Den Wörtern kündige ich. Sie haben nicht geholfen.
Martin Walser: Ein sterbender Mann (S. 278)
Eine Mauer aus Wörtern gegen jede Art Wirklichkeit.
Martin Walser: Ein sterbender Mann (S. 287)
Nachdem ich mittendrin beim Lesen von Martin Walsers neuen Roman Ein sterbender Mann (1. Auflage Januar 2016 – Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg) eine längere Pause gemacht hatte, hätte ich eigentlich wieder von vorn beginnen müssen. Denn der Roman wirkt reichlich unsortiert, in dem es durch- und nebeneinander geht. Es ist eine grob zusammengezimmerte Posse, kapriziös Walser’sches Ego-Theater, eine krachlederne Literaturbetriebskomödie, eine herrliche Persiflage der Gelassenheitsratgeber. Ich musste mich also wieder finden und habe den Roman dann auch so zu Ende gekriegt.
Vielleicht muss man ein bestimmtes Alter erreicht haben, so wie ich, noch keine 74 wie der Held des Romans, Theo Schadt, und erst recht noch keine 89 Jahre wie Walser, aber jenseits der sechzig, um dieses Buch entsprechend würdigen zu können. Ich mag Walser schon seit vielen Jahren. Vielleicht ist es in den letzten Jahren etwas viel geworden mit den alten Herren und ihrer Liebe zu bedeutend jüngeren Frauen. Aber hier gelingt Walser wieder einmal ein Werk, zu dem, so scheint’s, nur er im Stande ist.
Theo Schadt, 72, Firmenchef und auch als „Nebenherschreiber“ erfolgreich, wird verraten. Verraten ausgerechnet von dem Menschen, der ihn nie hätte verraten dürfen: Carlos Kroll, seinem engsten und einzigen Freund seit neunzehn Jahren, einem Dichter. Beruflich ruiniert, sitzt Theo Schadt jetzt an der Kasse des Tangoladens seiner Ehefrau, in der Schellingstraße in München. Und weil er glaubt, er könne nicht mehr leben, wenn das, was ihm passiert ist, menschenunmöglich ist, hat er sich in einem Online-Suizidforum angemeldet. Da schreibt man hin, was einem geschehen ist, und kriegt von Menschen Antwort, die Ähnliches erfahren haben. Das gemeinsame Thema: der Wunsch, mit allem Schluss zu machen.
Eines Tages, er wieder an der Kasse, löst eine Kundin bei ihm eine Lichtexplosion aus. Seine Ehefrau glaubt, es sei ein Schlaganfall, aber es waren die Augen dieser Kundin, ihr Blick. Sobald er seine Augen schließt, starrt er in eine Lichtflut, darin sie. Ihre Adresse ist in der Kartei, also schreibt er ihr – jede E-Mail der Hauch einer Weiterlebensillusion -, und nach über dreißig Ehejahren zieht er zu Hause aus. Sitte, Anstand, Moral, das gilt ihm nun nichts mehr. Doch dann muss er erfahren, dass sie mit dem, der ihn verraten hat, in einer öffenen Beziehung lebt. Ist sein Leben eine verlorene, nicht zu gewinnende Partie?
Martin Walsers neuer Roman über das Altsein, die Liebe und den Verrat ist beeindruckend gegenwärtig, funkelnd von sprachlicher Schönheit und überwältigend durch seine beispiellose emotionale Kraft.
(aus dem Klappentext)
„Walser lässt nichts aus. Er zelebriert krudeste Männerfantasien und spielt mit ihnen, er scheint überhaupt keine Scheu zu haben vor Kolportage, vor Klischees und der Nachmittag-Talkshows im Unterschichts-Fernsehen. Er mixt diese Bestandteile aber so unverfroren und zauberkunststückhaft und verbindet sie bruchlos mit letzten existenziellen Fragestellungen, dass man immer wieder frappiert ist.“ So steht’s in der Süddeutschen.
Obwohl es ein Roman ganz und gar Walser’scher Art ist, so wirkte die Sinologin Thekla Chabbi über einen schöpferischen Anteil hinaus mit. Sie selbst schätzt diesen Anteil einmal auf „knapp 30 Prozent“. Dem widerspricht Walser allerdings. Inzwischen wissen wir, dass die Briefe jener Aster, der Suizidalen aus dem Forum, und auch ein in Algerien spielendes Kapitel von Frau Chabbi stammen (Quelle u.a. welt.de). Sich auf diese Weise in das Werk von Martin Walser zu ’schleichen‘: Respekt!
