Es war wohl der Sohn von Wilhelm Grimm, Herman, der meinte, das von seinem Vater und seinem Onkel, Jacob Grimm, herausgegebene deutsche Wörterbuch (DWB) wäre schon zu deren Lebzeiten ‚überholt’. Begonnen wurde mit diesem Wörterbuch 1838 (fertiggestellt dann erst 1961). Der Gebrauchswert für den heutigen Alltag, damit hat er Recht, ist sicherlich nicht sehr hoch. Da bringen Duden, Wahrig u.a. mehr Nutzen (siehe hierzu auch meine Beiträge: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm und Wortschatz).
Es beginnt damit, das der ältere der Grimm-Brüder, Jacob, keine Fremdwörter in diesem ‚deutschen’ Wörterbuch duldete. Evolution oder Revolution kommen nicht vor. Selbst der uns heute gängige Friseur (oder Frisör) und die Frisur gibt es nicht. Dafür finden wir den damals wohl eher üblichen Barbier, dann die deutschen Begriffe Haarscherer und Haarschneider – und für Frisur den Haarschnitt. Kurios muten uns heute manche ebenfalls von Jacob Grimm erstellte ‚Regeln’ des Wörterbuchs an: Durchgängige Kleinschreibung (außer bei Eigennamen), was heute ja schon fast wieder modern ist. Und das ß immer als sz geschrieben. Goethe kommt als Göthe daher.
Was den eigentlich Wert dieses 34.824 Seiten ausufernden und mit ca. 320.000 Stichwörtern versehenen Nachschlagewerkes ausmacht, sind die Hinweise auf die Herkunft der Wörter und eine nachvollziehbare Beschreibung, wie sich die Wörter im Laufe der Zeit verändert haben, oft auch dem Wortsinne nach. Vieles, wir erahnen es, rührt aus dem Stamm der indogermanischen (auch indoeuropäisch genannten) Sprachfamilie her (bis hin zum östlichen Zweig der gotischen Sprache). Oft werden viele Spalten lang Zitate (von Luther über Kant bis zu Goethe) zu den einzelnen Stichwörtern aufgeführt, die den Gebrauch der Wörter in der Literatur belegen. Allerdings wollte Jacob Grimm keine Zeitgenossen wie Heine zitiert wissen. Wer möchte, kann online im DWB stöbern. Als aufschlussreiches Beispiel empfehle ich den Artikel zum Wort Schnee (das aus gegebenem Anlass: Kate Bushs Gespür für Schnee)
Erwähnenswert ist, dass sich vor den Grimm-Brüdern bereits andere daran gemacht hatten, ein deutsches Wörterbuch zusammenzustellen. Das wohl bekannteste ist das von Johann Christoph Adelung, von dem Jacob Grimm (ja, wieder der) allerdings nicht allzu viel hielt: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart (1774–1786, 2. Aufl. 1793–1801). Adelung lässt übrigens auch Fremdwörter zu. – Online mit Volltextsuche – gescannte Ansicht
Aber genug der langen Vorrede. Wie der Titel dieses Beitrags verrät, möchte ich ein 2010 erschienene Buch von Günter Grass vorstellen: Grimms Wörter. Der Untertitel, der wie eine neue literarische Gattung klingt, sagt es deutliche: Eine Liebeerklärung.
„Die Brüder Grimm erhalten im Jahr 1838 einen ehrenvollen Auftrag: Ein Wörterbuch der deutschen Sprache sollen sie erstellen. Voller Eifer machen sie sich ans Werk. Aberwitz, Angesicht, Atemkraft – fleißig sammeln sie Wörter und Zitate, in wenigen Jahren sollte es zu schaffen sein. Barfuß, Bettelbrief, Biermörder – sie erforschen Herkommen und Verwendung, sie verzetteln sich gründlich. Capriolen, Comödie, Creatur – am Ende ihres Lebens haben Jacob und Wilhelm Grimm nur wenige Buchstaben bewältigt.
