen, geradezu erstaunlich. Dazu die vielen Reisen zu Lesungen (zuletzt zusammen mit Susanne Klingenstein). In Kafkas Roman „Der Prozess“ lautet der letzte Halbsatz: „… es war, als sollte die Scham ihn überleben.“ Sollte sich das jetzt auf Walser beziehen? Übermannt ihn jetzt eine Scham gegenüber den Juden, sodass jedes weitere Schreiben, das sich nicht auf dieses Thema bezieht, für ihn bedeutungslos geworden ist? Walser schreibt:

Ich merke, wenn ich jetzt Abramovitsh lese, dass mich das ungeeignet macht für alles, was ich jetzt tun oder sein müsste. Ich erlebe ein Nicht-mehr-in-Frage-Kommen für das sogenannte Hier und Heute. Eine vollkommene Eingenommenheit. Von ihm. Ich kann auch nichts dagegen tun, in mir dominiert die Mitteilung, dass wir dieses Volk umbringen wollten und zu Millionen umgebracht haben. Und dieses Volk ist mir jetzt, erst jetzt, wirklich bekannt geworden. Durch Abramovitsh. Durch Mendele, Yisrolik, Binjamin, Senderl und Schloimale [Romanfiguren Abramovitsh‘].
Dass Menschen abgerichtet werden können, das zu tun, was sie dann taten, bleibt unfassbar.
(S. 107)

Bevor am Schluss in dem kleinen, gerade einmal gut 130 Seiten umfassendem Buch der Einleitungsvortrag über Jargon von Kafka dessen Gedanken zur jiddischen Sprache kundgetan werden (Kafka spricht von Jargon, wenn er die jiddische Sprache meint), findet sich eine kleine Erzählung von Sholem Yankev Abramovitsh unter seinem Autorennamen Mendele Moykher Sforim, die zunächst in deutscher Übersetzung (übersetzt gemeinsam von Susanne Klingenstein und Martin Walser), dann in der Transliteration und zuletzt in hebräischer Schrift wiedergegeben wird. Hier der erste Absatz.

Mendele Moykher Sforim: Meine (letzte) Reise

Vor einem Jahr, am 2. Elul 5629, habe ich mich mit meinem Bücherwagen nach Kiew hineingeschmuggelt. Ich sage hineingeschmuggelt, wie, wie ihr ja wisst, ein Jude in Kiew faule Ware ist, er darf sich dort nicht aufhalten, es sei denn, er hätte ein Siegel, was bedeutet, dass er die Abgabe entrichtet und Handelserlaubnis hat. So wie es aussieht, dürfen sich dort keine Juden aufhalten, nicht weil man sie für unehrliche, ungeschlachte, ungebildete Menschen hielte, denn erstens, so fein, so ehrlich wie Zigeuner sind sie schon. Warum gehen denn dort Zigeuner und andere üble Leute frank und frei herum? Und, zweitens, seit wann ist eine Handelserlaubnis ein Zeichen von Ehrlichkeit? Man kann ein Händler und trotzdem ein großer Betrüger sein. Drittens, möchten dort doch auch alle wohnen, die einmal studiert haben in den russischen Schulen und Rabbinerseminaren, auch Schriftsteller und ihresgleichen, die ja feine, gebildete Leute sind, auch wenn sie kein Geld haben für den Mitgliedsbeitrag im Berufsverband. Was also ist der wirkliche Grund? Verzeiht mir, da müsst ihr wirklich andere fragen, Klügere, Verständigere als mich. Mir liegt es nicht, mich da in philosophische Spekulationen zu versteigen, auf hohen Pfaden zu wandeln und bis ins letzte Jahrtausend vor dem Kommen des Messias hineinzukriechen, und außerdem, warum überhaupt! Gelobt sei der Ewige, Er sei gepriesen, immerhin sitzen die Juden doch in Kiew. Dort gibt es heute – kein böses Auge – eine große jüdische Gemeinde, sie möge sich vermehren, sie haben schon – Gott sei’s gedankt – eine Fleischsteuer, das heißt, sie essen koscheres Fleisch und halten sich auch an andre gute Regeln, schon bald wie in Glupsk. Es kostet eben mal einen Rubel, sei’s drum! (S. 113 f.) […]

Hier die Transliteration (genauer: YIVOTranskription) des in hebräischer Schrift (siehe unten) verfassten Textes. Leider ist diese Umsetzung des Textes vom Englischen geprägt und lässt für den Deutsch Sprechenden zwischen Zeichen und Laut keine Eins-zu-Eins-Entsprechung zu. Anstelle von y, z, s, v, ts, kh, sh, zh, ay, ey, oy treten im Deutschen j, s, ß, w, z, ch, sch, sh, aj, ej, oj – also zwejtn für tsveytn oder ich mich für ikh mikh ließe sich leichter lesen). Berücksichtigt man diese Unwegsamkeit, dann wird der Leser schnell erkennen, welche Ähnlichkeit das Jiddische mit der deutschen Sprache hat und doch welche besondere Eigenart. Versuchen wir es einmal:

Mendele Moykher Sforim: Mayn (letste) Nesie

Dem tsveytn elul, far a yorn, tarkh“t [1869] (1), hob ikh mikh mit mayn baydl sforem arayngepeklt in kiev. Ikh zog arayngepeklt, makhmes, vi ir veyst, iz a yid in kiev treyfe skhoyre. Er tor zikh dort nit gefinen, saydn mit a blomb (2), dos heyst, az er tsolt poshline(3) un nemt a kupetshestvo(4). Vi es hot a ponem (5), torn keyn yidn dort nit zitsn, nit vayl me halt zey far umerlekhe, grobe, umgebildete mentshn, vorem reyshis (6), azoy fayn, azoy erlekh zaynen zey dokh, lekhol hapokhes (7), vi tsigayner. Far vos zhe geyen arum dortn tsigayner mit nokh andere shlek frank un fray? Tsveytns, vos iz kupetshestvo far a simen fun erlekhkayt? Me ken zayn a kupets (8) un fort a groyser moshenik (9). Dritns, voltn dokh dortn gemegt zitsn di, vos hobn a mol gelernt in shkoles, in rabiner-shuln, oykh mekhabrem (10) un nokh azelkhe, vos zaynen zeyer fayne gelernte mentshn, khotshe-nebekh, zey hobn nit keyn gelt tsu tsoln gilde (11). Vos den zhe iz der emeser tam? dos, zayt moykhl, geyt fregn andere, kliger, farshtenderike fun mir. Ikh bin nit oysn zikh do arayntsulozn in khkires un geyn in hoykhe drokhem, farkrikhn biz dem elef hashishi (12)… un iberikns, vos makht es oys, geloybt iz hashem yisborekh, yidn zitsn dokh fort in kiev. Dortn gefint zikh haynt, on nehore, a groyse eyde yidn, zoln zikh mern. Zey hobn shoyn, dankn got, a takse mit nokh azelkhe gute tekones, bald efsher azoy, vi in glupsk. Es kost a mol a kerbl, nu, meyle, khe!… (S. 119 f.) […]

    (1) Jahreszahlen werden in hebräischen Buchstaben geschrieben, die Zahlenwert haben, Elul fällt auf Mitte August
    (2) blomb vermutlich ein offizielles Dokument mit Metallsiegel
    (3) poshline Abgabe oder Steuer
    (4) kupetshestvo Handelserlaubnis
    (5) ponem Gesicht
    (6) reyshis erstens
    (7) lekhol hapokhes wenigstens
    (8) kuperts Händler
    (9) moshenik Betrüger (shvindler, dreyer, opnarer)
    (10) mekhabrem (Schriftsteller (plural)
    (11) gilde Berufsverband, Gilde
    (12) Elef hashishi nach der Kabbala das sechste und letzte Jahrtausend vor dem Kommen des Messias

… zuletzt der Text in hebräischer Schrift:

Mendele Moykher Sforim: Mayn (letste) Nesie - in der hebräisch geschriebenen Fassung

Martin Walser hat den Toten und ihrer vernichteten Kultur in Osteuropa seine Reverenz erwiesen. (Jüdische Allgemeine)

Etwas verschwommen: Gruppenbild mit Willi

Huihuuu, ich bin keine Dame, ich bin Willi. Und so heißt das Bild natürlich auch ‚Gruppenbild mit Willi‘ und nicht ‚… mit Dame‘. Und wer mich halbwegs kennt, der weiß, dass es mir natürlich nicht um die Darstellung einer bestimmten Gruppe geht (hier der Klan, die Mischpoke meines Ehegesponst), sondern vielleicht, wahrscheinlich, bestimmt um das Bild (hier ein Foto) selbst.

