Nach längerer Zeit habe ich mir von John Irving wieder den Roman Garp und wie er die Welt sah zum Lesen vorgenommen, den Roman, mit dem er erfolgreich wurde. Es ist auch der erste Roman, den ich von John Irving gelesen habe.
„Mit seinem vierten Roman ‚Garp und wie er die Welt sah’ wurde John Irving über Nacht bekannt – in den USA brach die ‚Garpomanie’ aus. Stilistische Virtuosität, groteske Eskapaden und die für Irving typische Mischung aus Realismus und Absurdität machen den einzigartigen Charakter dieses Buches aus, das den Leser nicht mehr losläßt. Die Welt des Schriftstellers Garp ist bevölkert von Lehrern und Huren, Spießern und Randexistenzen, Verlagslektoren und Mördern, Transsexuellen und Sittenstrolchen, Männern, Frauen und Kindern – brutal, banal, perfide. Ein Pandämonium: unsere Welt.
Gegen Ende seiner Schulzeit entdeckt der Titelheld Garp seine Begabung, Geschichten zu erzählen. Fortan ist er hin- und hergerissen zwischen Literatur und Realität, zwischen den phantastischen Welten seiner Einbildungskraft und der Notwendigkeit, das wirkliche Leben in den Griff zu bekommen. Auf einer Reise nach Wien, die seine Mutter mit ihm unternimmt, um die Kunst und Dekadenz Europas ‚aufzusaugen’, macht Garp die Erfahrung, daß Leiden, Schmerz und Vergänglichkeit Grundtatsachen des Lebens sind – und daß der Glaube an einen festgelegten Sinn oder darin, das Leben lenken zu können, nichts als pure Illusion ist. Statt dessen gelangt er zu der zentralen Überzeugung, daß das Chaos des Lebens allein durch Sprache und Sexualität zusammengehalten wird. Garp wird Schriftsteller. Er schreibt eine Kurzgeschichte und zwei Romane, von denen der letzte ein voller Erfolg wird. Als sein Schwiegervater stirbt, übernimmt Garp von ihm, seinem ehemaligen Lehrer, die Aufgabe des Ringkampftrainers. Und als seine politisch aktiv gewordene Mutter ermordet wird, tritt er sogar für feministische Anliegen ein. Doch sein Ruf als Ultrachauvinist, den er sich im Kampf gegen eine Gruppe radikaler Feministinnen erworben hat, holt ihn am Ende doch noch ein.“
(aus dem Klappentext – meine Buchausgabe: Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg – einmalige Sonderausgabe September 1998)
Kann man von einem Autor mit der Zeit genug bekommen? Von Irving, ich fürchte, ja. Wenn man John Irving, z.B. den Garp, zum ersten Mal liest, wird man schnell von den vielen skurrilen Typen und den makabren Begebenheiten gefangen genommen. Aber wie bei einem üppigen Mahl hat man es schnell satt.
John Irving beruft sich gern auf Günter Grass als literarische Vorbild. Beide sind wohl auch miteinander befreundet. Während Grass aber in seinem scheinbar dem Barock zu entstammenden Stil wortgewaltig kunstvolles Spiel mit der Sprache treibt, bleibt Irving sprachlich oft sehr blass, was nicht nur an der Übersetzung ins Deutsche liegen kann. Dafür treibt seine Phantasie reichlich Blüten, die sich aber, schaut man genauer hin, sehr schnell in immer wiederkehrenden Motiven und Themen erschöpft, z.B. „Charakteristika von Figuren (schüchterne Männer, starke Frauenfiguren, vaterlos aufwachsende Söhne, Prostituierte); Beziehungen (sexuelle Beziehungen zwischen älteren Frauen und jüngeren Männern, Inzest, häufig homoerotische Beziehungen) und Milieus (Rotlichtmilieus, Internatsschulen, Hotels/Pensionen, Zirkus) sowie die Schriftstellerei, Motorräder, Religion und immer wieder Bären.“ (vergleiche hierzu den Absatz bei de.wikipedia.org)
Manchmal ist es eben zuviel des Guten. Damit man mich nicht falsch versteht: Garp ist ein durchaus lohnenswerter Roman. Als ich ihn zum ersten Mal gelesen hatte, war ich angetan von all den seltsamen Gestalten, die ihn bevölkern. Aber man sollte den Roman wahrscheinlich kein zweites oder gar drittes Mal lesen, dann verliert er merklich an Farbe. Plötzlich erscheint jener Garp etwas blutleer geworden, in manchem kindisch oder gar banal. Garp entgleitet einem plötzlich, ist nicht mehr so sympathisch wie man ihn glaubte, sympathisch gefunden zu haben. Es treten Irritationen auf, die man nicht ganz wegstecken mag, z.B. sein Sicherheitswahn den eigenen Kindern gegenüber geht einem auf den Keks. Da musste ja kommen, was dann kam.
Vieles ist natürlich ‚Absicht’. Irving will uns locken. Und es gelingt ihm auch. Trotzdem erscheint mir das Buch (und nicht nur dieses) als eine Offenbarung männlicher Sexual- und Gewaltphantasien, die Irving mit einem feministischen Häkeldeckchen zu bemänteln sucht. Oder ist auch das nur ‚Absicht’?!
Nun bei den Kritikern kam John Irving nicht immer gut weg. Dafür hat sich aber Hollywood seiner (bzw. seiner Romane) angenommen. So wurde nicht nur eben Garp verfilmt, sondern besonders erfolgreich u.a. auch sein Roman Gottes Werk und Teufels Beitrag, der Irving dann auch den Oscar 2000 für das beste Drehbuch einbrachte. Irvings Romane scheinen sich besonders für die Verfilmung zu eignen – und besonders für die Verfilmung durch Hollywood.
„Ich? Ich lese keine Bücher!“ erklärt Irnerio bündig.
„Und was liest du dann?“
„Gar nichts. Ich habe mich so ans Nichtlesen gewöhnt, daß ich nicht mal lese, was mir zufällig unter die Augen kommt. Das ist nicht leicht: Im zarten Kindesalter bringen sie einem das Lesen bei, und dann bleibt man das ganze Leben lang Sklave all des geschriebenen Zeugs, das sie einem ständig vor die Augen buttern. Na ja, auch ich mußte mich in der ersten Zeit schon ein bißchen anstrengen, bis ich nichtlesen konnte, aber inzwischen geht’s ganz von allein. Das Geheimnis ist, daß du nicht weggucken darfst, im Gegenteil, du mußt hinsehen auf die geschriebenen Wörter, du mußt so lange und intensiv hinschauen, bis sie verschwinden.“
(Italo Calvino: Wenn ein Reisender in einer Winternacht, S. 59)
Es ist eine interessante Sache, die vom Nichtlesen, wie sie Italo Calvino in seinem Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht niedergeschrieben hat. Sind wir nicht Sklaven des Gelesenen? Können wir nicht auch ‚ohne’?
Zunächst drängt sich mir der Vergleich mit dem Schwimmen auf, einmal gelernt, kann man es nicht mehr verlernen. Ähnlich sollte es sich mit dem Lesen verhalten. Gut, man kann aus der Übung kommen. Aber selbst wer jahrelang im Kerker ohne Lektüre verbringt, dürfte beim Freikommen noch Lesen können.
Dann interessiert mich schon, warum wir eigentlich lesen. Ohne Lesen läuft ziemlich wenig. Das dürften Analphabeten am besten wissen. Statt des Lesens haben sie sich aber bestimmt andere Hilfen geschaffen, die ihnen das Lesen ersetzen (notfalls fragen sie nach). Lesen und Schreiben gehört zum täglichen Leben. Ich kann zwar darauf verzichten, die Zeitung zu lesen usw., aber spätestens beim Einkaufen möchte ich doch wissen, was etwas kostet (so dicke habe ich es nicht). Oder ich brauche nur das Umfeld meines Schreibtisches zu betrachten: Buchrücken mit Schrift, Notizen, der Bildschirm selbst …
Beim im Roman nur kurz auftretenden Irnerio, der eigentlich lesen kann, ist das Nichtlesen zunächst ein ganz bewusster Akt. Lässt man in seiner Konzentration, nicht zu lesen, nach, wird man unwillkürlich ‚lesen’. Irnerio schaut also ganz genau hin auf die geschriebenen Worte – und das immer mit dem Bewusstsein, nicht zu lesen. Kann man das überhaupt? Zunächst dürfte es einem schwer fallen, das Gelesene gewissermaßen zu ignorieren. Ähnlich dürfte es beim Denken sein. Ego cogito, ergo sum, meinte schon René Descartes: „Ich denke, also bin ich.“ Immerhin schaffe ich es, eine Zeitlang, wenn auch nicht zu lang, meinen Kopf abzuschalten und nicht zu denken. Aber auf Geschriebenes zu blicken und nicht zu lesen – irgendwie schaffe ich das nicht. Vielleicht kann ich meinen Kopf soweit ausschalten, dass ich nicht den Sinn des Geschriebenen verstehen. Aber es sind immer wieder einzelne Wörter, die sich in mein Bewusstsein einbrennen: Ego lego, ergo sum – „Ich lese, also bin ich“, hätte der gute René sagen sollen.
Calvions Irnerio muss also ein langes ‚Training’ hinter sich gebracht haben, um sein Nichtlesen zu perfektionieren. Ich kann zwar weggucken. Aber das ist es ja angeblich nicht. Also hinsehen und nichtlesen …. Hinsehen und nichtlesen … (Ins Wasser springen und nicht schwimmen …). Wer lässt sich so etwas einfallen: Italo Calvino in seinem Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht.
Übrigens es gibt einen Twitter-Account: Nichtlesen
Das Wort nichtlesen taucht natürlich nicht im Duden auf. Es gibt nur nicht lesen. Aber nicht lesen ist etwas anderes als nichtlesen … nur so am Rande!