Günter Grass erzählt das Leben der Brüder Grimm als Liebeserklärung an die deutsche Sprache und die Wörter, aus denen sie gefügt ist. Er schreibt über die Lebensstationen der Brüder, über ihre uferlose Aufgabe und die Zeitgenossen an ihrer Seite.
Spielerisch-virtuos spürt ‚Grimms Wörter’ dem Reichtum der deutschen Sprache nach und durchstreift die deutsche Geschichte seit der Fürstenherrschaft und den ersten Gehversuchen der Demokratie. Von der Vergangenheit mit ihren politischen Kämpfen und ganz alltäglichen Sorgen schlägt Grass manche Brücke in seine eigene Zeit.“
(aus dem Klappentext)
Wer einen Sinn für Sprache und einen besonderen für anspruchsvolle Literatur hat, dem kann ich diese ‚Liebeserklärung’ nur empfehlen. Oder wie Sigrid Löffler im ‚rbb Kulturradio’ sagte: „Für Grass-Verehrer ist dieses Buch ein Muss, für das übrige Publikum einfach eine lohnende Lektüre.“
Man sieht, wie Günter Grass in seinem Exemplar dieses 33-bändigen Werkes blättert, den ersten Band „A – Biermolke“ vielleicht auf den Knien längere Zeit beim Stichwort Alfanzerei verweilend … Und wie er sieht, wie sich die Brüder Grimm an die Arbeit machen:
So begann ihre Zettelwirtschaft. Von überall her schneite es Wörter und wortbezügliche Zitate. Jedem aufgelesenen Wort hatten die Sammler seine Herkunft nachzuweisen. Es galt herauszufinden, bei welchem Dichter das jeweilige Stichwort bereits Vorklang gefunden hatte. Von Parzivals Gralsuche und dem Nibelungenlied über Luthers Bibeldeutsch bis zu Goethes und Schillers Gereimtem fand sich Zitierbares. Außerdem wollte Jacobs Ehrgeiz wissen, ob dieses oder jenes Wort bei dem arianischen Bischof Ulfilas bereits gotisch nachzuweisen sei, wie es sich alt- oder mittelhochdeutsch gewandelt habe. Die Lautverschiebung und ihre Folgen. Was war dem Wortschwall der Mundarten abzuhören? Welches Echo fand das eine, das andere Stichwort in den skandinavischen Sprachen? Was klingt bereits im Sanskrit an? Welches deutschstämmig anmutende Wort ist dem Latein entlehnt? Was soll mit anstößigen, weil schmutzigen Wörtern geschehen, zumal wenn sie lebendig, weil volksnah sind? Welche Dichter waren besonders stichhaltiger Zitate trächtig?
(S. 31 der Taschenbuchausgabe)
Manches Stichwort bei den Grimms gibt auch dem knurrigen Grass Anlass, sich über die Jetztzeit Gedanken zu machen („genau aufs Stichwort …“), hier nur ein Beispiel:
Mich treibt Zorn an, der sich an westlichen Colonialherren reibt, die als Sieger des Kalten Krieges meinen, hemmungslos zugreifen, fortan auf Pump leben zu dürfen und nun, nach dem Triumph des Kapitalismus über den Kommunismus, beginnen, ihresgleichen zu zerstören, weil ihnen der Feind fehlt.
(S. 108 der Taschenbuchausgabe)
Ohne Zweifel: „‚Grimms Wörter’ gehört zu den wichtigsten Büchern Grass’ und ist vielleicht sein schönstes.“ (Jörg Magenau, ‚Der Tagesspiegel’) – und noch einmal: Wer die deutsche Sprache liebt, wer sich für deren Reichtum interessiert, dem sei als Einstieg gewissermaßen Grass’ Prosawerk empfohlen. Das Blättern im der Brüder Grimms Deutschen Wörterbuch gibt’s gratis dazu.