Willi mit dem K…-Klan in Todtglüsingen Mai 2014

Ich habe nämlich meinen Spieltrieb nachgegeben und mich dank Bildbearbeitungsprogramm zur Erstellung des obigen Bildes hinreißen lassen. Wer denkt, ich hätte mich selbst an exponierter Stelle ‚eingefügt‘, dem sei versichert: ich stand dort tatsächlich – natürlich rein zufälligerweise, unbeabsichtigt (vielleicht nur von meinen Unterbewusstsein gesteuert und dorthin platziert …).

Neben der Arbeit mit Videos spiele ich also ganz gern mit Bildern. Ich bin nun einmal ein visueller Typ (mit einem unübersehbaren Touch ins Auditiv-Digitale). Wenn mir mein Brotberuf mehr Zeit ließe (und die Familie), dann würde ich mich einmal so richtig austoben (visuell wie auditiv – und ganz digital). Freunde, die Zeit wird kommen … Haaah 🙂

Abstürzende Balkone

Wer träumt nicht manchmal ‚krauses Zeugs’, jene Alpträume, in denen man verfolgt wird und wegzulaufen versucht, aber nicht von der Stelle kommt, als hätte man Blei in den Füßen. Man muss nicht gerade angstschweißgebadet erwachen aus solch aberwitzigen Träumen, aber ein mulmiges Gefühl bleibt meist doch hängen beim Erwachen.

Bei einigen sind es vielleicht wirklich die Alben, die Elfen, die meist in menschenähnlicher Gestalt auf der Brust des Schlafenden hocken und damit ein unangenehmes Druckgefühl auslösen (‚Alpdruck’). Ja, die Elfen, deren Freund ich namentlich zu sein habe [Albin leitet sich entweder aus dem lateinischen Beinamen Albinus (lat. der Weiße) oder – und das meine ich: – vom althochdeutschen Albuin (aus: alb = Elf und wini = Freund) ab, also: Freund der Elfen].

Oft träumt man auch, man stürzte ab. Es scheint ein endloser Fall zu sein. Und der Aufprall entspricht meist dem Erwachen (dann vielleicht doch schweißbebadet). Meine Alpträume, wenn ich solche habe, sind eher moderat: kein Kein-Vom-Fleck-Wegkommen, kein Fall ins Unendliche. Es sind Balkone, die hoch oben in Häusern zu finden sind, und auf die ich treten muss, ob ich will oder nicht. Setze ich erst einmal den ersten Fuß auf einen solchen Balkon, dann erweist sich dieser schnell ab brüchig, das Geländer als lose und darunter gähnt auch hier ein tiefer Abgrund. Zum einen zieht mich die Tiefe wie ein Sog, zum anderen verwahre ich mich, weiter auf diesen bröckelnden Balkon zu treten.

Abstürzende Balkone
Original: mainwasser

Bei ‚abstürzenden Balkonen’ assoziiere ich gleich die Einstürzenden Neubauten, eine Berliner Band um den Musiker, Performance-Künstler und Schauspieler Blixa Bargeld, die 1980 gegründet wurde und die erst Ende des letzten Jahres ihr neuestes Album Lament auf den Markt gebracht hat.


Einstürzende Neubauten – Lament live Prague

Aber ich komme vom Thema ab: Als Ursachen für solche Alpträume werden unverarbeitete Tagesgeschehen, traumatische oder traumatisierende Erlebnisse, Stress oder psychische Probleme, aber auch physische Komponenten angenommen. Ich gestehe, nicht schwindelfrei zu sein. Als Trauma empfinde ich das vielleicht nicht gerade, sodass es mir verwunderlich erscheint, davon bis in meine Traumwelt verfolgt zu werden. Vielleicht sind diese ‚abstürzenden Balkone’ auch eine Metapher für eine Angst, von der ich mich nicht lösen kann. Immerhin erkenne ich im Traum diese Angst und versuche, dem ‚Sog der Tiefe’ zu trotzen. Da ich meistens nicht unmittelbar erwache, so verdeutlicht das sicherlich, dass dem Alptraumhaften durchaus auch ein Reiz innewohnt, ein Kitzel, dem ich mich nicht völlig entziehen kann. Ich denke da an diesen x-förmig angebrachten Skywalk für Schwindelfreie, die über dem Höllental bei Garmisch-Partenkirchen erbaute Aussichtsplattform namens Alpspix. Auch als nicht Schwindelfreier getraut man sich auf diese 13 Meter ins Nichts ragende Stahlkonstruktion.

Peter Høeg: Fräulein Smillas Gespür für Schnee (1992)

„Im Kopenhagener Hafenviertel stürzt ein Junge vom Dach eines Lagerhauses. Todesursache laut Polizeibericht: ein Unfall. Smilla Jaspersen, die im selben Haus wohnt wie der Junge, sieht das anders und stellt ihre eigenen Nachforschungen an.

Der internationale Erfolg dieses literarischen Thrillers hat neben der faszinierenden Geschichte vor allem mit seiner Heldin zu tun: der wunderbar ruppigen, unangepaßten und zugleich zarten und verletzlichen Smilla.“
(aus dem Umschlagtext)

    Peter Høeg: Fräulein Smillas Gespür für Schnee

„Es friert, außerordentliche 18 Grad Celsius, und es schneit. In der Sprache, die nicht mehr meine ist, heißt der Schnee qanik, er schichtet sich zu Stapeln, fällt in großen, fast schwerelosen Kristallen und bedeckt die Erde mit einer Schicht aus pulverisiertem, weißem Frost.

Das Dezemberdunkel kommt aus dem Grab, das grenzenlos wirkt wie der Himmel über uns. In dieser Dunkelheit sind unsere Gesichter nur noch blaß leuchtende Scheiben, aber trotzdem spüre ich die Mißbilligung des Pastors und des Kirchendiensers, die sich gegen meine schwarzen Netzstrümpfe richtet und gegen Julianes Jammern, das noch dadurch verschlimmert wird, daß sie heute morgen ein paar Antabus genommen hat und der Trauer jetzt fast nüchtern begegnet. Sie denken, sie und ich hätten weder das Wetter noch die tragischen Umstände respektiert. Dabei sind die Strümpfe und die Tabletten auf ihre Weise ganz einfach eine Huldigung an die Kälte und an Jesaja.“

Hiermit beginnt der Roman Fräulein Smillas Gespür für Schnee des Dänen Peter Høeg, den ich als Taschenbuch vorliegen habe (Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg – 13599 – 931. – 970. Tausend Oktober 1997, Copyright 1994 Carl Hanser Verlag, München Wien – Originalausgabe ‚Frøken Smillas fornemmelse for sne’, 1992 – aus dem Dänischen von Monika Wesemann) und Ende des letzten Jahres (‚zwischen den Jahren’) erneut gelesen habe. Bereits vor über neun Jahren hatte ich mich hier mit Fräulein Smillas Gespür für Schnee beschäftigt (dabei besonders für die Wörter für Schnee in der Sprache der Inuit, dem Inuktitut). – Die von der Ich-Erzählerin (Smilla Jaspersen) erwähnte Juliane ist die Mutter von Jesaja, dem Inuk-Jungen, der hier nach seinem tödlichen Sturz vom Dach des Lagerhauses zu Grabe getragen wird.

