Zittere, elender Mensch!
Halldór Laxness: Der große Weber von Kaschmir (S. 139)
Vor einige Wochen gab es bei Zweitausendeins ein Halldór Laxness-Paket mit neun Taschenbüchern für sage und schreibe nur 14,95 € (zz. sogar wieder verfügbar – siehe auch Laxness Buchpaket bei Amazon). Beileibe keine Mängelexemplare, sondern schön säuberlich in Plastikfolie eingeschweißt. Ich habe natürlich zugegriffen. Zwei Bände habe ich zwar schon (Sein eigener Herr und Weltlicht), aber allein die übrigen sieben Bücher sind mehr als ihr Geld wert. Allen voran der Roman Der große Weber von Kaschmir (Original: Vefarinn mili frá Kasmír, 1927 – aus dem Isländischen von Hubert Seelow – Steidl Verlag, Göttingen 2011), Laxness‘ ersten bedeutenden Roman – auf Isländisch verfasst, was erwähnenswert ist, denn viele andere isländische Schriftsteller meinten auf Dänisch (Island gehörte bis zu seiner Unabhängigkeit im Jahr 1918 zu Dänemark) schreiben zu müssen.
Kurze Anmerkung zum Steidl Verlag: Dort werden u.a. auch die Bücher von Günter Grass verlegt sowie die Werke international bekannter Fotografen. Allein ein Buch des Steidl Verlags in Händen zu halten lässt sich durch keinen E-Book-Reader aufwiegen (so sehr ich elektronische Medien bevorzuge, in diesem Punkt bin ich stockkonservativ).
Es ließe sich sicherlich viel zur isländischen Literatur sagen, von der Welt der Sagas bis hin zur heutigen Literatur (z.B. Einar Kárason). Am Wendepunkt zur Modernen steht auf jeden Fall Halldór Laxness (eigentlicher Name ist übrigens Halldór Guðjónsson).
Dem Roman steht als Motto ein Auszug aus Dante Alighieri: Die göttliche Komödie – (Paradiso, Canto XVII, 127 – 132) voran.
Ma nondimen, rimossa ogni menzogna,
tucta tua visïon fa manifesta;
et lascia pur grattar dov’è la rogna.
Ché se la voce tua sarà molesta
nel primo gusto, vital nodrimento
lascerà poi, quando sarà digesta.
Dem ungeachtet halt dich frei von schmucke
Und ganz eröffne das von dir geschaute ●
Lass es geschehn dass wen es beisst sich jucke!
Wenn auch beschwerlich werden deine laute
Beim ersten kosten ● wird lebendige zehrung
Man draus entnehmen wenn man sie verdaute.
So heißt es in einer Übersetzung von Stefan George auf Deutsch.
Eben flogen zwei Schwäne nach Osten.
Die Welt ist wie eine Bühne, auf der alles für eine große Oper hergerichtet ist: Birkenduft in der Thingvalla-Lava, ein kühler Hauch von den Sulur, purpurfarbener Himmel über der Esja, tiefe, kalte Bläue über dem Skjaldbreidur …
So beginnt der Roman und deutet an, warum es in diesem Roman geht: Die Welt als Bühne auf der einen Seite, auf der anderen das Landleben, das Provinzielle Islands. Der Held der Geschichte, Stein Ellidi, fühlt sich im Provinziellen gefangen und sucht den Weg in die weite Welt. Und da ist die Figur der jungen Frau, Dilja, seine Jugendfreundin. Es ist „die Geschichte eines jungen, starken Mädchens, das in eine feindliche Umgebung gerät und das sich mit einer hoffnungslosen Liebe zu einem wankelmütigen Intellektuellen herumschlagen muß.“ wie Halldór Guðmundsson in seiner Biografie über Halldór Laxness – Sein Leben (Steidl Verlag, Göttingen 2011 – 1. Auflage – S. 68) schreibt. Dilja zeigt sich dem Leser zunächst schwach. Am Ende erweist sie sich aber als eine der ersten starken Frauenfiguren, die die Literatur erschaffen hat. Später etwas mehr.
Er ist egozentrisch, rücksichtslos und auf der Suche nach sich selbst. Island ist ihm zu eng und provinziell, in der großen weiten Welt leben junge Männer wie er inmitten von Ausschweifungen und leidenschaftlich Debatten. Dorthin zieht es Stein Ellidi, auch er will zügellos leben und mitreden. Bevor er geht, verabschiedet er sich von seiner Kindheitsfreundin Dilja. Eine Nacht lang sitzen sie auf den Thingfeldern, und Stein entwirft ihr das Panorama seiner strahlenden Zukunft.
Ähnlich jung wie sein Held war der Autor, als er Der große Weber von Kaschmir, seinen ersten bedeutenden Roman, schrieb: 23 Jahre. Auch Laxness hatte sich in das wilde Leben gestürzt, war der Enge seiner Heimat entflohen, bevor er diese bunte, lebenssatte Geschichte eines Aufbegehrenden in Sizilien niederschrieb.