Es ist wieder einige Tage her: Auf meiner Leseliege liegend bei Sonnenschein las ich erneut Italo CalvinosWenn ein Reisender in einer Winternacht, einen ganz außergewöhnlichen Roman, den ich hier bereits einmal kurz vorgestellt habe (Romananfänge (5): Wenn ein Reisender …). Der Roman stammt aus dem Jahr 1979 und ist auf Deutsch in einer Übersetzung von Burkhart Kroeber 1983 erschienen (ich habe die Taschenbuchausgabe dtv 10516 – Deutscher Taschenbuch Verlag, München – Januar 1986).
„Wenn sich ein Lesender in dem Roman von Italo Calvino das Eigentumsrecht an dem neuen Roman von Italo Calvino erwirbt und nach Hause eilt, um in der bequemsten Lesehaltung – über die es allerdings unterschiedliche Ansichten gibt – darin zu lesen, muß er bald erleben, daß er auf den fälschlich eingebundenen Druckbogen eines polnischen Buches stößt. Damit nicht genug. Gerade als es spannend wird, denn die Ex-Frau des Doktors ist eine faszinierende Person, und der Kommissar behält den Reisenden in einer Winternacht im Auge, fängt die Handlung an, sich zu wiederholen. Bald findet sich eine (Mit-)Leserin Ludmilla, und ‚am Ende landen der Leser und Ludmilla in aller Welt und aller Welts-Geschichten verwickelt in den Schutzräumen (den Gummizellen?) einer Bibliothek, aus denen sie herauskatapultiert werden: ins Happy-End; die beiden heiraten. Und haben ihre schönste Katastrophe noch vor sich. Die Hochzeitsnacht. Anstatt das eine tun sie das andere: Sie lesen >Wenn ein Reisender in einer Winternacht< von Italo Calvino. Alles fängt von vorne an. In unaufhörlicher Lust. Lesen, ein Wahnsinn? Ein Witz.’ (Die Zeit)“
(aus dem Klappentext)
Bin auf den Gedanken gekommen, einen Roman zu schreiben, der nur aus lauter Romananfängen besteht. Der Held könnte ein Leser sein, der ständig beim Lesen unterbrochen wird. (S. 237)
Diesen Gedanken, den Calvino einem seiner Protagonisten, einen Schriftsteller, unterschiebt, ist gewissermaßen das Motto dieses Buches.
– und schon legt sich über den Roman, den du lesen möchtest, ein Roman, den du möglicherweise leben könntest, die Fortsetzung deiner Geschichte [mit ihr] … (S. 39)
Man beachtet nach ‚lesen möchtest’ das ‚leben könntest’ – leben statt lesen. Aus dem Roman erhebt sich plötzlich der Leser, wird lebendig und Teil eines Romans. Eine faszinierende Idee, die sich natürlich nur lesend (dann leider doch nicht lebend) realisieren lässt, aber immerhin. Oder?
Wollt ihr beweisen, daß auch die Lebenden eine wortlose Sprache haben, mit der man nicht Bücher schreiben, sondern die man nur leben kann, Sekunde um Sekunde lebendig erleben, nicht aufzeichnen noch im Gedächtnis bewahren? Zuerst kommt diese wortlose Sprache der lebenden Körper – ist das der Grundgedanke […] – und dann erst kommen die Worte, mit denen man Bücher schreibt … (S. 85)
„Nicht in der dritten oder ersten Person, sondern konsequent in der Du-Form wird geschildert, wie der Leser das Buch in einer großen Buchhandlung kauft, es nach Hause trägt, es erwartungsvoll auspackt, aufschlägt, den Klappentext überfliegt und schließlich, nachdem er die bequemste Lesestellung gefunden und sich die nötige Ruhe verschafft hat („Mach lieber die Tür zu, drüben läuft immer das Fernsehen“), zu lesen beginnt.“ (Quelle: de.wikipedia.org).
Aber es gibt ja nicht nur den (männlichen) Leser, sondern auch die (weibliche) (Mit-)Leserin. Das Buch wird ja nicht nur von Männern gelesen:
Es ist an der Zeit, daß sich dieses Buch in der zweiten Person nicht mehr nur an ein unbestimmtes männliches Du wendet, […] sondern nun auch direkt an dich, die du seit dem zweiten Kapitel als notwendige Dritte Person auftrittst, damit der Roman ein Roman werden kann … [S. 168)
Italo Calvino beehrt uns in diesem Roman gleich mit zehn Romananfängen, die leider an ihrer jeweiligen Peripetie abbrechen. Manchen Leser wird das sicherlich nerven. „Stilistisch stellt jeder der zehn Romananfänge […] eine Parodie auf oder eher Hommage an eine bestimmte Schreibweise oder Autorengruppe des 20. Jahrhunderts dar – vom Nouveau Roman à la Robbe-Grillet bis zum russischen Revolutionsroman, von Kafka und Borges bis zum Pariser Gangsterkrimi, vom amerikanischen Campusroman bis zum Psychothriller, vom japanischen Liebesroman bis zum lateinamerikanischen magischen Realismus und zum Symbolismus eines Andrej Bely. So gesehen, bilden die zehn Romananfänge eine Art Querschnitt durch die moderne Literatur, ohne sich in jedem Fall einem bestimmten Stil oder Genre sicher zuordnen zu lassen.“ (Quelle: de.wikipedia.org).
Insgesamt ist der Roman ein Metaroman: Ein Roman in einem Roman in einem Roman usw. – das elfmal. Wer Romane mag, wird diesen Roman lieben (müssen).
„Dein Zuhause als Ort, wo du liest, kann uns nun sagen, welchen Platz die Bücher in deinem Leben haben: ob sie eine Schutzmauer sind, die du vor dir errichtest, um die Außenwelt fernzuhalten, ein Traum, in den du eintauchst wie in eine Droge, oder ob sie womöglich Brücken sind, die du nach draußen schlägst, hinaus in die Welt, die dich so interessiert, daß du ihre Dimensionen mit Hilfe der Bücher erweitern und vervielfachen willst.“ (S. 169)
„Ein brillantes Verwirrspiel um einen Lesenden und eine (Mit-)Leserin, die von einer Geschichte in neun andere geraten. ‚Prall und deftig, mit beiden Händen ins Leben gegriffen, saftig, detailreich, dicht dazu, voller versteckter und offener Bezüge, dabei raffiniert und hinterlistig, immer so erzählt, daß sich die Balken biegen’, schrieb W. Martin Lüdke im >Spiegel<“
Bei einem Blick auf eine Liste der besten englischsprachigen Romane (ab 1923) im Time-Magazin (TIME 100 Best English-language Novels from 1923) war ich doch erstaunt, wie viele der dort aufgeführten Autoren ich bereits gelesen habe. Dabei ist die US-amerikanische Literatur gar nicht mein unbedingter Favorit (es handelt sich ei der Liste allerdings nicht nur um US-amerikanische Autoren): George Orwell, Raymond Chandler, Margaret Atwood, J.D. Salinger, Anthony Burgess, Doris Lessing, John Steinbeck, William Golding, Salman Rushdie, William Burroughs, Kazuo Ishiguro, Jack Kerouac, E.L. Doctorow, Dashiell Hammett, Ernest Hemingway, Henry Miller u.a.. Außerdem fallen mir noch John Irving und T. Coraghessan Boyle ein, die auf dieser Time-Liste fehlen.
Einer der bedeutendsten amerikanischen Romancier des 20. Jahrhunderts (und gleich zweimal auf der Liste im Time Magazin aufgeführt) ist William Faulkner (1897 – 1962) aus dem Bundesstaat Mississippi. Seine Romane und Erzählungen sind dort in Mississippi angesiedelt.
„Der Mensch weiß so wenig von seinen Mitmenschen und glaubt stets, die Handlungen aller Männer und aller Frauen seien von eben dem Beweggrund bestimmt, dem er sich seiner Meinung nach selbst überließe, wenn er verrückt genug wäre zu tun, was jeweils dieser andere Mann oder diese andere Frau tut.
(William Faulkner: Licht im August – S. 36)
Während meines Sommerurlaub auf meiner Leseliege verweilend las ich bereits wiederholt William Faulkners Roman Licht im August (Light in August (1932) – Rororo 1508 – Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, 43.-47. Tausend, September 1980) in der Erstübersetzung ins Deutsche aus dem Jahre 1935 von Franz Fein.
„Zu Beginn des Romans macht sich ein junges Mädchen auf, ihren Geliebten zu suchen. Am Ende, zwei Monate später, hat sich ihr Schicksal in der Begegnung mit einem anderen Mann erfüllt, aber das Chaos sündhafter Verstrickungen, in das sie auf ihrem Weg gerissen wird, entläßt sie wieder fast unberührt. Aus losen Verknüpfungen, aus verhängnisvollem Zufall wächst unerbittliche Fügung. Der Verdacht des dunklen Blutes macht aus dem alltäglichen Schicksal des Findlings Christmas, des dämonischen Helden des Buches, eine abgründige Existenz, die sich in einem blinden, tollkühnen Amoklauf in die Vernichtung stürzt. Zwischen Schwarz und Weiß, für die es keine Versöhnung in seiner Umwelt gibt, bekennt sich der von Zweifeln Gepeinigte mit selbstzerstörerischer Konsequenz zur Schattenseite seines Wesens und macht sich zum Gefäß eines unbegreiflichen Schicksals, dem keine menschliche Kraft Einhalt gebieten kann. Das Dunkel, das Faulkner in diesem großen, dynamisch-tragischen Roman beschwört, ist in seinen Tiefen von der Prometheischen Fackel der Wahrhaftigkeit geheimnisvoll zuckend durchleuchtet. Faulkner bezeugt hier […] seinen genialen Blick für die letzten Gründe und Abgründe menschlichen Seins. Dieser große Dichter leitet seine Gestalten von so tief innen her, wie es nur bei Dostojewski und Conrad der Fall ist.“
(aus dem Klappentext)
Der Roman spielt zum größten Teil in einer fiktiven Kleinstadt namens Jefferson im US-Bundesstaat Mississippi. Hier kreuzen sich die Wege unterschiedlichster Menschen. Da ist jene schwangere Lena Grove aus Doane’s Mill/Alabama, die ihren Geliebten Lucas Burch sucht, der sich als Joe Brown in Jefferson niedergelassen hat uns sich dort mit einem Joe Christmas zusammengetan hat, um schwarzgebrannten Whisky zu verhökern. Beide haben Unterkunft in einem Schuppen bei einer Miss Burden gefunden. Christmas ist Liebhaber dieser Miss Burden.