Mit dieser Smilla Jaspersen hat Peter Høeg eine ungewöhnliche Frauengestalt geschaffen – die Mutter (wie der getötete Jesaja) Inuk und Robbenfängerin, der Vater ein dänischer Arzt -, die ihre grönländische Herkunft nicht vergessen kann, die gleichzeitig aber mit der westlichen Zivilisation nicht zurecht kommt und so zwischen den Welten lebt. „Die Welt kann mich holen, wenn sie mich braucht.“ (S. 297) denkt sie sich in der Mitte des Buchs, ansonsten geht sie ihren eigenen Weg. Und wenn sie sich in eine ebenso unangepasste Person wie den Mechaniker zu verlieben scheint, so rationalisiert sie dies mit Worten wie: „Die Liebe kommt aus dem Überfluß, sie verschwindet, wenn man sich dem Instinktiven nähert, dem Hunger, dem Schlaf, dem Bedürfnis nach Sicherheit.“ (S. 462) – Nur zwei Beispiele fürs Denken und Verhalten dieser Smilla.

Ohne Zweifel ist diese Smilla eine bemerkenswerte Frau. Eine solch starke weibliche Persönlichkeit findet man nur selten in der Literatur, ebenso selten in der Wirklichkeit. Und das trotz ihrer Selbstzweifel und ihrem scheinbaren Scheitern in der Gesellschaft (ohne Abschluss eines Studiums, arbeitslos, kinderlos, ohne Beziehung und Freunde). Smillas Biografie ist geprägt vom Wechsel von der präindustriellen grönländischen Jägerkultur hin zur postindustriellen Gesellschaft Dänemarks. Und obwohl sie verletzlich im Inneren ist, so gibt sie sich unnachgiebig und hart nach außen. Der Roman ist aus der Sicht dieser Frau geschrieben und eröffnet so einen Blick in das Denken und die Gefühle von Smilla Jaspersen (siehe hierzu auch die Magisterarbeit von Michael Auth: Lauter lose Enden? Die Erzählstruktur in Peter Høegs Erzählung – als PDF-Datei).

Erstaunlich (oder vielleicht auch wieder nicht), dass ein Mann dieser Frau die Sprache gegeben hat: Der Autor „Peter Høeg, geboren am 7. Mai 1957 in Kopenhagen, studierte Literaturwissenschaft und trat als Tänzer und Schauspieler an dänischen und schwedischen Bühnen auf. Er schrieb Theaterstücke, einen Band Erzählungen und u.a. die Romane ‚Vorstellung vom zwanzigsten Jahrhundert’ und ‚Der Plan von der Abschaffung des Dunkels’. ‚Fräulein Smillas Gespür für Schnee’ wird [wurde 1997] von Bille August verfilmt, mit Julia Osmond in der Hauptrolle. […]“
(aus dem Klappentext)

Hier eine ausführlichere Inhaltsangabe:

Kopenhagen, Anfang der 90er Jahre, kurz vor Weihnachten: Der kleine Jesaja fällt vom Dach des Hauses, in dem er mit seiner Mutter lebt. Für Passanten und Polizei war es ein tragischer Unfall. Doch Smilla Jasperson, ebenfalls Bewohnerin des Hauses, glaubt an Mord. Sie war mit dem kleinen Jesaja befreundet, der wie ihre Mutter und sie selbst, aus Grönland stammte. Sie hatte schon immer ein besonderes Gespür für Schnee, deshalb lassen sie die Fußspuren im frischen Schnee auf dem Dach des Hauses misstrauisch werden. Überdies weiß sie, dass Jesaja unter Höhenangst litt und deshalb niemals freiwillig auf das Dach gestiegen wäre. Weil sie die einzige Freundin war, die der kleine Jesaja in seinem Leben hatte, setzt sie alles daran, ihren Verdacht zu beweisen.

Sie beschließt, auf eigene Faust zu ermitteln. Ihre Aktivitäten stoßen allerdings sowohl bei Jesajas Mutter als auch bei den Behörden auf wenig Gegenliebe, und sie geben ihr zu verstehen, dass sie sich lieber aus der Angelegenheit heraushalten soll. Der einzige, der auch der Überzeugung ist, dass Jesaja Opfer eines Verbrechens wurde, ist ihr Nachbar, der Mechaniker. Dieser hilft Smilla und beschützt sie.

Es stellt sich heraus, dass Smilla einer weltweiten ökopolitischen Intrige auf die Spur gekommen ist. Sie entdeckt, dass Jesajas Vater 1966 bei einem mysteriösen Unfall auf dem Gletscher „Gela Alta“ ums Leben kam und seine Witwe seitdem eine Pension von einer undurchschaubaren Organisation erhält. Durch einen Arzt, der den kleinen Jungen zuerst obduzierte, bevor er an weiteren Untersuchungen gehindert wurde, erhält Smilla die Bestätigung, dass Jesaja ermordet wurde. Sie kann nicht mehr zurück und wird in die Intrige verwickelt, welche sie in die Verlassenheit der grönländischen Eiswüste führt und selbst in Lebensgefahr bringt.

Wer den Roman Fräulein Smillas Gespür für Schnee gern lesen und sich die Spannung erhalten möchte, der sollte die nächsten fünf Absätze ‚überspringen’.

Prof. Licht, der ihr beim Abhören eines Tonbandes, dass Smilla von Jesajas Mutter bekommen hat und auf dem die Stimme von Jesajas Vater ist, helfen soll, wird kurz nachdem sie ihn verlassen hat, getötet, wobei seine Mörder auch Smillas Leben beenden wollen. Smilla gelingt es allerdings, vom brennenden Hausboot, in dem der Professor seine Nachforschungen anstellte, zu entkommen.

Smilla erhält, nachdem sie mit der ehemaligen Buchhalterin der „Greenland Minings“ gesprochen hatte, den Schlüssel zum Archiv der Firma, in dem alle Aufzeichnung über die „Gela Alta“-Expeditionen aufliegen. Dort findet sie auch einen Hinweis darauf, was das Ziel der Expeditionen nach „Gela Alta“ ist und dass eine weitere geplant ist.

Nachdem sie mit dem Mechaniker dessen Freund Lander aufsucht, bekommt sie die Möglichkeit, auf dem Expeditionsschiff der „Greenland Minings“ zu arbeiten. Die Expedition führt nach Grönland zum Gletscher „Gela Alta“, wo schon zwei Expeditionen durchgeführt wurden und bei denen jeweils mehrere Expeditionsteilnehmer ums Leben kamen.

Smilla erfährt, dass Dr. Loyen und Dr. Tørk, die Organisatoren der Expedition, auf der Suche nach einem energieerzeugenden Meteoriten sind, der in einem Gletscher versteckt ist. In dessen Schmelzwasser lebt allerdings ein mesozoischer Parasit, der prähistorische Polarwurm, der sich in den menschlichen Körper frisst und dort seine Eier ablegt. Durch die ausschlüpfenden Larven wird der Körper aufgefressen und getötet. Dr. Tørk ignoriert diese Gefahr jedoch und schicken immer wieder Taucher in das Schmelzwasser, um den Meteoriten zu bergen und damit Geld zu verdienen.

Smilla entkommt allen Anschlägen auf ihr Leben und schafft es, in die Höhle mit dem Meteoriten vorzudringen. Dort tötet sie Dr. Loyen und verletzt Dr. Tørk, den Chef von „Greenland Minings“. Dieser kann zwar flüchten, wird aber von Smilla verfolgt, die ihn aufs Packeis treibt, wo er schließlich stirbt. Der Mechaniker, der ebenfalls auf dem Schiff war, zündete in der Höhle eine Bombe, um weitere Forschungen am Meteoriten zu verhindern und die Gefahr durch den gefährlichen Polarwurm zu unterbinden.

Quelle: fundus.org

Der Roman spielt in den 90-er Jahren. An einer Stelle ist vom Dezember 1993 die Rede, obwohl Peter Høeg den Roman bereits 1992 veröffentlichte. Neben Kopenhagen (u.a. wird die Strandgade -> Christianshavn und der Strandvej erwähnt, ebenso Brønshøj in der Nähe von Kopenhagen mit der Kabbelejevej am Rande von Utterslev Mose – auch kommt das Hotel d’Angelterre vor, das in dem Film Der zerrissene Vorhang (1966) von Hitchcock zusehen ist) so ist die hohe See Schauplatz des Geschehens wie zum Schluss Grönland selbst (Smilla kommt aus Qaanaaq, das wir auch als Thule kennen).