(Umschlagtext)
Für mich ist es immer eine Hilfe, eine Übersicht aller wichtigen Protagonisten vorliegen zu haben, wenn sich die Anzahl dieser in diesem Roman auch in Grenzen hält.
Personen:
Dilja Thorsteinsdottir (Jugendfreundin von Stein Ellidi)
Valgerd, ihre Pflegemutter
Örnolf Ellidason, Großreeder, Sohn Valgerds
Grimulf Ellidason, Sohn Valgerds
Jogrid Ellidaso, seine Frau (schwindsüchtig) – stirbt 1925 in Taormina/Sizilien
Stein Ellidi, Grimulfs und Jogrids Sohn („Ich bin der Sohn des Tao in China, der vollkommene Jogi in Indien, der große Weber von Kaschmir, der Schlangenbändiger in den Tälern des Himalaja, der Heilige Christus in Rom.“ – S. 29)
erwähnt: Helga, Stubenmädchen (entjungfert von Stein Ellidi)
Der Roman ist in acht Bücher in zusammen 100 Kapiteln verfasst. Hier einige Hinweise zu den einzelnen Büchern bzw. zu einzelnen Kapiteln, um auch eine geografische bzw. zeitliche Zuordnung zu haben:
Erstes Buch
Spielt 1921 im Haus Ylfing – Ylfing A.G. – Dilja und Valgerd erwarten Stein und seine Familie. Stein verabschiedet sich von Dilja.
Zweites Buch
Briefe Diljas an Stein (nicht abgeschickt)
Kapitel 20-27: Neapel , Januar 1922
Briefe von Jogrid (an Dilja), darin schreibt sie u.a.: „… das, was ich ersehnte, ist das einzigste, was ich nie bekam, doch alles andere habe ich bekommen, sowohl das, was ich nicht ersehnte, als auch das, was ich fürchtete.“ (S. 67)
Aufenthalt in Brighton: Mr. Carrington – Miss Bradford, englisches Mädchen von Jogrid
Thorstein, Diljas Vater
Kapitel 25: Bilbao
José, Jogrids Geliebter
Gudmund (im Haus von Jogrid, genannt auch Jofi, in Reykjavik), der Alte, der im Alter noch das große Los zog
Drittes Buch
Kapitel 30 ff. : Herbst 1921
Stein im Zug nach Paris – Gespräch mit Mönch Fr. Alban
Kapitel 33 ff.: Sussex – Villa Warren Hastings ( S. 147) in Hounslow bei London (Wohnung von Carrington), Sommer 1924
Brief von Stein an Mönch Fr. Alban
Kapitel 38 ff.: (Rom) Gott oder Frau
Kapitel 42: Das Alter
Kapitel 43: London Neujahr 1925
Fs. Brief von Stein an Mönch Fr. Alban
Viertes Buch
Februar 1924 – Valgerd + Dilja am Hafen – Ankunft von Örnolf
Kap. 48 ff. Örnolf und Dilja
Fünftes Buch
Grimulf, Steins Vater
Stein in Taormina/Sizilien (nach dem 15.04.1925) – Hotel Regina
Tod der Mutter (im Traum als Gespenst)
Signor Bambara Salvatore (aus Mailand)
Kap. 55 Bambara Salvatores Ansichten → Unter- und Übermenschen – Auf dem Weg des totalen Verbrechers
Kap. 56 Friedhof
Kap. 57 Leonardo Peppini, Bettler und Flötenspieler
Steins Träume
Sechstes Buch
Stein im Zug Basel – Brüssel – Berlin – Moskau
Halt in kleiner belgischen Stadt (Sept Fontaines/Ardennen)
Besuch im Kloster bei Prior Alban de Landry
Steins Weg zum Glauben
Prior Albans Lebensgeschichte
Steins katholischer Glaube und seine Taufe
Siebtes Buch
Heimkehr Steins nach Island
Dilja ist inzwischen die Frau Direktor (Örnolfs Frau)
Steins Rückkehr auch im Geiste
Achtes Buch
Ostende, 10. Sept. 1926
Brief Steins an Dom Alban (inzwischen als Novize bei den Kartäusern in der Schweiz)
Stein, ein „isländischer Westeuropäer“ – Sieg der Vernunft
Zu Besuch im Kloster Sept Fontaines (Alban ist nicht mehr dort)
So Besuch im Kloster Valle Sainte/Schweiz
Beichte bei Alban, jetzt Bruder Elias
Kap. 94 Kopenhagen, 2. Februar 1927
Brief Diljas an Stein → Selbstmord Örnolfs
Rom: Brief Steins an Dilja
Dilja in Rom (Traum)
Diljas Besuch bei Stein im Konvent
ENDE
Manchmal erinnerte mich Laxness‘ Roman an den Zauberberg von Thomas Mann. Stein Ellidi entspricht etwas dem jungen Hans Castorp, der aber eher ein ruhiger Vertreter seines Jahrgangs war, während Stein einen überspannten Geist offenbart. Der Mönch Dom Alban, den Stein im Zug getroffen hat, mit dem er korrespondiert und später besucht, erinnert mich an Naphta – und Settembrini, Freigeist und Literat, erinnerte mich etwas an Bambara Salvatore, womit ich dem guten Settembrini sicherlich Unrecht tue, denn Bambara Salvatore gibt gut und gern das Bild eines italienischen Faschisten ab.