Der Roman spielt etwa von Mitte (August) 2014 bis Februar 2015 in München. Die wichtigsten Personen:
Theo Schadt, 72 Jahre alt, der ‚Verschönerer‘
Iris, seine Ehefrau
Mafalda, seine Tochter
Axel, deren Ehemann
Carlos Kroll, rd. 52 Jahre alt
Dr. Anke Müller (11 Jahre älter), die ‚Mittelmeerische‘
Melanie Sugg, schweizer Verlegerin (‚Porno-Poesie‘)
Oliver Schumm, der Konkurrent
Sina Baldauf (Tangotänzerin)
Suizid-Forum:
Franz von M. (Nickname von Theo Schadt)
Aster -> ‚Rede auf die in der Gruft‘ [Nickname von Sina Baldauf]
Fliesenbourg, der Suizidheilige
„Herr Schriftsteller“, Theos Selbstgesprächskulisse
Wie ich schon sagte, es geht kunterbunt, kreuz und quer im Roman durcheinander. Iris Radisch fasst es in der Zeit noch einmal wie folgt zusammen:
Der Erzähler, Theo Schadt, ist zwar im Bestsellergeschäft äußerst erfolgreich (Auflagen von 800.000 Exemplaren sind für ihn eine Kleinigkeit), wird jedoch im Zweitberuf als Verkäufer medizinischer Patente von seinem Freund und Geschäftspartner, dem feinsinnigen Lyriker Carlos Kroll, hintergangen. Der Verrat des feinsinnigen Dichters, der – kleiner schlüsselromanhafter Hinweis für den Literaturbetrieb – mit einer Ärztin in einer Villa am Starnberger See logiert, macht aus dem Bestsellerautor einen Selbstmordkandidaten. Der Todeswunsch wird jedoch gemildert durch den anregenden E-Mail-Verkehr mit einer Leidensgenossin, die er in einem anonymen Suizidforum kennenlernt. Weitere Besserung seiner durch den feinsinnigen Dichter vom Starnberger See herbeigeführten Lage ergibt sich durch den coup de foudre, der dem Erniedrigten im Tangoladen seiner Gattin Iris widerfährt, als die schöne Sina Baldauf dort einkauft. Dann die hässliche Nachricht: Dickdarmkrebs, dem Erzähler bleibt nur noch eine kurze Lebensfrist. Dennoch ist Zeit für eine ausführliche Rückblende: Preisverleihung an den feinsinnigen Starnberger-See-Dichter im Münchner Lyrik-Kabinett, Auftritt der Lyrik-Kabinett-Chefin im Silberkleid, seitenlanges Zitieren der schlechten Gedichte des feinsinnigen Widersachers zum Beweis für dessen larmoyante Nichtswürdigkeit („Sprachgewänder weben / gegen die Kälte der Welt“ und so weiter).
Außerdem: Briefe des Erzählers an Sina Baldauf und umgekehrt, Briefe an die Gattin Iris, Botschaften an die Selbstmordfreundin vom Suizidforum und umgekehrt, Briefe des Erzählers an sich selbst. Dazwischen ein Traumtagebuch. Dazwischen eine Messmer-artige Sentenzensammlung zum Thema Altwerden und Sterbenmüssen.
Man kann nur jung sein oder alt. Er erinnert sich an das Mitleid, das er hatte mit jedem Alten. Jetzt weiß er: Es gibt kein Verständnis für einander. Der Alte versteht den Jungen ebenso wenig wie der ihn. Es gibt keine Stelle, wo Jungsein an Altsein rührt oder in Altsein übergeht. Es gibt nur den Sturz. (S. 190)
Plötzlich ein Anruf von Sina Baldauf, die – Überraschung – nebenbei auch mit dem feinsinnigen Widersacher Kroll liiert ist: Der Widersacher Kroll sei tot, vergiftet in ihrer Wohnung. Der Münchner Kriminalhauptkommissar Steinfeld verhaftet zunächst den Erzähler. Doch dann bekennt sich die Doktorin vom Starnberger See zur mörderischen Tat. Am Ende überschlagen sich die Todesfälle. Gattin Iris nimmt sich das Leben, gefolgt von der Suizidforumsfreundin, die – Überraschung – niemand anderes ist als die Briefgeliebte Sina Baldauf. […]
Am Ende ist der sterbende Mann umgeben von lauter toten Frauen. Aber was soll’s: Die Frauen haben ohnehin alle so geschrieben wie der maliziöse Theo Schadt, so stakkatohaft drängend, so kontrolliert unkontrolliert, so enthemmt pointensicher, so wunderbar walserhaft, dass an eine Eigenexistenz der Damen nicht ernsthaft zu denken war. Ihr Massensterben ist ein schöner Beweis für die These, dass der Weg, auf dem der männliche Romanheld vorankommt, mit weiblichen Leichen gepflastert sein sollte. Und siehe da: Der Tumor des Erzählers ist am Romanende tatsächlich zurückgegangen.