Personen des Romans:

Smilla (eigentlich: Smillaaraq) Qaavigaaq Jaspersen (zum Namen s. S. 332 – Bio s. S. 112 ff.)
Ane Qaavigaaq, Mutter und Robbenfängerin
Jørgen Moritz Jaspersen, Vater und Arzt
Benja, Moritz’ Lebensgefährtin

Peter Føjl, Mechaniker und ‚Gehilfe’ (Taucher)
Jesaja Christiansen, Inuk-Junge
Juliane Christiansen, seine Mutter

Elsa Lübing, ehemalige Buchhalterin/Archivarin der Kryolithgesellschaft
Benedicte Clahn, dänische Mitarbeitern der R.A.F. 1946 in Deutschland

Ravn, Staatsanwalt
Nathalie Ravn, seine Tochter – Konsulatssekretärin (Tod durch Sprung vom Dach – S. 277)

Dr. Lagermann, Arzt
Frau Lagermann

Birgo Lander, Geschäftsmann und Freund des Mechanikers

Prof. Johannes Loyen, früherer Expeditionsleiter, Direktor des Instituts für arktische Medizin
Telling
Prof. Andreas Fine Licht, Leiter des “Arctic Museum“ (blind)

Schiffsbesatzung des Expeditionsschiff der „Greenland Minings“:
Kapitän Sigmund Lukas
(Nils) Bernard Jakkelsen, sein jüngerer Bruder
Urs, der Koch
Verlaine, Bootsmann
Hansen
Maurice
Sonne, Steuermann
Maria und Fernanda, Schiffsgehilfinnen
Kützow, Maschinenmeister

Dr. Andreas Tørk, Arzt und Expeditionsleiter 1994
Katja Claussen
Seidenfaden

Am Ende kommt bei diesem Roman eine Art Öko-Krimi heraus. Vielleicht etwas konstruiert, aber das sind ja fast alle Kriminalromane. Im Mittelpunkt steht Smilla Jaspersen. Allein wegen ihr macht das Lesen Spaß. Zudem ist das Buch Belletristik vom Feinsten – mit dieser Meinung stehe ich nicht allein da:

“Episch wie großes Kino.” (Frankfurter Rundschau)

„Irgendwann will man nur noch Smillas Stimme hören, so könnte sprechen, wovon sie wollte.“ (Stern)

„Mit dem Dänen Peter Høeg hat Europa einen neuen, bedeutenden Schriftsteller.“ (FAZ)

„Ein Buch, dessen Heldin unvergeßlich bleiben wird […]. Smilla ist nicht nur eine starke Frau, sie ist auch eine große Frauengestalt – eine der größten in der kleinkarierten Literatur dieser Jahre.“ (Sonntagsblatt)

„Eine aberwitzige Verbindung von Thriller und hoher Literatur.“ (Der Spiegel)

„Peter Høegs Erzähltalent ist sensationell.“ (Sächsische Zeitung)

„Smilla: Glaziologin, Misanthropin, Racheengel, Emma Peel und Jeanne D`Arc, Rambo und Greenpeace-Vorkämpferin in einer Person, sarkastisch, gelegentlich sentimental, mit Klugheit geschlagen. Schnee und Eis sind ihr lieber als die Liebe.“ (Die Zeit)

„Jede einzelne Szene, jeder Dialog ist ein Meisterwerk.“ (Prinz)

Begriffe aus der/den Sprache(n) der Inuit – die Bezeichnung Eskimo ist übrigens nicht völlig falsch, sondern wird als Oberbegriff verwendet – sind auch in unsere Sprache eingegangen. So dürfte jeder wissen, was ein Anorak ist. Im Grönländischen schreibt man diesen annoraaq. Wenn man vom Grönländischen bzw. den Sprachen der Inuit spricht, dann kommt man nicht umhin, die angeblich unzähligen Wörter für Schnee bzw. Eis in diesen Sprachen zu erwähnen. Im Roman kommen einige dieser Wörter vor und werden auch (meist) sofort erklärt. Ich glaube, ich habe alle Wörter gesammelt. Mit dieser kleinen Sammlung will ich enden. Fräulein Smilla hat mich doch zu mehr verleitet, als zunächst geplant (aber das kommt bei mir wohl öfter vor):

Qanik feinköringer Pulverschnee
Pirhuk der Wind trägt einen leichten Schnee heran
Kangirluarhuq große Blöcke aus Süßwassereis
Pujuq Nebel S. 458 ff.
Hiku Festeis (Kontinent aus gefrorenem Meer)
Hikuaq und Puktaaq Eisschollen
Ivuniq Oberfläche der Eisschollen als verwüstete Landschaft
Maniilaq Eisbuckel
Apuhinuq Schnee, vom Wind zu harten Barrikaden komprimiert
Agiuppiniq Schneefahnen, vom Wind über das Eis gezogen
Killaq Wake (nicht oder nur oberflächlich zugefrorene Stelle in der Eisdecke)
Sikussaq schwarze Stücke im Mosaikeis
Avangnaq Nordwind
Pirhirhuq Schneesturmwetter
Kanangnaq Nordostwind
Hikuliaq Neueis

siehe hierzu auch: Kate Bushs Gespür für Schnee

Heute Ruhetag (52): William Makepeace Thackeray – Jahrmarkt der Eitelkeit

William Makepeace Thackeray (* 18. Juli 1811 in Kalkutta; † 24. Dezember 1863 in London) war ein englischer Schriftsteller und gilt neben Charles Dickens (siehe Heute Ruhetag (27): Charles Dickens – Oliver Twist) und George Eliot als bedeutendster englischsprachiger Romancier des Viktorianischen Zeitalters.

Sein wohl bekanntestes Werk ist Jahrmarkt der Eitelkeit (Originaltitel: Vanity Fair, or, a Novel without a Hero, 1847/1848 in Fortsetzungen im Londoner Satiremagazin „Punch“ erschienen; deutsch 1849). Der Gesellschaftsroman bietet ein facettenreiches, alle sozialen Klassen einschließendes Bild der Londoner Gesellschaft zu Anfang des 19. Jahrhunderts und zeichnet sich durch seinen ironischen Stil und seine präzise Darstellung der handelnden Figuren und ihrer Charaktere aus.

Dieser Jahrmarkt dürfte auch uns bekannt vorkommen: Dieser ist ein Abbild der Welt – und Thackerays Welt ähnelt durchaus in Vielen der unseren Welt.

    Heute Ruhetag = Lesetag!

Vor dem Vorhang

Während der Direktor des Puppentheaters vor dem Vorhang auf den Brettern sitzt und über den Jahrmarkt schaut, befällt ihn beim Anblick des bunten Treibens eine tiefe Melancholie. Da wird gegessen und getrunken, geliebt und kokettiert, gelacht und geweint, geraucht, betrogen, gestritten, getanzt und gegeigt, da drängen sich Großmäuler im Getümmel, Stutzer machen Frauen schöne Augen, Spitzbuben leeren Taschen, und Polizisten sind auf der Wacht; da schreien Quacksalber (andere Quacksalber, die Pest soll sie holen!) vor ihren Buden, und Bauerntölpel starren zu den flitterglänzenden Tänzerinnen und den armen, alten, geschminkten Clowns hinauf, während die Langfinger sich hinten an ihren Taschen zu schaffen machen. Ja, das ist der Jahrmarkt der Eitelkeit; gewiß kein moralischer Ort und auch kein lustiger, wenn es auch lärmend genug zugeht. Seht euch die Gesichter der Schauspieler und Possenreißer an, wenn sie von der Arbeit zurückkommen, wie der Hanswurst sich die Schminke aus dem Gesicht wäscht, ehe er sich mit seiner Frau und seinen kleinen Hanswürstchen hinter der Jahrmarktsbude zum Essen setzt. Bald geht der Vorhang auf, und er wird Purzelbäume schlagen und schreien: »Seid ihr alle da?«

Wenn ein nachdenklicher Mensch über solch einen Vergnügungsort wandelt, wird er vermutlich weder von seiner noch anderer Leute Fröhlichkeit überwältigt werden. Hier und da rührt und belustigt ihn wohl eine humorvolle oder ergreifende Episode – ein niedliches Kind, das eine Pfefferkuchenbude betrachtet; ein hübsches Mädchen, das errötend den Worten ihres Liebhabers lauscht, während er ihr ein Geschenk aussucht; der arme Hanswurst dort hinter dem Wagen, der inmitten seiner braven Familie, die von seinen Kunststücken lebt, an seinem Knochen nagt. Der allgemeine Eindruck aber ist eher melancholisch als heiter. Wenn du nach Hause kommst, so setzt du dich in ernster, nachdenklicher, milder Stimmung hin und wendest dich deinen Büchern oder deinen Geschäften zu.