In Stein Ellidi finden wir viele Bezüge zum Verfasser des Romans, zu Laxness, der Island floh, um die weite Welt kennenzulernen. Und wie Stein so ließ sich Laxness im Januar 1923 [6. Januar 1923 im Kloster Clervaux in Luxemburg] katholisch taufen. Er nahm bei dieser Gelegenheit den Namen des Heiligen Kiljan an, eines irischen Missoionars des siebten Jahrhunderts, nachdem er sich zuvor schon der Einfachheit halber im Ausland nach dem heimatlichen Hof Laxness genannt hatte: Halldór Kiljan Laxness.
Laxness setzt sich in jungen Jahren in Gestalt des Stein Ellidi mit den Geistesströmungen seiner Zeit auseinander. Und er sinnt, „daß es entweder keine höheren Werte als das Selbst gibt oder daß jenseits unserer Welt Werte existieren, die man nur durch vollkommene Selbstüberwindung erreicht.“ (Halldór Gudmundsson: Halldór Laxness – Sein Leben , S. 59 f.)
Dieser Roman, der im Frühjahr 1927 erschien, ist vom Umfang und Inhalt her das erste Werk von Laxness und markiert gemeinsam mit Þórbergur Þórðarsons Bréf til Láru [Brief an Laura, 1924) den Beginn der modernen isländischen Literatur. Darin zeigt sich Laxness‘ Wille zum radikalen Bruch mit der isländischen Erzähltradition. Während viele junge Isländer, die an europäischen Universitäten studiert hatten und daher städtisch geprägt waren, nach ihrer Rückkehr einen Kulturbegriff predigten, durch den die Bevölkerung vor eben jener Urbanität geschützt werden sollte, hielt Laxness „all dieses Gequatsche über die isländische Bauernkultur“ für nichts als skrupellose politische Heuchelei.
Neben Stein Ellidi spielt dessen Jugendfreundin Dilja eine wichtige Rolle:
Sie hat keinerlei symbolische Bedeutung, sie ist einfach nur anwesend, stellt ihre unschuldigen Fragen, legt den Maßstab des Menschlichen an Steins Handeln. Steins Liebe zu ihr ist gefärbt vom Haß dessen, der sich wegen seines Strebens nach dem Übermenschlichen am Menschlichen vergeht: „Du machst dir einen Spaß daraus, mich in Stücke zu treten! Er ging direkt auf sie zu und gab ihr eine Ohrfeige mit der flachen Hand, so daß sie schwankte. Ich liebe dich! sagte er.“
Dilja nimmt Stein die Maske seines übersteigerten Begehrens ab, und nach ihrer Liebesnacht in Thingvellir muß er sich endlich eingestehen, daß sein ganzes Leben jenseits von ihr auf Lüge und Selbstbetrug gegründet ist. Hätte Der große Weber von Kaschmir hier geendet, wäre es vielleicht nicht viel mehr als eine lange Fabel im Geiste Sigmund Freuds geworden. Aber Stein strebt nun einmal nach Vollkommenheit, eine Rückkehr zum Menschlich-Durchwachsenen, zum Leben mit Erdenrest ist für ihn ausgeschlossen, So bleibt ihm nur ein Leben als Mönch. Im Priesterseminar in Rom entsagt er Dilja endgültig, und zugleich dem Menschsein: „Der Mensch ist eine Täuschung. Geh und suche Gott, deinen Schöpfer, denn alles außer ihm ist Täuschung“, sind seine Abschiedsworte an Dilja. Der Leser bleibt bei ihr, die langsam durch Rom geht, während die Stadt im Morgengrauen erwacht, und bei ihren Gedanken: „Jesus ist ein seltsamer Tyrann: Seine Feinde kreuzigten ihn, und er kreuzigt seine Freunde. Die Kirche ist das Reich der Gekreuzigten. Was konnte eine armselige Sterbliche gegen die heilige Kirche Christi ausrichten, die mächtiger ist als die Schöpfung?“
(aus: Halldór Gudmundsson: Halldór Laxness – Sein Leben , S. 66)
„Ein hochintelligentes, kulturkritisches, radikal subjektives, dreistes und leidenschaftliches Buch“ (DRadio)