Ich habe in den letzten Wochen zwei Interviews mit Martin Walser gesehen. In dem einen, schon einige Jahre zurückliegend, wirkte er körperlich wie geistig frisch. In dem anderen, erst vor einige Monaten aufgezeichnet, hat er körperlich doch rapide nachgelassen. Das war wohl die Folge einer längeren Krankheit. Hoffen wir es, denn geistig zeigte er sich trotz seiner fast 90 Jahre von seiner besten Seite. Überhaupt: Auch wenn er bekanntlich nicht anders kann: lesen und schreiben – so überrascht uns Walser immer wieder noch und doch mit einem neuen Roman. Diese sind vielleicht nicht mehr so lang geraten, aber immer noch von Walsers Sprachgewalt beherrscht.
Martin Walser schreibt also immer noch. Er kann’s nicht lassen, obwohl er vor geraumer Zeit den Verlust seines Tagesbuchs mit Skizzen und Notizen zu beklagen hatte, dass sich wohl bis heute nicht angefunden hat. Trotz der verlorenen Aufzeichnungen hat er Material genug (und sicherlich längst ein neues Tagebuch), um sein Alterswerk fortzusetzen. Übrigens fragte der Spiegel damals, was er aus dem Verlust lerne. Walser antwortete: »Nur zweiter Klasse fahren! Die Fahrgäste sind anders als die in der ersten. Es gibt die natürliche Reaktion, das, was man gefunden hat, auch abzugeben. Bei denen, die erster Klasse fahren, gibt es eine andere psychische Disposition. Selbst wenn die Leute mit dem Gefundenen nichts anfangen können, behalten sie es.« Aber woher weiß Walser, daß der unehrliche Finder seines Tagebuchs nichts mit ihm anfangen kann? Spätestens in zehn Jahren könnte er es meistbietend versteigern lassen. Anonym selbstverständlich. Das bringt mehr als ein Finderlohn. Vier Jahre sind ja seitdem fast schon vergangen. (Quelle: ossietzky.net)
Gern rätseln Leser, wie viel Autor in den Protagonisten eines Romans stecken, hier also: wieviel Walser steckt in Theo Schadt. Da mag man spekulieren wie man will. Eines fand ich dann aber doch aufschlussreich. Im Roman heißt es auf S. 108 zu Theo Schadt: Er könnte immer erst wieder atmen, wenn er einen Satz fertig hätte. Hier ist zu Martin Walser (Ich bin nicht Walser) zu lesen gewesen:
„Walser hatte die Angewohnheit, beim Schreiben bis zum Ende eines Satzes den Atem anzuhalten.“ (Jörg Magenaus Martin Walser – Eine Biographie S. 227) Aus Angst, ihm könne die Luft ausgehen, bildete er kürzere Sätze.
Mag Walser die Luft nicht ausgehen. Und mag der Titel des Romans nicht so etwas wie Programm sein.
Der Roman eines Verrats – da will der, um den es geht, micht mehr leben. Er ist dem Tod so nah wie noch nie. Dann passiert etwas, jetzt will er leben wie noch nie. Diese Erfahrung: Je näher du dem Tod bist, desto schöner ist es zu leben. Oder genauer gesagt: desto schöner wäre es zu leben.
Ein Roman der hellsten Dissonanz.
„In der schönsten und klarsten Sprache, die in Deutschland zurzeit geschrieben wird, verdichtet Marin Walser Erfahrung und Empfindung.“ Denis Scheck