[…]

William Makepeace Thackeray: Jahrmarkt der Eitelkeit

Vanity Fair (englisches Original)

Martin Walser: Der Augenblick der Liebe (2004)

    Er habe sie noch nie so geliebt wie in diesem Augenblick, In diesem Augenblick, sagte sie, wieso denn das. Es ist der Augenblick der Liebe.
    Martin Walser: Der Augenblick die Liebe (S. 43)

Für Einsteiger in die Literatur von Martin Walser, so denke ich, ist der Roman Der Augenblick der Liebe aus dem Jahr 2004 doch noch etwas zu schwere Kost. Es ist der dritte und wohl letzte Roman um die Person des Dr. Gottfried Zürn, ehemaliger Immobilienmakler am Bodensee, der sich hier als Privatgelehrter ausgibt. Im Mittelpunkt steht die außergewöhnliche Liebesgeschichte zwischen Zürn und einer um 40 Jahre jüngeren Doktorandin. Und es geht um den französischen Philosophen Julien Offray de La Mettrie, dessen Todestag sich 2001, dem Jahr, in dem der Roman spielt, zum 250. Male jährte. Als Hinweis für den Leser: Französisch-Kenntnisse sind angebracht, Englisch-Kenntnisse fast unumgänglich (Walser hat sich auch, oft mit seiner Tochter Alissa, als Übersetzer aus dem Englischen hervorgetan, z.B. für Theaterstücke von Edward Albee).

Dies ist der erste Roman, den Martin Walser nach seiner Trennung von Suhrkamp in seinem neuen Verlag Rowohlt veröffentlicht hat (Ich habe diesen in 2. Auflage August 2004 – Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, vorliegen).

     Martin Walser: Der Augenblick der Liebe (2004)

Gottfried Zürn, bekannt aus Martin Walsers Romanen „Das Schwanenhaus“ und „Die Jagd“, Exmakler, Privatgelehrter mit Domizil am Bodensee, erhält Besuch von einer jungen Doktorandin. Sie interessiert sich für seine Aufsätze über den französischen Philosophen La Mettrie und überreicht ihm, er ist erstaunt und merkwürdig geschmeichelt, eine Sonnenblume. Er vernimmt sofort das Klirren erotischer Möglichkeiten. Sie, sphinxenhaft: „Es gibt nichts, wofür man nicht gestraft werden kann.“

Trotzdem, und weil er mit seiner Frau Anna längst im selben Wortschatz untergeht, folgt er der Doktorandin kurz darauf nach Kalifornien zu einem Kongreß über La Mettrie. Dort erfüllt sich ihre Prophezeiung – auf eine Weise, die gleich in mehrfacher Hinsicht zum Eklat führt. Sobald er drüben ist, wird in ihm Anna übermächtig, also zurück zu ihr. Sobald er zurück ist, muß er wieder hinüber. Aber das gestattet ihm das Buch nicht.

Eros, Ehe und Erlebnishunger sind die äußeren Markierungspunkte dieses Romans, das Verhältnis von Leben, Literatur und Todeslust ist sein geheimes Motiv.
(aus dem Klappentext)

    Herr Zürn oder Herr Krall, wie hätten Sie’s gern? So fing sie an, so eröffnete sie.
    Gottlieb sagte: In welche Sauce wir den Daumen, den wir lutschen müssen, vorher tunken, ist egal. Oder nicht? Und sie: Es gibt nichts, wofür man nicht gestraft werden kann. Und er. Aber die Möglichkeiten klirren. Und sie: Wenn Sie so wollen. Und er: Ich will.

Nein, so beginnt nicht nur dieser Roman vom Martin Walser, so endet dieser auch – in einer Walser-typischen Ringkomposition. Nur sind die Personen andere. Er, das ist in beiden Fällen Gottfried Zürn, aber sie ist am Anfang jene Beate Gutbrod, Doktorandin aus Amerika, am Schluss dann seine Ehefrau Anna. Gottfried Zürn, Mitte sechzig, schöpft in beiden Fällen ‚die Möglichkeiten’ aus.

Zürn hat als Wendelin Krall vor Jahren zwei Aufsätze über den französischen Philosophen Julien Offray de La Mettrie (1709–1751) geschrieben, die Beate Gutbrod während der Recherche für ihre Dissertation gelesen hat. Da sie den Autor persönlich kennenlernen möchte, besucht sie Zürn. „Aus dieser Bekanntschaft entwickelt sich eine Liebesaffäre, die Gottlieb nach Amerika an die Berkeley-Universität führt, wo er als Gastdozent einen Vortrag über La Mettrie halten soll. Da ihn jedoch seine Stimme im Stich lässt, schafft es Gottlieb ähnlich wie Helmut Halm in Brandung nicht, seinen Text alleine vorzulesen, und muss sich von Beate vertreten lassen. Zudem wird der Inhalt seines Aufsatzes von den Mitgliedern der Universität, allen voran Rick Hardy, sehr zwiespältig aufgenommen. Wenig später verlässt Gottlieb Beate und fliegt zurück nach Europa, wo er das Eheleben mit seiner Frau Anna fortsetzt.“ (Quelle: de.wikipedia.org)

Wieder eine Liebesaffäre zwischen einer jungen Frau und einem älteren Herrn. Beate Gutbrod und Zürn – das klingt wie Ulrike von Levetzow und Goethe und wird auch gleich zitiert: da war der Altersunterschied nicht 40, sondern gar 55 Jahre (siehe hierzu natürlich Martin Walser: Ein liebender Mann). Während Beate bereits wieder in Kalifornien weilt und auf die Ankunft Zürns wartet, ereignet sich ein Schriftwechsel zwischen den beiden, der in teuren, sehr langen Telefonaten mündet:

Jetzt erlebte sie, daß es nicht darauf ankommt, mit welchem Innen- und Außenmaterial jemand seine Liebe erklärt; es kommt nur auf den erlebbaren Heftigkeitsgrad an. Und den erlebte sie jetzt. Die Verklausuliertheit, in der er sich verstrickte, war doch eine einzige Kapitulation: Er ergab sich ihr. Diese Fragerei nach dem WARUM war nichts als ein Wortkostüm, mit dem er auftrat, um sie herauszufordern. Sie sollte ihn übertreffen. Sie sollte noch lauter als er sagen, daß sie hin sei und wie hin sie sei. Das einzig Lernbare in diesem Verklausulierungsdickicht: Er war bedürftig. Er war unterernährt. Was ihm fehlte, war weniger wichtig, als daß ihm etwas fehlte. Aber er hielt es für möglich, daß sie ihm fehle. Und das war’s dann doch. (S. 85)

Um gewissermaßen dem Vorwurf, Altherrenphantasien zu verbreiten, ‚vorzubeugen’ (manche nennen es auch Methusalem-Komplex), flicht Walser ab Seite 228 gleich eine Debatte über Altersgeilheit, die Zürns Frau mit einer Kundin führt, mit ein. Zürns, d.h. Walsers Kommentar dazu: „Er hätte die Damen wirklich fragen müssen, warum ein Älterer, wenn er denn das war, was sie geil nannten, nicht einfach geil, sondern altersgeil war. Die haben da eine Ahnung parat. Du sollst nicht mehr, darfst nicht mehr. Die haben eine Moral, die sie ästherisch-sittlich drapieren.“ (S. 231)