In Rückblenden erfahren wir, das jener Christmas als Findelkind in ein Heim gekommen war, dort von den anderen Kindern als ‚Nigger’ gehänselt wurde. Obwohl vom Äußerlichen nicht erkennbar, brennt sich dieser ‚Verdacht des dunklen Blutes’ derart in das Bewusstsein des Kindes ein, sodass er auch als Erwachsener nicht davon loskommt und als Außenseiter sein Dasein fristet. Er kommt noch als kleiner Junge in die Obhut von Mr. und Mrs. McEachern. Dieser ist ein bigotter Frömmler, der das Kind entsprechend zu erziehen sucht, bis er eines Tages von Christmas niedergeschlagen wird. Christmas flüchtet und findet sich in Jefferson wieder. Später erfahren wir, dass seine Mutter, Milly mit Vornamen, eine Affäre mit einem Mann aus einem Wanderzirkus hatte und begegnen seinen Großeltern, Eupheus Hines, genannt Doc, und Frau.
In Jefferson wohnen u.a. Byron Bunch, der sich später Lena Grove, die hier in diesem kleinen Ort entbunden hat, und ihrem Kind annimmt, und der Reverend Gail Hightower, der nach dem Tod seiner Frau, dessen Ursachen nicht ganz geklärt sind, in Jefferson ebenfalls als Außenseiter lebt.
Miss Burden, die Joe Brown alias Lucas Bruch und Joe Christmas Unterkunft geboten hat, wird eines Tags ermordet. Es kann für diese unsinnige Tat nur Joe Christmas in Frage kommen, zumal er zunächst flüchtet und von Kennedy, dem Sheriff von Jefferson, verfolgt wird.
Am Ende wird Christmas in dem Haus des Reverenden Hightower von dem jungen Hauptmann der Staatsmiliz, Percy Grimm, der Christmas ohne Mandat des Sheriffs verfolgt hat, in Hightowers Haus mit fünf Schüssen niedergestreckt und kastriert.
„In seinem erfolgreichsten Roman greift der amerikanische Romancier und Nobelpreisträger das erregendste Problem der USA auf: die Rassenfrage. Mit einer Leidenschaft, wie wir sie in der europäischen Literatur kaum noch kennen, entrollt sich der Lebensweg eines Ausgestoßenen in der weiten Landschaft des Mississippi.“
„Seit Henry James hat kein Schriftsteller ein so großes und dauerndes Denkmal für die Kraft der amerikanischen Literatur hinterlassen.“ (John F. Kennedy).
Du schickst dich an, den neuen Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht von Italo Calvino zu lesen. Entspanne dich. Sammle dich. Schieb jeden anderen Gedanken beiseite. Laß deine Umwelt im Ungewissen verschwimmen. Mach lieber die Tür zu, drüben läuft immer das Fernsehen. Sag es den anderen gleich: „Nein, ich will nicht fernsehen!“ Heb die Stimme, sonst hören sie’s nicht: „Ich lese! Ich will nicht gestört werden!“ Vielleicht haben sie’s nicht gehört bei all dem Krach; sag’s noch lauter, schrei: „Ich fang gerade an, den neuen Roman von Italo Calvino zu lesen!“ Oder sag’s auch nicht, wenn du nicht willst; hoffentlich lassen sie dich in Ruhe.
Das schreibt kein Kritiker, kein Freund, der mir viel Spaß beim Lesen wünscht. Nein, so beginnt eben dieser Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht von Italo Calvino aus dem Jahr 1979, auf Deutsch von Burkhart Kroeber 1983 erschienen (ich habe die Taschenbuchausgabe dtv 10516 – Deutscher Taschenbuch Verlag, München – Januar 1986). Ich habe kaum einen originelleren Roman gelesen wie diesen und habe ihn mir herausgeholt, um ihn auf der Leseliege liegend während meines jetzigen Urlaubs erneut zu lesen.
Der Roman beginnt auf einem Bahnhof, eine Lokomotive faucht, Kolbendampf zischt über den Anfang des Kapitels, Rauch verhüllt einen Teil des ersten Absatzes. In den Bahnhofsgeruch mischt sich ein Dunstschwaden aus dem Bahnhofscafé. Jemand schaut durch die beschlagenen Scheiben, öffnet die Glastür des Cafés, alles ist diesig, auch drinnen, wie mit kurzsichtigen oder von Kohlenstäubchen gereizten Augen gesehen. Die Buchseiten sind beschlagen wie die Fenster eines alten Zuges, der Rauch legt sich auf die Sätze. Es ist ein regnerischer Abend; der Mann betritt das Café, knöpft sich den feuchten Mantel auf, eine Wolke von Dampf umhüllt ihn, ein Pfiff ertönt über die Gleise, die vom Regen glänzen, so weit das Auge reicht.
So beginnt dann der ‚eigentliche’ Roman. Aber schon nach wenigen Seiten, als es spannend wird, bricht er ab – und bald schon erkennt der Leser, der vom Autoren mit „du“ abgesprochen wird, dass er die Hauptperson selbst zu sein scheint. Der Leser stolpert in eine Art literarische Spurensuche – und kreuzt die Wege einer (Mit-)Leserin namens Ludmilla. Am Ende meint es Calvino vielleicht doch etwas zu gut mit dem Leser, denn …
Leser und Leserin, nun seid ihr Mann und Frau. Ein großes Ehebett empfängt eure parallelen Lektüren. Ludmilla klappt ihr Buch zu, macht ihr Licht aus, legt ihren Kopf auf das Kissen, sagt: „Mach du auch aus. Bist du nicht lesemüde?“ Und du: „Einen Moment noch. Ich beende grad Wenn ein Reisender in einer Winternacht von Italo Calvino.“
Ich schreibe für mich selber, für die Freunde und um das Verringen der Zeit weniger schmerzhaft zu verspüren.
Jorge Luis Borges
Betrachtet man die lateinamerikanische Literatur, so fällt der 1899 in Buenos Aires geborene und 1986 in Genf verstorbene Jorge Luis Borges doch ziemlich aus dem Muster. Er war ein Vertreter der kleinen Form und schrieb überwiegend Gedichte (siehe u.a. meinen Beitrag Jorge Luis Borges: Ein Traum) und Kurzgeschichten. Borges fiel aus der Muster, weil er sich weniger dem Leben und den Ereignissen in Südamerika widmete, das zwar auch, aber vornehmlich schrieb er Erzählungen, die rätselhaft, labyrinthisch, symbolisch und phantastisch sind. Literarisch maßgeblich beeinflusst war er durch die englische Literatur (Whitman, Chesterton, Shaw, De Quincey), Franz Kafka und dem Daoismus. Seine philosophischen Anschauungen, die dem erkenntnistheoretischen Idealismus verpflichtet sind und sich in seinen Erzählungen und Essays wiederfinden, bezog Borges vornehmlich von George Berkeley, David Hume und Arthur Schopenhauer. Borges war eher ein ‚europäischer’ Schriftsteller.
Borges verstand sich nicht als politischer Schriftsteller, galt aber als konservativ, teilweise sogar als antidemokratisch bis reaktionär, was im Zusammenhang mit seiner Kritik an den zweimaligen argentinischen Präsidenten Juan Perón zu sehen ist, der Demokratie nicht unbedingt nach westlichem Muster interpretierte. So unterstützte Borges zunächst den Militärputsch von 1976, der der Perón-Herrschaft ein Ende setzte, ging dann aber auf Distanz zu der Militärdiktatur.
Während einer Sommergrippe, die mich auch heute noch plagt, habe ich Zeit gefunden, mir Jorge Luis Borges’ Werk, speziell seine Erzählungen, noch einmal vorzunehmen.
„Die Vorstellungen Humes und die der Gnostiker haben Borges’ Weltbild geprägt. Eine Welt, die von einem unreifen, unüberlegt handelnden Gott geschaffen wurde, die dann halb vollendet liegenblieb, in der es keine Autorität, keinen Bezugspunkt gibt, kann nicht den Anspruch auf Ordnung und Harmonie erheben. […] Der Mensch ist verdammt, in einem Chaos, in einem chaotischen Dasein zu leben.
… da es in der Wirklichkeit unmöglich ist, […] das Chaos zu durchdringen, kommt der Mensch zu dem Entschluß, diese Möglichkeit zumindest in einem imaginären, phantastischen Universum nach seiner Vorstellung zu realisieren.“ (Nachwort von José A. Friedl Zapata, Heidelberg, im Mai 1973 im Band: Die Bibliothek von Babel – Erzählungen – Philipp Reclam Jun., Stuttgart – Universal-Bibliothek Nr. 9497 – 1974)
Anhand von kurzen Textpassagen möchte ich an dieser Stelle einige wesentliche Aspekte der Gedanken Borges’ vorführen, die ich vor allem als Gedankenspiele ansehe, wenn auch äußerst interessanten. Borges beschäftigte sich mit dem Gedanken der Unendlichkeit und hat dabei einige bemerkenswerte ‚Bilder’ entworfen.