Auch zum Alter äußert sich Walser: „Man kann nur jung oder alt sein. Er habe seit längerem geglaubt, er sei schon alt. Das war, wie er jetzt wisse, ein naseweises Anempfinden. Das einzigste, was ein wenig in die richtige Richtung ging, war eine Art Mitleid mit Alten. Jetzt weiß er, der Junge kann nichts empfinden von dem, was der Alte empfindet. Es gibt kein Verständnis für einander. Der Alte versteht den Jungen so wenig wie der ihn. Es gibt keine Stelle, wo Jugend an Alter rührt oder in Alter übergeht. Es gibt nur den Sturz. Aus. Nachher bist du drunten und kannst tun, was du willst, du reichst nicht zurück. Mit nichts. Durch nichts. Ob du lachst oder schreist, ist gleichgültig. So zu tun, als könne man sich auf diesen Sturz vorbereiten, ist unsinnig. Dieser Sturz gestattet kein Verhältnis.“ (S. 200) Und später ergänzt er: „Das Gerede vom Sturz ist Wortstroh. Das Hinab so bremsen, daß es kein Sturz wird, sondern ein Untergang.“ (S. 202)

Den eigentlichen Mittelpunkt bildet die „Auseinandersetzung mit La Mettrie, die den Roman um philosophische Überlegungen bereichert. Es geht dabei vor allem um die Themen der Erziehung als Ausbildung zum Gefangenen und um das Erziehungs-Nebenprodukt Schuldgefühle.“

    Das von Montaigne geerbte Anspruch: sich selbst zum Thema zu machen! […] Dein durch La Mettrie geschärftes Thema: die Erziehung als eine Ausbildung zum Gefangenen. Von Anfang an war kein Mensch und keine Institution daran interessiert, dich zu dir selbst kommen zu lassen. Die Erziehung als Zumutung. Aber dann hast du angefangen, deine Erzieher zu betrügen. Du hast mehr als eine Persönlichkeit entwickelt. Das tut jeder. Keiner ist nur das, was die Erziehung aus ihm machen wollte. […] (S. 127 f.)
    Von allen Persönlichkeiten, die du hast entwickeln müssen, hat sich keine so übermäßig entwickelt, wie die des Gefangenen. […] Jeder Versuch, dich frei zu fühlen oder gar zu benehmen, mündete bis jetzt im Schuldgefühl. Das angeborene oder anerzogene Gewissen. Ob angeboren oder anerzogen, es ist die mächtigste, wachsamste, unerbittlichste, unbetrügbarste Regung, deren du fähig bis. (S. 129)

„Die Interpretation Rick Hardys im Anschluss an den Vortrag – das Manuskript Gottfried Zürns ist vollständig wiedergegeben – ist dabei die zentrale Stelle des Romans: Hardy beschuldigt Gottlieb, er wolle unter dem Vorwand, über La Mettrie und dessen These von der Lebensfeindlichkeit von Schuldgefühlen zu sprechen, den Deutschen einen ‚Freispruch erschwindeln’, wobei Hardy einen überraschenden Zusammenhang zur Erinnerung an den Holocaust herstellt. Die anschließende Reflexion Gottliebs wirkt wie eine späte Selbstverteidigung Walsers, der sich während der Diskussionen rund um seine Romane Ein springender Brunnen und insbesondere Tod eines Kritikers selbst Vorwürfen des latenten Antisemitismus ausgesetzt sah:

    ‚La Mettrie behauptet, es gebe nichts Unmenschlicheres, nichts Lebensfeindlicheres als remords. Das würde natürlich auch für den Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit gelten. Aber das hat er [Zürn] nicht gesagt. Er müßte dann nachweisen, daß es eine Schuld gibt ohne Schuldgefühle. Kein bisschen weglügen, nichts verkleinern, und trotzdem kein Schuldgefühl, keine remords. […] La Mettrie hatte keine Erfahrung mit dem Gedächtnis. Inzwischen wacht das Gedächtnis über das Gewissen. Ob das lebensfeindlich ist, ist dem Gedächtnis egal.’

Zusammenfassen kann man die vorgetragene Position Martin Walsers zum Holocaust demnach wie folgt: Er akzeptiert die Schuld der Deutschen für die NS-Verbrechen ohne Wenn und Aber, jedoch fühlt er sich von den Schuldgefühlen in seinem Lebensdrang eingeschränkt. Diese Aussage ist natürlich sehr subjektiv, was jedoch typisch für die literarische Innerlichkeit ist, die sich wie ein roter Faden durch Martin Walsers Werk zieht. Letztendlich gesteht Walser auch ein, keine Möglichkeit gefunden zu haben, sein Geschichtsbewusstsein mit seinem Wunsch ganz in der Gegenwart zu leben zu versöhnen – dieser Luxus muss dem Intellektuellen verwehrt bleiben.“ (Quelle: de.wikipedia.org)

Der Roman gliedert sich in vier Kapitel:

Inhalt:
I. Kommen aber gehen
II. Zusammenfinden
III. Auseinanderkommen
IV. Kehre

Personenliste zum Roman:

Dr. Gottlieb Zürn, ehemaliger Makler, inzwischen Mitte 60 Jahre
Anna, seine Frau, führt das Immobilienmaklergeschäft weiter

Rosa, die älteste Tochter
Magda(lena), Tochter
Julia, Tochter
Regina, die jüngste Tochter

Beate J. Gutbrod ‚graduated Student’, Doktorandin
Madelon Pierpoint, Freundin
Glen O. Rosenne, Professor

Dr. Rick W. Hardy
Elaine, seine (Ex-)Frau

Dr. Rufus Douglas, Psychiater

und viele andere

Paul Schatz, Immobilienhändler und Konkurrent – stirbt in diesem Band
Jarl F. Kaltammer, Immobilienhändler und Konkurrent

„Hochkomisch, sprachmächtig: Martin Walsers neuer Roman über Liebe im Alter ist ein Vergnügen. Wenn Walser je komisch war, wenn er je die Funken des Witzes aus Konstellationen des Unangemessenen, Unpassenden geschlagen hat, hier tut er ’s stärker.“ (Tilman Krause, Literarische Welt)

„Dieser meisterhaft beschriebene Augenblick des Sichverliebens, dieses blitzartige Ineinanderfallen … Wie der Sprachkünstler Walser die beiden Erzählgeschosse miteinander verbindet, die Liebesaffäre eines alten Mannes mit einer jungen Frau im Licht des Atheisten La Mettrie deutet … das macht ihm keiner nach.“ (Ulrich Greiner, DIE ZEIT)

„Seite für Seite eröffnet Martin Walser uns ein Stilvergnügen, wie es nur wenige deutsche Autoren bieten können. Walser schreibt eben nicht nur die schönsten Sätze, er setzt sie auch in anregende Horizonte.“ (Andreas Isenschmid, NZZ am Sonntag)

„Und Walser erweist sich hier als eine aphoristisch eleganter, hinreißender Erzähler.“ (Klaus Walther, Freie Presse)

„Martin Walser hat einige beste Bücher geschrieben. Sein jüngstes Werk gehört dazu. ‚Der Augenblick der Liebe‘ ist ein schönes Buch – komisch, traurig, rabiat.“ (Andreas Köhler, NZZ)

„’Der Augenblick der Liebe‘ ist ein großer Roman. Walsers bedeutendeste literarische ‚Seelenarbeit’“ (Peter Mohr, Generalanzeiger)

„’Der Augenblick der Liebe‘, Walsers schönster Roman.“ (Martin Lüdke in ‚Literatur im Foyer‘, SWR)

Dem ist von meiner Seite nichts mehr hinzuzufügen.

Salman Rushdie: Die satanischen Verse

    „… daß er [Gibril] sich verändert hatte, und zwar in erschreckendem Ausmaß, denn er hatte seinen Glauben verloren.“
    Salman Rushdie: Die satanischen Verse (S. 47)

Die satanischen Verse (englischer Originaltitel The Satanic Verses) ist ein Roman des Schriftstellers Salman Rushdie, der von indischen Immigranten in Großbritannien handelt und teilweise vom Leben des Propheten Mohammed inspiriert ist. Das Erscheinen des Buches am 26. September 1988 löste eine Reihe von Protesten und Gewalttaten von Muslimen aus.

Salman Rushdie wurde 1947 in Bombay geboren und studierte in Cambridge Geschichte. 1983 erregte er mit dem Roman ‚Mitternachtskinder’ weltweit Aufsehen. Nur wenige Monate nach der Veröffentlichung des Romans ‚Die satanischen Verse’ im Jahr 1988 sprach der iranische Revolutionsführer Khomeini wegen Blasphemie eine Fatwa über Rushdie aus. Seither lebt der Autor, dessen Bücher vielfach ausgezeichnet wurden und in über zwei Dutzend Sprachen übersetzt vorliegen, an einem unbekannten Ort in England.
(aus dem Klappentext)

    Salman Rushdie: Die satanischen Verse

Am 14. Februar 1989 rief Chomeini in einer Fatwa (verbunden mit einem Kopfgeld) alle Muslime zur Tötung des Schriftstellers Salman Rushdie auf, auf Grund der von ihm als blasphemisch erachteten Äußerungen gegen den Propheten Mohammed in Rushdies Roman „Die satanischen Verse“:

„Ich ersuche alle tapferen Muslime, ihn, gleich wo sie ihn finden, schnell zu töten, damit nie wieder jemand wagt, die Heiligen des Islam zu beleidigen. Jeder, der bei dem Versuch, Rushdie umzubringen, selbst ums Leben kommt, ist, so Gott will, ein Märtyrer.“ (Quelle: de.wikipedia.org)

Die Fatwa war auch Todesurteil für alle, die an der Veröffentlichung beteiligt waren und den Inhalt des Buchs kannten, das gegen den Islam, den Propheten und den Koran sei. So wurden auf mehrere Übersetzer des Buchs Anschläge verübt. Der italienische Übersetzer Ettore Capriolo wurde am 3. Juli 1991 in seiner Wohnung in Mailand durch Stiche verletzt und der japanische Übersetzer Hitoshi Igarashi am 11. Juli 1991 im Gebäude seines Büros an der Universität Tsukuba erstochen. Der norwegische Verleger, William Nygaard, wurde durch Schüsse schwer verletzt.

Ich habe den Roman Die satanischen Verse in folgender Auflage vorliegen: Knaur 60648 – vollständige Taschenbuchausgabe März 1997, Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München – ein Übersetzer ist aus verständlichen Gründen nicht genannt.

    Satan, zu einem vagabundierenden, rastlosen, unsteten Dasein verurteilt, kennt keine fest Bleibe; denn obgleich er, infolge seiner engelhaften Natur, über ein Reich zerfließender Wüstenei und Luft herrscht, so ist es doch gewißlich Teil seiner Strafe, daß er … ohne jeden angestammten Ort oder Raum ist, der es ihm gestatten würde, seinen Fuß darauf ruhen zu lassen.
    Motto zum Roman von Daniel Defoe: The History of the Devil

„Satanische Verse“ ist die Bezeichnung für eine Episode in der Biographie von Mohammed, die mit der 53. Sure „Der Stern“ (al-Nadschm) zusammenhängt. Dort geht es um die in der Kaaba in Mekka verehrten alten Gottheiten. Nach einer Überlieferung erlaubte Mohammed, die Göttinnen Al-Lat, Al-Uzza und Manat um Fürsprache anzurufen, widerrief die entsprechenden Verse jedoch bald, da sie nicht vom Erzengel Gabriel, sondern vom Satan eingegeben sein sollen.

Inhaltsangabe:

I Der Engel Gibril
II Mahound
III Ellohenn Deeohenn
IV Aischa
V Eine Stadt: Sichtbar, aber ungeschaut
VI Rückkehr nach Jahilia
VII Der Engel Asrael
VIII Die Teilung des Arabischen Meers
IX Eine wunderbare Lampe

Der Roman beginnt damit, dass zwei indische, aus Bombay stammende Muslime, Saladin (Salahudin) Chamcha und Gibril Farishta, nach der Explosion eines von Extremisten entführten Jumbo Jets an der Ostküste von England ohne Fallschirm vom Himmel fallen, überleben und glauben, verwandelt, wiedergeboren zu sein. Gibril, ein beliebter Bollywood-Schauspieler und Darsteller von Gottheiten, erhält nach dem Absturz einen Heiligenschein. Saladin, ein nicht minder erfolgreicher, seine Herkunft verleugnender Stimmenimitator, verwandelt sich äußerlich langsam in ein „Ungeheuer“ mit Fell, Hörnern und Schwanz, nimmt also ein teufelsähnliches Aussehen an. Aufgrund dieses Aussehens von der Polizei verfolgt, wird Saladin vom Liebhaber seiner englischen Ehefrau in London in einem bengalischen Café versteckt, wo er trotz seines zunehmend veränderten Aussehens gute Freunde findet und zum Symbol des Widerstands gegen fremdenfeindliche Gruppierungen wird. Gibril andererseits gelingt es, sein ehemaliges Leben weiterzuführen, wird aber zunehmend von der Vorstellung geplagt, die Inkarnation des gleichnamigen Erzengels zu sein, entfremdet sich von seiner Umwelt und wird geisteskrank. Saladin erhält nach einigen Leiden sein ursprüngliches Aussehen zurück, trifft auf seine Nemesis und wird von ihr während gewalttätiger Unruhen aus dem brennenden Café gerettet. Bevor er zu sich selbst findet, rächt sich Saladin mit „satanischen Versen“ (Verzweiflungstaten auslösender Telefonterror) an Gibril, der ihn nach ihrer wundersamen Rettung aus dem explodierten Flugzeug im Stich gelassen hatte.

In den Erzählstrang um Gibril und Saladin verwoben ist die Geschichte des Propheten Mohammed, der im Roman Mahound heißt, und dessen Kampf gegen die Göttin Al-Lat und das vorislamische Mekka. Gibril ist gleichzeitig Zuschauer, Werkzeug und Akteur zweier weiterer Handlungsstränge des Romans: Der von Wundern und Unglücken begleiteten Haddsch eines kleinen südindischen Dorfes gegen den Widerstand seines säkularen Zamindars (Großgrundbesitzer) sowie eines im Exil lebenden Imams, zu dessen unfreiwilligem Werkzeug Gibril wird („Reise nach Jerusalem“ und Vernichtung von Aischa). Diese Erzählstränge sind als „Träume“ Gibrils beziehungsweise des Erzengels Gabriel gestaltet.

Personen des Romans mit Zeit und Ort

I. Bombay – London (im Roman auch Ellohenn Deeohenn genannt) usw. um das Jahr 1961„ein Jahr, das man auf den Kopf stellen konnte …“ (S. 62)

Dara Singh – Buta Singh – Man Singh und Tevleen (Frau), Terroristen im Flugzeug AI-420 („Bostan“))

Gibril Farishta, indische Schauspieler (Götterrollen), (Erzengel Gabriel, auch als Asrael, der Würgeengel) – geboren als Ismail Najmuddin (Stern des Glaubens) in Poona – stirbt zuletzt durch Freitod

Najmuddin Sen., Vater, stirbt als sein Sohn 20 Jahre alt ist (Essensläufer)
Naima Najmuddin, Mutter

Babasaheb Mharte (nimmt Gibril in jungen Jahr auf)

Rekha Merchant, Gibrils frühere Geliebte, Nachbarin in Everest-Vilas/verheiratete Geschäftsfrau – nimmt sich mit ihren Kindern das Leben durch Sprung vom Dach eines Hochhauses

John Maslama, Vertreter des ‚universellen Glaubens’, wie ihn Kaiser Akbar entwickelt hat; später Besitzer des Hot-Wax-Nachtclubs usw.