Zunächst behandelte Borges den Gegensatz von Abfolge und Simultanität. Letzteres lässt sich vielleicht in einem geometrischen Punkt darstellen, der ohne Ausdehnung ist. Die Abfolge wäre dann vielleicht die Gerade, die unendlich lang ist. Er beschreibt ein Problem der Sprache des Nacheinanders statt der Simultanität: „Was meine Augen schauten, war simultan; was ich beschreiben werde, ist sukzessiv, weil die Sprache es ist.“ (Das Aleph in: Die zwei Labyrinthe – dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, München – Originalausgabe – Juli 1986 – S. 124). Wenn Borges dann die Dichtung eines fiktiven Volkes in einem einzigen Wort reduziert sieht („… die Dichtung der Urnen [besteht] aus einem einzigen Wort.“ (Undr in: Das Sandbuch – Erzählungen – Carl Hanser Verlag München, Wien – Reihe Hanser 233 – 1977 – S. 76)), dann ist das der erzählende Versuch, der Sprache simultane Eigenschaft aneignen zu wollen.
Sprache, Wörter, Verständnis: Hierzu schreibt Borges u.a. „Die Wörter sind Symbole, die ein gemeinsames Gedächtnis voraussetzen.“ (Der Kongreß in: Die Bibliothek von Babel) oder „Um etwas zu sehen, muß man es verstehen.“ (There Are More Things in: Das Sandbuch S. 55). Beim Erinnern oder Vergessen bezieht sich Borges auf Bacon: “Bacon habe geschrieben, wenn Lernen Sich-Erinnern ist, dann ist Unkenntnis nichts anderes als Vergeßlichkeit.“ (Die Nacht der Gaben in: Das Sandbuch S. 61)
In der außergewöhnlichen Erzählung „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“ lässt Borges nicht nur ein fiktives Land erschaffen, sondern gleich einen ganzen fiktiven Planeten, der seine eigenen Gesetzmäßigkeiten hat: „Ich habe gesagt, daß die Menschen dieses Planeten die Welt als eine Folge geistiger Vorgänge auffassen, die sich nicht im Raum, sondern nacheinander in der Zeit abspielen.“ (Tlön, Uqbar, Orbis Tertius in: Die zwei Labyrinthe S. 25)
Die Unendlichkeit nun stellt er z.B. anhand eines Buches dar, das er Sandbuch (Text dt. – span.) nennt: „Sein Buch heiße Sandbuch, sagte er, weil weder das Buch noch der Sand Anfang oder Ende hätten.“ (S. 112 – Das Sandbuch). Weder ein Anfang noch ein Ende des Buchs lässt sich aufschlagen. Als Motto versieht Borges diese Erzählung mit einem Ausspruch von George Herbert (1593-1623): „…thy rope of sands …“ (ein Seil aus Sand).
Wohl die bekanntes Erzählung ist die von der unendlichen Bibliothek von Babel (dt. Text/span. Text), die auch Einzug in den bekannten Roman „Der Name der Rose“ vom Umberto Eco hielt. Jorge Luis Borges wird in dem mittelalterlichen Roman zu jenem Jorge von Burgos, dem Hüter der Klosterbibliothek.
„Das Universum (das andere die Bibliothek nennen) setzt sich aus einer unbegrenzten und vielleicht unendlichen Zahl sechseckiger Galerien zusammen […] Zwanzig Bücherregale, fünf breite Regale auf jeder Seite, verdecken alle Seiten außer zweien […] jedes Regal faßt zweiunddreißig Bücher gleichen Formats; jedes Buch besteht aus vierhundertzehn Seiten, jede Seite aus vierzig Zeilen, jede Zeile aus etwa achtzig Buchstaben von schwarzer Farbe.“ (Die Bibliothek von Babel in: Die zwei Labyrinthe, S. 54 ff.)
Etwas verquer liest sich die Erzählung von Pierre Menard, dem Autoren einer wortgetreuen Widergabe des Don Quijote, den ja eigentlich Miguel de Cervantes geschrieben hat:
„Auf irgendeine Art Cervantes zu sein und zum Quijote zu gelangen erschien ihm weniger schwierig […], als fernerhin Pierre Menard zu bleiben und durch die Erlebnisse Pierre Menards zum Quijote zu gelangen. […] ‚Ich brauchte nur unsterblich zu sein, um es zu vollenden.’“ (Pierre Menard, Autor des Quijote in : Die zwei Labyrinthe, S. 41)
Auch hier geht es um die Unendlichkeit. Wenn ein Schriftsteller unendlich lang lebte und schriebe, so würde er irgendwann auch den Don Quijote ‚erneut’ schreiben, dann natürlich auch jedes andere Buch dieser Welt.
Aber es gebt auch andersherum: „Es ist Odins Scheibe. Sie hat nur eine Seite.“ (Die Scheibe in: Das Sandbuch, S. 109). In einer Welt des Raums gibt es eigentlich mindestens drei Dimensionen und jede Münze und Scheibe hätte zwei Seiten.
Das Buch „Die zwei Labyrinthe“ (dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, München) enthält neben den Gedichten und Erzählungen auch eine kurzgefasste und lesenswerte „Geschichte des Tango“ (also doch auch etwas mit südamerikanischen Bezug), sowie zwei Vorträge zum Buch (siehe hierzu auch meinen Beitrag: Lesen und Wiederlesen) und zur Zeit:
„Plotin sagt: es gibt drei Zeiten, und alle drei sind die Gegenwart. Eine Zeit ist die augenblickliche Gegenwart, die Zeit, in der ich spreche. Das heißt, der Moment in dem ich sprach, denn dieser Moment gehört nun schon zur Vergangenheit. Die zweite Zeit ist die Gegenwart der Vergangenheit, Erinnerung genannt. Die dritte ist die Gegenwart der Zukunft: das, was unsere Hoffnungen oder Ängste sich vorstellen.
Plato sagte, die Zeit sei das bewegliche Abbild der Ewigkeit.“ (S. 265)
„All das deutet auf die buddhistische Vorstellung der Welt als Traum und auch auf den halluzinatorischen Charakter des Universums im Sinne des Idealismus hin, zwei philosophische Systeme, die letztlich in Schopenhauer münden, der sich mit seiner Forderung nach der Abschaffung des Willens, um auf diesem Weg zum befreienden Nichts zu gelangen, sehr dem buddhistischen Nirwana nähert.“ (José A Friedl Zapata zu Borges)
Die drei wußten es.
Sie war Kafkas Gefährtin. Kafka hatte von ihr geträumt.
Die drei wußten es.
Er war Kafkas Freund.
Kafka hatte von ihm geträumt.
Die drei wußten es.
Die Frau sagte zu dem Freund:
Ich möchte, daß du mich heute nacht begehrst.
Die drei wußten es.
Der Mann antwortete: Wenn wir sündigen,
Wird Kafka aufhören, von uns zu träumen.
Einer hat es gewußt.
Es war niemand mehr auf der Erde.
Kafka sagte sich:
Da nun die beiden fort sind, bin ich allein zurückgeblieben.
Ich werde aufhören, von mir zu träumen.
Hierzu Borges: „Dieser Traum wurde mir eines Morgens in East Lansing diktiert, ohne daß ich ihn verstand, ohne daß er mich sonderlich beunruhigte; ich konnte ihn später nachschreiben. Wort für Wort. Natürlich handelt es sich um eine bloße psychologische Kuriosität oder, sofern der Leser großmütig genug ist, um ein harmloses Gleichnis des Solipsismus.“
Albert Camus war Schriftsteller und Philosoph des Existenzialismus und gilt als einer der bekanntesten und bedeutendsten französischen Autoren des 20. Jahrhunderts. 1957 erhielt er für sein Gesamtwerk den Nobelpreis für Literatur. Wie bereits in meinem Beitrag Albert Camus – Dramen (Teil 1) geschrieben, so war Albert Camus nicht nur Philosoph und Verfasser von Romanen und Erzählungen. Er war auch ein begeisterter Theaterfreund und als solcher Schauspieler und Regisseur eines kleinen Theaters in Algier – und natürlich Dramatiker. Zwischen 1938 und 1950 verfasste er vier Schauspiele. 1959 dramatisierte er mit dem Stück „Die Besessenen“ den Roman Dämonen von Dostojewski. Und wie ebenfalls bereits erwähnt, so werden Camus’ Stücke auch heute immer noch aufgeführt.
Komme ich heute zu den beiden letzten Stücken von Camus’ Dramen, die ich in folgender Ausgabe vorliegen habe: Albert Camus: Dramen – ins Deutsche übertragen von Guido G. Meister – Rowohlt Verlag, Hamburg – 128. – 131. Tausend, April 1982 (14. Auflage) – Sonderausgabe. Man könnte die beiden Stücke „Die Gerechten“ und „Die Besessenen“ als russische Stücke bezeichnen.
Die Gerechten ist ein Schauspiel in fünf Akten und wurde am 15. Dezember 1949 im Théâtre Hébertot, Paris, uraufgeführt.
Experimentelle Kurzfilmadaption einer Szene aus „Die Gerechten“ von Albert Camus.
„Russland im Jahre 1905. Eine terroristische Kampftruppe, Mitglieder der Partei der Sozialrevolutionäre, plant ein Bombenattentat auf den Grossfürsten Sergej, den Onkel des Zaren, um das zaristische Regime zu erschüttern. Doch Kaljajew, der die Bombe werfen soll, bringt es nicht fertig, als er sieht, dass zwei Kinder mit in der Kutsche sitzen. Alle haben Verständnis für den Grundsatz: Unschuldige dürfen nicht leiden. Nur Stepan, der nach Haft, Folter und Flucht voller Hass ist, würde für die ‹Sache› sogar Kinder opfern. Zwei Tage später gelingt es Kaljajew, den Grossfürsten allein zu töten. Er wird verhaftet, gefoltert und soll seine Freunde verraten mit der Aussicht auf Begnadigung. Doch Kaljajew bleibt seiner Tat treu, auch als die Witwe des Grossfürsten ihn im Gefängnis besucht und ihn zur Reue bekehren möchte: «Nur wenn ich nicht stürbe, wäre ich ein Mörder». Er wird hingerichtet. Als die Kampftruppe davon erfährt, beschliesst Dora, die nächste Bombe zu werfen, um ihrem Geliebten ins Jenseits zu folgen. «O Liebe! Leben! Nein, nicht Leben: Liebe im Tod!»“ (Quelle: art-tv.ch)
Personen:
Dora Duljebow
Die Großfürstin
Iwan Kaliajew (Kaljajew) , genannt Janek, der “Dichter”
Stepan Fjodorow
Boris Annenkow, genannt Borja
Alexis Woinow
Skuratow
Foka
Der Wärter
Das Theaterstück basiert auf einer wahren Begebenheit: Im Jahre 1905 verübte die terroristische Gruppierung der Sozialrevolutionäre einen Anschlag auf den russischen Großfürsten Sergei. Das Stück ist natürlich insoweit aktuell, als es um einen terroristischen Anschlag geht. Allerdings suchen die Attentäter nach Gerechtigkeit in einem zaristischen Russland, während heutige Terroristen eher die Implementierung despotischer Systeme anstreben und dabei auch auf Unschuldige wenig Rücksicht nehmen. „Die Revolution frisst ihre Kinder“, heißt es. Camus’ Revolutionäre sind der Gerechtigkeit halber bereit zu sterben.
„In ‚Die Gerechten’ legt Camus an einem Fall aus der russischen Geschichte die Grenzen menschlichen Handels dar. Er zeigt, daß auch die radikale revolutionäre Tat nur in diesen Grenzen zu rechtfertigen ist, daß die Täter in ihren Tod einwilligen müssen, wenn sie sie überschreiten und um eines Ideals willen zu Mördern werden.“ (Klappentext zum Buch)
Albert Camus schreibt in seinem Vorwort zu seinen Dramen zum Stück: „Meine Helden Kaliajew und Dora besitzen meine ungeteilte Bewunderung. Ich wollte bloß darlegen, daß auch der Tat selbst Grenzen gesetzt sind. Nur die Tat ist gut und gerecht, die diese Grenzen anerkennt und, falls sie sie überschreiten muß, zumindest in den Tod willigt. Unsere Welt zeigt uns heute ein widerliches Gesicht, gerade weil sie von Menschen gezimmert wird, die sich das Recht anmaßen, diese Grenzen zu überschreiten und insbesondere Mitmenschen zu töten, ohne selbst mit dem Leben zu bezahlen. So kommt es, daß die Gerechtigkeit heute überall auf der Welt den Mördern jeglicher Gerechtigkeit als Alibi dient.“
Am 30. Januar 1959 wurde das Drama „Die Besessenen“, Albert Camus‘ Bearbeitung des Romans von Dostojewski für die Bühne, im Théâtre Antoine, Paris, uraufgeführt. Es ist gewissermaßen eine geraffte Fassung des über 800 Seiten starken Romans.
Die Dämonen ist ein 1873 veröffentlichter Roman von Fjodor Dostojewski. Das Buch beschreibt das politische und soziale Leben im vorrevolutionären Russland des späten 19. Jahrhunderts, als unter zunehmender Labilität der zaristischen Herrschaft und traditionellen Wertesysteme verschiedene Ideologien (Nihilismus, Sozialismus, Liberalismus, Konservatismus) aufeinanderprallten, die von Dostojewski jeweils in einem Protagonisten dargestellt werden. In geradezu seherischer Art und Weise hat Dostojewskij die politischen und menschlichen Entwicklungen des 20. und 21. Jahrhunderts präzise vorhergesagt.
Im Roman wie auch in dem Theaterstück stehen zwei Ereignisse im Mittelpunkt. Beim ersten geht es um einen Mord innerhalb einer revolutionären Gruppe. Bei dieser wahren Begebenheit wurde auf Veranlassung des skrupellosen Nihilisten Sergei Netschajew ein junges Mitglied seiner Gruppe von seinen Kameraden ermordet. Netschajews Absicht war, damit gleichzeitig einen Kritiker auszuschalten und die Gruppe durch den gemeinschaftlichen Mord zusammenzuschweißen. Die Figur Peter (Pjotr) Werchowenski und die Ereignisse um seine revolutionäre Gruppe in „Die Dämonen“ basieren auf Netschajew und dem Mordfall. Das andere Ereignis ist Stawrogins Beichte bei Bischof Tichon. Der von inneren Widersprüchen zerrissene Stawrogin offenbart darin seine Zweifel an Gott und jeder Moral.
Personen:
Grigorejew, der Erzähler
Stepan Trofimowitsch Werchowenski
Warwara Petrowna Stawrogina
Liputin
Schigalew
Iwan Schatow
Wirginski
Gaganow
Alexej Jegorowitsch, Diener
Nikolai Stawrogin
Praskowja Drosdowa
Dascha Schatowa, Schwester von Iwan. S.
Alexej Kirillow
Lisa Drosdowa
Mawriki Nikolajewitsch
Marja Timofejewna Lebjadkina
Hauptmann Lebjadkin
Peter Stepanowitsch Werchowenski
Fedka
Der Seminarist
Ljamschin
Tichon, der Bischof
Marja Schatowa, Frau von Iwan S.
Schauplätze:
1. Bei Warwara Stawrogina. Reich ausgestatteter, im Stil der Epoche gehaltener Salon
2. Das Filippowsche Haus. Doppeltes Bühnenbild: ein Salon und ein kleines Zimmer. Sehr ärmlich eingerichtete möblierte Wohnung
3. Die Straße
4. Das Lebjadkinsche Haus. Ein schäbiger Salon in der Vorstadt
5. Der Wald
6. Ein geräumiger Saal im Jefimjewski-Kloster
7. Der Salon im Stawroginschen Landhaus in Skworeschniki
Camus schreibt zu Dostojewski im Zusammenhang mit seinem Stück: „Lange Zeit hat man Marx für den Propheten des 20. Jahrhunderts gehalten. […] wir erkennen, daß Dostojewski der wahre Prophet war. Er hat die Herrschaft der Großinquisitoren und den Triumph der Macht über die Gerechtigkeit vorausgesehen. […] Ich stelle die ‚Dämonen’ neben die drei oder vier größten Werke, die die enorme Anhäufung der Schöpfungen menschlichen Geistes krönen: neben die ‚Odyssee’, ‚Krieg und Frieden’, ‚Don Quijote’ und die Dramen Shakespeares. […] Für mich ist in erster Linie Dostojewski der Schriftsteller, der lange vor Nietzsche den zeitgenössischen Nihilismus erkannt, definierte und seine ungeheuerlichen oder wahnwitzigen Folgen voraussah, und der versuchte, die Botschaft des Heils zu bestimmen.“
„Das letzte Bühnenstück des französischen Nobelpreisträgers ist eine eindrucksvolle Adaption des Romans ‚Die Dämonen’ von Dostojewski. Die Begegnung französischer clartè mit dem Dämonischen ist deshalb ein Ereignis, weil sie Extreme abendländischer Geistigkeit zusammenzuzwingen versucht. Das Ergebnis wirkt bei der Lektüre fast noch eindringlicher als bei einer Aufführung auf der Bühne.“ Der Tag, Berlin
Albert Camus war Schriftsteller und Philosoph des Existenzialismus und gilt als einer der bekanntesten und bedeutendsten französischen Autoren des 20. Jahrhunderts. 1957 erhielt er für sein Gesamtwerk den Nobelpreis für Literatur.
Den Philosophen Camus habe ich hier schon in mehreren Beiträgen vorgestellt. In dem Beitrag Albert Camus: Der Fremde zu der Erzählung Der Fremde schrieb ich: „Leben heißt Miterleben […]. Ausgangspunkt der Philosophie Camus’ ist das Absurde des Lebens, die Sinnlosigkeit. Dem kann der Mensch nur durch die Revolte, durch ein tägliches sich Aufbäumen, entgehen. Morgens, wenn ich aufstehe, so lebe ich trotzdem (trotz der Sinnlosigkeit) und mühe mich um menschliche Solidarität.“
Neben Camus ist es Sartre, der gegen die „Sinnlosigkeit des Lebens“ revoltierte. Für den Marxisten Sartre endet die Revolte allerdings im Endziel Kommunismus, bei Camus ist die Revolte ‘endlos’. Außerdem spielt für den Mittelmeermensch Camus vor allem Licht und Schatten eine wichtige Rolle. In dem Schauspiel „Das Mißverständnis“ ist es die Sehnsucht der Schwester nach dem Meer und nach Sonne.
In meinem kleinen Philosophie-Modell berief ich mich übrigens auch auf Camus und schrieb zusammenfassend: „Es gibt keinen eigentlichen, allgemeingültigen Sinn des Lebens. Man muss sich und seinem Leben ‚selbst’ einen Sinn geben. Ähnlich dachte auch Buddha, der das Leben für leidvoll hielt. Man muss gegen diese allgemeine Sinnlosigkeit, gegen das Leid revoltieren. Diese Revolte ist ein tägliches sich Aufbäumen gegen die Absurdität des Lebens.“
Albert Camus war nun nicht nur Philosoph und Verfasser von Romanen und Erzählungen. Er war auch ein begeisterter Theaterfreund und als solcher Schauspieler und Regisseur eines kleinen Theaters in Algier – und natürlich Dramatiker. Zwischen 1938 und 1950 verfasste er vier Schauspiele. 1959 dramatisierte er mit dem Stück „Die Besessenen“ den Roman Dämonen von Dostojewski.
Die Dramen von Albert Camus sind in einem gut 340 Seiten umfassenden Buch erhältlich. Ich selbst zitiere hier aus der folgenden Ausgabe: Albert Camus: Dramen – ins Deutsche übertragen von Guido G. Meister – Rowohlt Verlag, Hamburg – 128. – 131. Tausend, April 1982 (14. Auflage) – Sonderausgabe
Vorweg: Natürlich werden Camus’ Stücke auch heute noch aufgeführt und sind nicht ‚vergessen’. Seine Themen haben nicht an Aktualität eingebüßt. Wie sollten sie auch. Was hat sich schon wesentlich auf unserer Erdenkugel geändert.
Scipio: … Leiden verursachen sei die einzige Art, sich zu irren. (S: 23)
Cherea: Man muß wohl zuschlagen, wenn man nicht widerlegen kann. (S. 32)
Caesonia: … gieße über unsere Gesichter deine unparteiliche Grausamkeit, deinen ganz und gar sachlichen Haß. (S. 48)
Caligula: Das Schicksal kann man nicht begreifen, und darum habe ich mich zum Schicksal gemacht … (S. 51)
Cherea: … die Unsicherheit veranlaßt einen, zu denken. (S. 60)
Caligula: Nun, ich trete gewissermaßen an die Stelle der Pest. (S. 64)
Caligula: Die anderen schaffen aus Machtlosigkeit. Ich jedoch habe kein Werk nötig. Ich lebe. (S. 66)
Calugula: Wenn ihr alle da seid, verspüre ich eine Leere ohne Maß, in die ich nicht blicken vermag. Nur unter meinen Toten ist mir wohl. (S. 69)
Calugula: Die Dummheit […] ist mörderisch. Sie wird zum Mörder, wenn sie sich beleidigt fühlt. (S. 69)
Caligula: Einen Menschen lieben, heißt einwilligen, mit ihm alt zu werden. Dieser Liebe bin ich nicht fähig. Eine alte Drusilla, das war viel schlimmer als eine tote Drusilla. (S. 71)
Caligula: Ich lebe, ich töte, ich übe die sinnverwirrende Macht des Zerstörers, mit der verglichen die Macht des Schöpfers als billiger Abklatsch erscheint. Das heißt glücklich sein! (S. 71)
Caligula: Aber wer wagte es, mich zu richten in dieser Welt ohne Richter, da niemand ohne Schuld ist! (S. 72)
Das Schauspiel Caligula, ein Schauspiel in vier Akten, entstand 1938, nachdem Camus, damals gerade 25 Jahre alt, SuetonsDe vita Caesarum gelesen hatte. Es ist die Tragödie maßlosen Machtwillens. Der vom Drang nach dem Absoluten besessene Caligula glaubt, die Treue zu sich durch die Untreue gegen die anderen gewinnen zu können. Caligula ist kein brutaler Despot, sondern ein raffinierter, intellektueller Verbrecher, der seine Untertanen immer weitertreibt, wie in einem Experiment, um zu prüfen, was sie alles erdulden. Als er endlich unter den Dolchen der Verschwörer zusammenbricht, sind seine letzten Worte: „Ich lebe immer noch.“ – Eine indirekte Aufforderung, dass die Verpflichtung zum Widerstand nie erlischt.
„Historisch setzt es nach dem Tod der Drusilla und der damit verbundenen Krise des Kaisers ein, der die Sinnlosigkeit des Lebens erkennt und damit Camus’ philosophische Konzeption des Existentialismus versinnbildlicht.“
Wuppertaler Bühnen: CALIGULA (Trailer) von Albert Camus
„Caligula, das ist der Spieler ums Absolute, der Tyrann, dessen uneingeschränkte Macht ihn verleitet, sich auf die Suche nach der vollkommenen Freiheit zu begeben, um sich neben die Götter einzureihen. Caligula ist der launische Despot, der zwischen Wahn und Willenskraft seine Untertanen wie Fliegen auslöscht, wenn ihm danach ist, und befiehlt, den Mond für ihn vom Himmel zu holen.
Der als Sohn französischer Eltern in Algerien geborene Albert Camus (1913–1960) popularisierte in seinem kurzen Leben, das mit einem Autounfall endete, die Philosophie gemeinsam mit Jean Paul Sartre, was bis heute nachwirkt. Die beiden waren weit über Frankreich hinaus und auch außerhalb der Intellektuellenszene moralische Instanzen in einem Europa, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg entsetzt die Frage stellte: Wie konnte das geschehen? Was ist die Essenz, was ist die Existenz des Menschen, worin besteht seine Freiheit, was macht die Macht mit ihm? Um all diese Dinge geht es in ‚Caligula’, der in der Nachkriegszeit oft aufgeführt wurde; Camus hatte das Stück unter dem Eindruck Hitlers umgeschrieben und verschärft.“ (Quelle: diepresse.com)
„Der Mensch, zumindest der herrschende, ist so grausam wie Gott.
Grotesk der Konflikt. Ausgerechnet einen Kaiser läßt Camus erkennen, daß die Welt schlecht eingerichtet ist! Derlei Erkenntnis gewinnen üblicherweise Unterdrückte. Oder weiß mir jemand einen Regenten zu nennen, dem die »Weltordnung« ungelegen gewesen wäre? Camus‘ Geschichte gipfelt in des Kaisers Entschluß, das Unmögliche möglich zu machen. Beispielsweise will dieser sich von Helicon, einem ehemaligen Sklaven, den Mond holen lassen. Im übrigen hofft er, eigene unumschränkte Freiheit dadurch zu erringen, daß er Untergebene foltert, vergewaltigt und mordet. Ein Irrer an den Hebeln der Macht also. Verheerend die Folgen.“ (Quelle: berliner-schauspielschule.de)
Camus selbst schrieb in einem Vorwort zu seinen Dramen: „Caligula, ein bis dahin eher liebenswerter Kaiser, entdeckt beim Tod seiner Schwester und Geliebten, Drusilla, daß die Welt schlecht eingerichtet ist. Von diesem Tag an versucht er, vom Verlangen nach dem Unmöglichen besessen, von Verachtung und Grauen vergiftet, durch Mord und systematische Umkehrung aller Werte eine Freiheit zu üben, die er letzten Endes als falsch erkennen wird. […] während seine Wahrheit darin besteht, die Götter zu leugnen, besteht sein Irrtum darin, die Menschen zu leugnen [so sagt Cherea: ‚Gewiß kommt es bei uns nicht zum erstenmal vor, daß ein Mensch unumschränkte Macht verfügt, aber es geschieht zum erstenmal, daß jemand sich ihrer unumschränkt bedient, daß er so weit geht, den Menschen und die Welt zu leugnen.’ (S. 31)]. Es ist nicht möglich, alles zu vernichten, ohne sich selbst mit zu zerstören.“
Personen:
Caligula
Caesonia
Helicon
Scipio
Cherea
Senectus, der alte Patrizier
Metellus, Patrizier
Lepidus, Patrizier
Octavius, Patrizier
Patricius, Oferhofmeister
Mucius
Die Frau des Mucius
Wachen
Sklaven
Dichter
Der erste, dritte und vierte Akt spielen in Calugulas Palast, der zweite in Chereas Haus. Zwischen dem ersten und den drei folgenden Akten liegen drei Jahre.
Caligula wurde 25.09.1945 im Théâtre Hébertot, Paris (Leitung Jacques Hébertot) uraufgeführt (R: Paul Oettly)
DSE: 29.1.1947 Staatstheater Stuttgart (R: Helmut Henrichs)
Martha: Was sollte aus der Welt werden, wenn die Verurteilten anfingen, dem Henker ihre Herzensnöte anzuvertrauen? (S. 92)
Maria: Von nun an muß ich in jener fürchterlichen Einsamkeit leben, da die Erinnerung eine Folter ist. (S. 113)
Das Mißverständnis (franz.: Le Malentendu), ein Schauspiel in drei Akten, wurde von Albert Camus 1941 im besetzten Paris geschrieben.
Ein Mann, der viele Jahre in Übersee war, kommt heim. Dort leben seine Schwester und seine verwitwete Mutter davon, Untermieter aufzunehmen und zu ermorden. Weil sie ihn nicht erkennen, wird er selber zum Untermieter, ohne seine Identität preiszugeben, und schlussendlich getötet.
Das Missverständnis im Cuvilliés Theater, München
Camus schriebt dazu in seinem Vorwort: „Ein Sohn, der erkannt werden will, ohne seinen Namen nennen zu müssen, und der infolge eines Mißverständnisses von Mutter und Schwester umgebracht wird – das ist das Thema des Stücks. Gewiß verrät es eine sehr pessimistische Auffassung des menschlichen Daseins, die aber sehr wohl mit einem gemäßigten Optimismus in bezug auf den Menschen vereinbar ist. Denn eigentlich will das besagen, daß alles anders gekommen wäre, wenn der Sohn gesagt hätte: ‚Ich bin’s, dies ist mein Name.’ Er will besagen, daß der Mensch in einer ungerechten oder gleichgültigen Welt sich selbst und seine Mitmenschen erretten kann, wenn er sich an die einfachste Aufrichtigkeit, das treffendste Wort hält.“
Personen:
Martha, Jans Schwester
Maria, Jans Ehefrau
Die Mutter
Jan
Der alte Knecht
Das Mißverständnis wurde 1944 im Théâtre des Mathurins uraufgeführt.
Die Pest: … in Tat und Wahrheit bin ich ein Idealist […] Ich bringe euch das Schweigen, die Ordnung und die unbedingte Gerechtigkeit. (S. 146)
Der Richter: Wenn das Verbrechen Gesetz wird, hört es auf, Verbrechen zu sein. (S. 158)
Der Belagerungszustand (französisch L’état de siège) ist ein Theaterstück in drei Teilen von Albert Camus. Es wurde 1948 in Paris uraufgeführt. Das Stück entstand unter dem Einfluss der deutschen Teilung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg. Er zeigt damit die Grausamkeiten, welche tyrannische menschenfeindliche Regimes nach sich ziehen und macht vor allem die Bürokratie als eines der wirkungsvollsten Instrumente der Despotie aus.
Der Belagerungszustand – Schauspielhaus
Zu diesem Stück äußert sich Camus selbst: „Es ist jedoch von Vorteil, zu wissen
1. daß Der Belagerungszustand in keiner Weise eine Bearbeitung meines Romans Die Pest darstellt. Allerdings habe ich einer meiner Personen diesen symbolischen Namen gegeben. Aber da es sich um einen Diktator handelt, ist die Bezeichnung zutreffend;
2. daß Der Belagerungszustand kein nach klassischem Muster verfaßtes Stück ist. […] Ich habe für mein Schauspiel das als Mittelpunkt gewählt, was mir in unserem Jahrhundert der Tyrannen und der Sklaven die einzige lebendige Religion zu sein scheint, nämlich die Freiheit. […] Es war eingestandenermaßen meine Absicht, das Theater den psychologischen Grübeleien zu entreißen und auf unseren von gedämpften Murmeln erfüllten Bühnen die lauten Schreie ertönen zu lassen, die heute ganze Menschenmassen ins Joch beugen oder befreien.“
Personen:
Die Pest
Die Sekretärin
Nada
Victoria
Der Richter (Viktorias Vater)
Die Frau des Richters
Diego
Der Gouverneur
Der Alkalde (Strafrichter, Bürgermeister in Spanien)
Die Frauen von Cádiz
Die Männer von Cádiz
Die Wachen
Der Belagerungszustand wurde am 27. Oktober 1948 im Théâtre Marigny uraufgeführt. Bühnenmusik von Arthur Honegger.
„Albert Camus’ ‚Théâtre’ umfaßt einen imponierenden Band, in dem der Kern seiner Dramatik deutlich wird : ‘In der heutigen Zeit lebende Gestalten die Sprache der Tragödie sprechen zu lassen’.“ Stuttgarter Zeitung
„Die hohe Moral seiner Kunst verbietet Camus das Zweideutige und das Allzubrillante, denn es soll und will den Leser, das Publikum zur Entscheidung zwingen. Sie appelliert an unsere Urteilsfreiheit, die von Camus als jene Freiheit erkannt wird, die dem sittlichen Individuum die Verantwortung für Gut und Böse in ihrem vollen Gewicht aufbürdet.“ Bayerischer Rundfunk, München
„Camus unterscheidet sich in wesentlichen Dingen von den Existentialisten Sartrescher Prägung, indem er der Hoffnungslosigkeit jener seinen starken, männlichen Humanismus entgegensetzt, wie er auch immer jene höchst kunstvolle Klarheit und Einfachheit erreicht, mit der er sofort den Zugang zum Hörer findet.“ Westdeutsche Allgemeine, Essen
How weary, stale, flat and unfrofitable
Seems to me all the uses of ths world!
Wie ekel, schal und flach und unersprießlich
Scheint mir das ganze Treiben dieser Welt!
William Shakespeare: Hamlet – Prinz von Dänemark
(Übersetzt von August Wilhelm von Schlegel)
1. Akt – 2. Szene
Unter diesem Motto von Shakespeare steht ein Kapitel in dem Roman Die Falschmünzer von André Gide (Originaltitel: Les Faux-Monnayeurs), das ich in folgender Ausgabe vorliegen habe: dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 2. Auflage Mai 1982, 18. bis 27. Tausend. Die Übersetzung ins Deutsche erfolgte von Ferdinand Hardekopf. Es handelt sich dabei um die erste Übersetzung von 1928. Der Roman selbst wurde 1925 veröffentlicht.
Für zwei weitere Kapitel stellt Gide Zitate aus Shakespeares Romanze „Cymbeline“ als Motto voran; u.a. findet sich auf Seite 51 aus dem 2. Akt – 5. Szene die Aussage von Posthumus:
We are all bastards;
And that most venerable man which I
Did call my father, was I know not where
When I was stamp’d;
Zu Deutsch und etwas ausführlicher, da wir hier auch den Bezug zum Romantitel finden:
Kann denn kein Mensch entstehn, wenn nicht das Weib
Zur Hälfte wirkt? Bastarde sind wir alle,
Und der höchst würdge Mann, den ich stets Vater
Genannt, war, weiß der Himmel wo, als ich
Geformt ward, und Falschmünzerwerkzeug prägte
Als falsches Goldstück mich.
Ort der Romanhandlung ist Paris zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
„Eine Gruppe junger Gymnasiasten will der großbürgerlichen Scheinwelt der Elternhäuser entfliehen, erwachsen werden auf dem Gebiet der Moral, der Kunst, der Erotik. Die zynische Eleganz der literarischen Welt erweist sich als verführerische Droge: Da ist Robert de Passavant, Erfolgsschriftsteller mit homosexuellen Neigungen; und da ist Edouard, Onkel eines der Jungen, aus dessen Tagebuchnotizen wir einen Großteil der Geschichte erfahren. Diese Notizen sind Vorarbeiten zu einem Roman mit dem Titel – ‚Die Falschmünzer’ …“
(aus dem Klappentext zu einer Neuübersetzung)
Jener Junge, Olivier, dessen Onkel Edouard ist, stellt fest, dass der Mann seiner Mutter nicht sein leiblicher Vater ist. Er ist also das, was man schlechthin einen Bastard zu nennen pflegte.
„So beginnt das Spiel mit dem Leser. Doch der ‚Roman im Roman’ ist nur ein Teil des erzählerischen Raffinements. Aus Briefen, Dialogprotokollen, Berichten entsteht ein spannendes Rätsel, das den Spürsinn herausfordert wie ein Detektivroman. Schließlich geht es nicht nur um intellektuelle Falschmünzerei, sondern um wirkliches Falschgeld und um einen mysteriösen Selbstmord.“
„‚Die Falschmünzer’ sind ein kühnes Experiment und eine der hervorragenden Leistungen des modernen Epik. Zum ersten Mal wird hier der Roman selbst zum Gegenstand des Romans.“
(aus dem Klappentext zur dtv-Ausgabe)
André Gide (1869-1951) wurde streng puritanisch erzogen und setzte sich später rückhaltlos für die Freiheit des Individuums gegenüber Kirche, Konvention und Moral ein. Seinen Zeitgenossen und vielen seiner konservativen Autorenkollegen galt Gide als gefährlich, als der große Seelenverderber. Der Nobelpreisträger von 1947 hat aufgrund seines außergewöhnlichen Werkes längst seinen Platz in der Weltliteratur gefunden. Gide zählt zu den wichtigsten französischen Schriftstellern seiner Generation. Er hat das geistige Gesicht des 20. Jahrhunderts entscheidend mitgeprägt.
„Gides von blendendem Kunst-Verstand diktierter Roman, in dem mehr ‚Können’ als ‚Müssen’ am Werke ist, gehört mit den Hauptwerken von Proust, Musil, Joyce und Faulkner zu den großen Initiativleistungen der modernen Epik.“
Also vorwärts, Bernard, aufs offene Meer hinaus! (S. 53)
Selten hat mich ein Roman so beschäftigt. Es geht eine eigentümliche Faszination vom ihm aus. Er ist spannend wie ein Kriminalroman. Und ich halte ihn für ausgesprochen aktuell. Sicherlich ist die großbürgerliche Welt des Paris von vor etwa 90 Jahren eine andere als die ‚normalbürgerliche’ unserer Tage. Die „Konventionen“, die äußerliche Umgangsweise der agierende Personen ist eine andere. Aber die Dämonen, die damals die Menschen zu ihrem Tun getrieben haben, nehmen auch heute noch von diesen Besitz.
Mit mir ist es so weit gekommen, daß ich mich frage, ob nicht vielleicht der Zweifel selbst den einzigsten Halt in unserem Dasein bieten könnte … (S. 168)
Wie schon zu erkennen ist, ist der Roman ein Entwicklungsroman, das aber in zweifacher Hinsicht. Zum einen betrifft es die Entwicklung junger Menschen (im Alter von ca. 17 oder 18 Jahren, aber auch jünger) und schildert deren Reifeprozess. Zum anderen beschreibt er die Entwicklung des Sujets hin zu einem Roman.
Allerdings mißtraue ich Gefühlen, die gar so rasch ihren Ausdruck finden. (S. 191)
Im Mittelpunkt stehen die Gymnasiasten Bernard und Olivier, beide 17 oder 18 Jahre alt, die kurz vor ihrer schulischen Abschlussprüfung stehen. Zu dieser Zeit kehrt Edouard, der Onkel von Bernard, nach Paris zurück. Er ist Schriftsteller wie der Graf Passavant, ein reicher, snobistischer Modeschriftsteller mit homosexuellen Neigungen, dessen geistreiche Eleganz die jungen Männer zum Vorbild nehmen. Dieser neigt allerdings zu Zynismus und Manipulation und weiß die Gefühlslage des Jungen für sich auszunutzen.
Ein lokaler Mittelpunkt ist die Pension der Familie Vedel-Azaïs, ein Knabenpensionat, das am Nachmittag u.a. Georges, der Bruder von Olivier, aufsucht. Hier kreuzen sich dann auch die Wege anderer Protagonisten des Romans.
„Fast alle Menschen, die ich kennengelernt habe, klingen falsch. Genausoviel wert sein, wie man scheint; nicht mehr scheinen wollen, als man wert ist … Man sucht sich und den andern alles mögliche vorzuspiegeln, und man denkt soviel daran, was man scheinen möchte, daß man schließlich selbst nicht mehr weiß, was man ist …“ (S. 174)
Bernard und Oliver schließen sich einem literarischen Zirkel an, um der großbürgerlichen Scheinwelt der Eltern zu entkommen.
„Als ich noch jünger war, da faßte ich Entschlüsse, die ich für tugendhaft hielt. Es lag mir weniger darn, der zu sein, der ich war, als vielmehr der zu werden, der ich zu sein beabsichtigte. Heute bin ich beinahe so weit, in der Entschlußlosigkeit das Geheimnis des Nicht-Altwerdens zu erkennen.“ (S. 293)
Im Übrigen nimmt der Roman letztlich auf sich selbst Bezug, schreibt doch Onkel Edouard als Schriftsteller an einem Werk, das ebenfalls den Titel „Die Falschmünzer“ trägt. Anhand von Tagebuchnotizen, Briefen, Skizzen usw. lernen wir die Entstehungsgeschichte eines Romans kennen, von dem wir als Leser aber nur wenig erfahren. Die Sammlung allein ist „der Roman“.
„Es bleibt dieses: daß die Realität mich als plastischer Grundstoff interessiert und daß ich mehr, unendlich viel mehr Sinn habe für das, was sein könnte, als für das, was in Wirklichkeit gewesen ist. Wie gebannt beuge ich mich über die latenten Möglichkeiten eines Wesens und bin traurig über jeden Keim, den die Stickluft der Konvention absterben läßt.“ (S. 101)
Anhand der Figur des Schriftstellers Edouard zeigt Gide die Grenzen der Erzählbarkeit eines Romans auf, die Schwierigkeiten beim Abbilden der realen Welt in den Formen eines fiktionalen Werks.
„Der Roman hat die Wechselfälle des Schicksals behandelt, die Irrwege von Glück und Unglück, die sozialen Beziehungen, den Konflikt der Leidenschaften und der Charaktere, aber keineswegs die Quintessenz des Wesens selbst. […] Die moralische Tragik – jene, die das Bibelwort so furchtbar macht: ‚Wenn aber das Salz dumm wird, womit soll man salzen?’ – das ist die Tragik, auf es ankommt.“ (S. 109)
oder:
„… mein Roman hat kein Thema. Oh, ich weiß wohl, es klingt töricht, was ich da sage. Also präzisieren wir: es handelt sich in ihm nicht um ein einziges, spezielles Thema … Einen ‚Ausschnitt aus dem Leben’ wollte der naturalistische Roman geben. Der große Fehler dieser Schule bestand darin, diese programmatische Schnitte vom Brote der Realität in einer stets gleichbleibenden Dimension, nämlich der Zeit nach der Länge nach, schneiden zu wollen. Warum nicht auch einmal der Breite nach? Oder der Tiefe nach? Was mich betrifft, ich möchte überhaupt nicht schneiden! Verstehen Sie mich: ich möchte eine Totalität von Erscheinungen in meinen Roman eintreten lassen; nichts all weggeschnitten, der andrängenden Fülle nirgends Einhalt geboten werden!“ (S. 161)
Manchmal ist es so, dass die Wirklichkeit Blüten schlägt, die sich selbst die blühendste Phantasie nicht ausdenken kann, so …
„Ich warte, daß die Wirklichkeit mir einen Plan diktiere.“ (S. 162)
Manche Beziehung zwischen den Männern wird den Leser vielleicht irritieren. André Gide war homosexuell, wenn ihm dies anfangs auch nur diffus bewusst war. Und so spielen auch homosexuelle, zumindest homoerotische Beziehungen in dem Roman eine wesentliche Rolle, wenn diese auch nicht direkt angesprochen werden. Ausgangspunkt sind dabei der Schriftsteller Robert de Passavant, aber auch der Onkel Edouard, der ein liebevolles Verhältnis zu seinem Neffen unterhält. Selbst der Mutter ist das klar, sie toleriert die Beziehung (Edouard: „Ich glaube, daß sie diese Beziehungen nicht geradezu missbilligt, ja, daß sie in gewisser Hinsicht sogar froh darüber ist, […] daß sie aber vielleicht […] im Grunde doch Eifersucht gegen mich empfindet.“ – S. 278).
Es gibt zwei reale Ereignisse, die in Zeitungsartikeln beschrieben waren und denen sich André Gide für seinen Roman bediente. Zum einen ein Artikel im Figaro vom 16.09.1906, der von Umlauf falscher Goldstücke handelt, die von Spanien nach Frankreich geschmuggelt und von jungen Leuten, meist Bohemiens, Studenten, Journalisten ohne Anstellung usw., in Umlauf gebracht wurden. Der andere Artikel im Journal de Rouen vom 05.06.1909 handelt von einem Selbstmord eines Gymnasiasten, bei dem sich ein kaum Fünfzehnjähriger mitten im Unterricht eine Kugel durch den Kopf jagte. Beides findet sich im „Journal des Faux-Monnayeurs“, dem Tagebuch der Falschmünzer, wider, das Gide 1926 veröffentlichte und in dem er die Entstehungsgeschichte des Romans dokumentierte.
Im Roman treten reichlich viele Personen auf, obwohl er mit 340 Seiten nicht allzu umfangreich ist. Einige betreten nur kurz die Bühne, um für immer zu verschwinden. Andere, die anfangs nur einen kleinen Auftritt haben, gewinnen erst viel später an Bedeutung (z.B. Georges, der Bruder von Olivier Molinier, einem Freund des bereits erwähnten Bernard Profitendieu – oder Victor Strouvilhou, der immer auftaucht, um sogleich wieder zu verschwinden, und der doch eine wesentliche Rolle zu spielen scheint). Um die Übersicht zu behalten, habe ich mir die Arbeit gemacht und eine Übersicht der Personen angefertigt – dem interessierten Leser als Hilfe (Download als PDF – 14 KB).
Jean Paul Marat war Arzt und Naturwissenschaftler und neben Robespierre und Danton einer der geistigen Führer der Französischen Revolution. So war er auf Seiten der Bergpartei Abgeordneter im Nationalkonvent sowie für eine Periode Präsident des Klubs der Jakobiner. Wegen einer Hauterkrankung war er in den letzten drei Jahren seines Lebens auf kühle Bäder zur Linderung der Symptome angewiesen. Am 13. Juli wurde Marat, in seinem Bade liegend, von Charlotte Corday, eine Anhängerin der Girondisten, Vertreter des gehobenen Bürgertums, die ihren Einfluss immer mehr an die radikalen Jakobiner verloren hatten, ermordet. Vielen dürfte das Gemälde von Jacques-Louis David gekannt sein: Der Tod des Marat. Es ist eines der berühmtesten Darstellungen von Ereignissen der französischen Revolution.
Der Marquis de Sade, Namensgeber des Sadismus, war u.a. der Verfasser pornographischer, kirchenfeindlicher und philosophischer Romane, die er während verschiedener Gefängnisaufenthalte schrieb. Von 1803 bis zu seinem Tod 1814 war Sade in der Irrenanstalt Charenton interniert, wo er einige Jahre lang Gelegenheit hatte, im Kreis der Patienten Schauspiele zu inszenieren. Charenton war eine Anstalt, in die man diejenigen brachte, die sich durch ihr Verhalten in der Gesellschaft unmöglich gemacht hatten, ohne dass sie geisteskrank waren.
Entgegen meiner Titelüberschrift ist das Stück nicht ‚vergessen’, sondern findet auch heute noch immer wieder Aufführungen auf namhaften Bühnen – z.B. in einer Inszenierung von Friederike Heller (Regie) und Julia Weinreich (Dramaturgie) im Staatsschauspiel Dresden 2011. Ich habe das Drama als Buch in einer vom Autor revidierte Fassung 1965 vorliegen (edition suhrkamp 68 – Reihe: im Dialog. Neues Deutsches Theater – Suhrkamp Verlag 26. Auflage 1988):
Staatsschauspiel Dresden: „Marat/Sade“ von Peter Weiss
SADE: Ich ersinne die ungeheuerlichsten Torturen
Und wenn ich sie mir beschreibe
So erleide ich sie selbst (S. 45)
MARAT: Wir sind die Erfinder der Revolution
Doch wir können noch nicht damit umgehn (S. 48)
In dem Theaterstück, das sich eng an historische Fakten hält, sich auf authentisches Material gründet und doch von einem historischen Stück so weit wie nur irgend möglich entfernt ist, werden Leben und Tod Jean Paul Marats als Spiel im Spiel, als Theater im Theater, dreizehn Jahre nach seinem Tode im Irrenhaus von Charenton dargestellt. Regie des Stücks im Stück führt der Marquis de Sade.
„Im Mittelpunkt des Dramas um die Französische Revolution stehen die beiden zentralen Charaktere Marat und de Sade und ihre konträren Weltanschauungen mit den damit einhergehenden Staatsentwürfen. Während Marat der Gesellschaft zum Wohle aller, wie er glaubt, Moral und Tugend aufzwingen will, das Volk vertritt und die Revolution – blutig, wie sie längst geworden ist – rechtfertigt, resigniert de Sade angesichts der vorgeblichen Natur des Menschen, verlacht Marats sozialistische Ideen und sieht das Heil in der Loslösung des Einzelnen aus der Gesellschaft.
Die Handlung ist verfremdet und von grotesken und absurden Elementen geprägt. Dabei ist, wie der Titel schon andeutet, die Ermordung Marats nur ein Stück im Stück, das von der Schauspielgruppe eines Irrenhauses unter zahlreichen Störungen geprobt und unter der Leitung des dort untergebrachten Herrn de Sade zur Aufführung gebracht wird. Das Stück umfasst zwei, eigentlich sogar drei Zeit- und Handlungsebenen: zum einen die Zeit der Französischen Revolution, in der am 13. Juli 1793 Marat die letzten Stunden seines Lebens zur Linderung einer Hautkrankheit in der Badewanne verbringt, arbeitend, bis er seine Mörderin Charlotte Corday empfängt. Den letzten Stunden Marats steht zum anderen die Handlungsebene der napoleonischen Zeit entgegen, in der de Sade das Bühnenstück mit seinen ‚irren‘ Schauspielern vor einem gutbürgerlichen Publikum – zu diesem Anlass gönnerhaft zu Gast im Irrenhaus – inszeniert. Die dritte Zeitebene schließlich, die Gegenwart der realen Zuschauer des Stückes, wird ebenfalls bewusst gemacht und durch Einschübe in die Dramenhandlung verdeutlicht. So wechselt die Handlung ständig zwischen diesen Ebenen hin und her. Auf diese Weise werden das Schauspiel sowie das Schauspiel im Schauspiel ‚entlarvt’ und sollen die Zuschauer von ‚Mitleidenden‘ zu ‚Mitdenkenden‘ gemacht werden.“ (Quelle: de.wikipedia.de)
Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats als Hörspiel (Aufführung des Volkstheater Rostock – DDR 1965)
Schallplattenbearbeitung: Hanns Anselm Perten
Musik: Hans-Martin Majewski
Inszenierung: Hanns Anselm Perten
Wissenschaftliche Mitarbeit: Dr. Manfred Haiduk
Musikalische Leitung: Günther Wolf