Alleluja Cone, Gibrils blonde Frau, Bergsteigerin, Besiegerin des Mount Everest (stirbt am Ende durch Sprung von Dach eines Wolkenkratzers – wie Rekha Merchant)
Alicja Cone, ihre Mutter
Otto Cone (früher: Cohen aus Warschau), ihr Vater
Elena Cone, ihre Schwester
(Professor Boniek, späterer Lebenspartner von Alicja)

Pimple Billimoria, extrascharfe Sexbombe und Starlet, Gibrils ‚letzte Verflossene‘

Saladin Chamcha, eigentlich: Salahuddin Chambachawala, indische Rundfunksprecher (Stimmenimitator), will perfekter Engländer sein (mutiert zeitweise zum Teufel)

Changez Chambachawala, sein Vater, reich durch Kunstdünger etc.
Nasreen Chambachawala, seine Mutter
Nasreen II, 2. Frau von Changez
Ayah Kasturba, Kindermädchen

Mimi Mamoulian, weibl. Gegenstück zu Saladin (als Rundfunksprecherin), Jüdin
Billy Battuta, pakistanischer Playboy, Supertanker-Besitzer etc., Hochstapler
(Aileen Struwwelpeter)

Pamela Chamba, geb. Lovelace, Saladins Frau – lebt mit Saladin in einer fünfstöckigen Villa in Notting Hill
Zeeny Vakil, Saladins Geliebte in Bombay
Jamshed „Jumpy“ Joshi, Pamelas Geliebter

Café Shaandaar in der Brickhall High Street, London:
Muhammed Sufyan, Eigentümer
Hind Sufyan, seine Frau
Mishal, Tochter
Anahita, Tochter
Hanif Johnson, Rechtanwalt

Dr. Uhuru Simba (eigentlich Sylvester Roberts aus New Cross)
(Pinkwalla, der Didschäy (eigentlich Sewunker))
Inspektor Stephan Kinch, für die Nachbarschaftspflege zuständiger Beamter

Hal Valance, Schöpfer der Aliens Show / Filmbranche
S. S. „Whisky“ Sisodia, indischer Filmproduzent (stottert leicht) – wird später ‚erschossen‘ aufgefunden (stirbt gleichzeitig mit Alleluja Cone)
(Jeremy Bentham, Musicalgenie)

George Miranda, marxistischer Filmemacher, Freund Zeenys
Swatilekha, Bengalin, später Georges Freundin
Bhupen Ghandi, Dichter und Journalist, Freund Zeenys

Eugene Dumsday, Bekanntschaft aus dem Flugzeug, Fußsoldat im christlichen Heer des Herrn
(Jalandri, mausähnliche, ziegenbärtige Geisel im Flugzeug)

Rosa Diamond, 88-jährige Frau, wohnt am Strand, wo Gibril und Saladin angeschwemmt werden
Henry Diamond, ihr verstorbener Mann (Don Enrique), beide lebten in Argentinien

Hyacinth Phillips, Krankengymnastin (Saladin als Patient)
Orphia Phillips, ihre Schwester (U-Bahn-Aufzugführerin)
Uriah Moseley, Freund Orphias (U-Bahn-Aufzugführer)
Rochelle Watkins, Bahnhofsschönheit (Nachfolgerin von Orphia, u.a. als U-Bahn-Aufzugführerin)

II. Vorzeit in Jahilia, Stadt gänzlich aus Sand erbaut – Quelle von Zamzam, neben dem Haus des Schwarzen Steins – die Oase Yathrib

Die drei Göttinnen (S. 136):
Uzza – Göttin der Schönheit und Liebe
Manat – die Schicksalsgöttin
Ilat (Al-Lat, die Göttin) – Muttergöttin (Lato bei den Griechen) — Allahs Gegenstück

Mahound (Mohammed)
Khalid, der Wasserträger
Salman, ‚Tippelbruder’ aus Persien
Bilal, von Mahound freigekaufter Sklave

Die 12 Frauen Mohammeds:
Aischa
Sawdah
Hafsah
Umm Salamah, die Makhzumitin
Ramlah
Zainab bint Jahsh
Juwairiyah
Rehanah, die Jüdin
Safia
Maimunah
Maria, die Koptin (aus Ägypten)
Zainab bint Khuzaimah

Karim Abu Simbel, Grande von Jahilia
Hind, seine Frau

Baal, der Satiriker

III. Im Exil

Imam, ein Verbannter/Mann im Exil (Khomeini)
Khalid, sein Sohn
Bilal X, amerikanischer Sänger und Konvertit
Salman Farsi, diensthabender Wächter

IV. ein kleines indisches Dorf namens Titlipur

Bibiji, heilige Frau, die 240 Jahre alt wurde
Aischa, fallsüchtiges Waisenkind

Mirza Said Akhtar, Zamindar (Großgrundbesitzer)
Mishal, seine Frau

Osman, ein Unberührbarer mit ‚Bum-Bum’-Ochse
Srinivas, der Spielzeugfrabrikant

Ich habe den Roman in diesen Tagen erneut gelesen, während die dschihadistisch-salafistische Terrororganisation IS weiter Teile des Irak und Syriens besetzt und dort ein mörderisches Regime eingerichtet hat. Ihr Anführer, Abu Bakr al-Baghdadi, regiert als selbst ernannter Kalif, womit der Anspruch auf die Nachfolge des Propheten Mohammed als politisches und religiöses Oberhaupt aller Muslime verbunden ist.

Ich gestehe, zu wenig vom Islam zu wissen, um mir ein genaues Urteil zu erlauben. Aber wie schon immer in der Geschichte, so sehe ich in der Ausdehnung des IS in erster Linie einen Machtanspruch, der sich besonders auch an wirtschaftlichen Interessen orientiert (sic!), dem die Religion nur als Vorwand dient. Und es ist die Bestie Mensch, die zu solchen Gräueltaten, wie sie der IS verübt, fähig ist.

Salman Rushdie entstammt einer muslimischen Familie. Sein Roman ist u.a. die Geschichte eines Glaubensverlustes, den er allerdings nicht vernunftmäßig zu begründen sucht, sondern in einer Sprache, die mit der orientalischen Lust am Fabulieren „ein fulminantes Gewirr fantasievoller, grotesker und wahnwitziger Geschichten auf[türmt]. Weit ausschweifend denkt er sich fortwährend neue Nebenfiguren und –handlungen aus. Mühelos springt er zwischen Indien, Arabien und England, surrealer Wirklichkeit, Wahnvorstellungen und Trauminhalten hin und her.“ (Quelle: dieterwunderlich.de)

Es geht als um Glaube wie um Zweifel. „Es geht aber auch um die Gegensätze Gut und Böse, Liebe und Hass, Rache und Vergebung, Wahn und Rationalität, Kompromisslosigkeit und Pragmatismus, Orient und Okzident. Salman Rushdie warnt davor, dass die junge, urbane Elite Indiens ihre Identität verliert, wenn sie die traditionellen religiösen, kulturellen und sozialen Bindungen zugunsten zweifelhafter Werte der globalen, westlich geprägten Massenkultur aufgibt. Zugleich wendet er sich gegen jede Art politischer oder religiöser Bevormundung.“

Manchmal erinnert mich der Roman an feinfühlig-satirisch burleske Werke wie die von Cervantes (Don Quijote) und Rabelais (Gargantua und Pantagruel). Aber natürlich blitzt auch immer wieder die Fantasiewelt aus Tausendundeiner Nacht auf. Und ich muss an Nagib Machfus denken, dessen Kairo-Trilogie das Leben in Ägypten zwischen den beiden Weltkriegen beleuchtet und gegen den ebenfalls in einer Fatwa ein Todesurteil wegen Gotteslästerung verhängt worden war.

Der Roman ist ein Werk gegen jene Humorlosigkeit iranischer Ajatollahs, die in ihrem Glaubenseifer alles niedermachen, und gegen das Brandschatzen selbst ernannter Kalifen. In seiner überquellenden Fabulierlust ist es vor allem ein Werk, das zu Menschlichkeit, zu Verständnis und Toleranz aufruft.

„Dieser Roman ist das überaus vielstimmige, Geschichte und Gegenwart durcheinanderwirbelnde, von Einfällen überbrodende und trotz eines ‚Happy-End’ letztlich tieftraurige Manifest eines endgültigen Glaubensverlustes. Seinen literarischen Rang gewinnt das Buch durch eine scheinbar paradoxe Entscheidung seines Autors. Denn Rushdie erzählt diesen Glaubensverlust nicht im Sinne rationaler Welterfahrung: er benutzt vielmehr alle ihm zu Gebote stehenden Mittel des Phantastischen und des Wunderbaren, um sein Pandämonium der entgöttlichen Welt zu veranschaulichen.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung)