Ikh bin a fedemel, ayngevebt in der groyser shtikl materye, vos geht in der velt fun eybige tsaytn untern nomen yud.
Ich bin ein Fädchen, das in den großen Stoff eingewoben ist, den es seit ewigen Zeiten in der Welt unter dem Namen Jude gibt.
Martin Walser hat die jiddische Literatur für sich entdeckt. Er, dem man in früheren Jahren Antisemitismus vorgeworfen hat, weil er einen (seinen) Literaturkritiker, einen Juden, hat zu Tode kommen lassen, literarisch versteht sich (siehe: Zu Martin Walser (4): Tod eines Kritikers). Er, der sich gegen eine ‚Instrumentalisierung des Holocaust‘ in Form einer dauerhaften ‚Moralkeule‘ gewehrt hat (siehe: Zu Martin Walser (3): Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede).
Walsers Begeisterung für jiddische Literatur ist wohl durch die als Buch erschienene Studie Mendele der Buchhändler – Leben und Werk des Sholem Yankev Abramovitsh (Harassowitz Verlag, Wiesbaden) der amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Susanne Klingenstein geweckt worden. Walser und Klingenstein kennen sich seit mehreren Jahren und standen in ständigem Austausch miteinander (warum erinnert mich diese ‚Beziehung‘ an Walsers Roman Der Augenblick der Liebe aus dem Jahr 2004?). Dieses Buch ist dabei weitaus mehr als eine individuelle Biographie und Werkdeutung, sondern eine Gründungsgeschichte der jiddischen Hochliteratur. Im Mittelpunkt steht aber Scholem Jankew Abramowitsch (in englischer Schreibweise Sholem Yankev Abramovitsh), der unter dem Namen Mendele Moicher Sforim (Mendele Moykher Sforim, d.h. Mendele der Buchhändler) seine Bücher veröffentlichte.
Ihm hat Martin Walser mit seinem Essay Shmekendike blumen – ein Denkmal/A dermonung für Sholem Yankev Abramovitsh ich wiederhole: ein Denkmal gesetzt.
Jiddisch, auch jüdisch-deutsch genannt, ist eine rund tausend Jahre alte Sprache, die von den mittel-, nord- und osteuropäische Juden gesprochen und geschrieben wurde und von einigen ihrer Nachfahren bis heute gesprochen und geschrieben wird. Es ist nach allgemeiner Meinung eine aus dem Mittelhochdeutschen hervorgegangene westgermanische, mit hebräischen, aramäischen, romanischen, slawischen und weiteren Sprachelementen angereicherte Sprache. Geschrieben wird Jiddisch mit hebräischen Schriftzeichen, die allerdings nach gestimmten Regeln in lateinische Buchstaben umschrieben (‚transliteriert‘) und so auch für uns lesbar werden.
Mit jiddischer Literatur habe ich mich schon früh befasst (siehe u.a. Isaac B. Singer: Feinde, die Geschichte einer Liebe), allerdings in deutscher Übersetzung. Martin Walser hat sich an die transliterarische Fassung der Texte gehalten (hebräische Schrift wird wohl auch er nicht lesen können), was einige Geduld verlangt (und vielleicht auch ein Wörterbuch, da nicht alle Wörter im Deutschen wiederzufinden sind). Wer sich aber getraut, dem tut sich eine erstaunliche Sprachwelt auf. „Es wäre zu armselig, wenn wir überhaupt nicht wahrnehmen, erleben könnten, was Jiddisch ist“, schreibt Walser: „Meine Empfehlung: So langsam lesen wie noch nie. Den Wörtern die Chance geben, in uns Echos zu wecken.“ – In Walsers Buch finden wir hierzu einige Beispiele.
In seinem neuen Essay ist Martin Walser ganz Leser und Entdecker, und als solcher bereist er eine sonst kaum beachtete literarische Landschaft – die jiddische Literatur. Einem ihrer großen Autoren und Mitbegründer der modernen jiddischen Literatur, Sholem Yankev Abramovitsh (1835-1917), will er schreibend ein Denkmal setzen: ihm und seinem Werk, das er «ein Lesewunder» nennt und in dem ihm ein Erzählen «unter einem Himmel voller Bedeutungen» begegnet. Martin Walser ist begeistert von der Vielfalt der Sprachwelten, die sich ihm darin eröffnet. Die enthusiastische Leseerfahrung, die in seinem Essay ihr Echo findet, lässt auch einen Autor in neuem Licht erscheinen, zu dem er seit seinen Anfängen immer wieder zurückgekehrt ist: Franz Kafka.
So ist Martin Walsers Essay nicht nur die Erkundung einer vernichteten Lebenswelt, sondern auch eine emphatische Einladung an das Publikum, sich in diesen wieder entdeckten Landstrich der Literatur zu begeben: «Ich hoffe, es gehe jedem Leser so: Man möchte diese Sprache sprechen.»
Quelle: rowohlt.de (hierzu auch eine kleine Leseprobe)
Natürlich geht es Walser nicht nur um den Wert dieser jiddischen Literatur, den er in seiner Begeisterung für sehr hoch hält. Martin Walser stellt klar, welchen Standpunkt er gegenüber den Juden einnimmt, wenn er schreibt:
Von Sühne zu sprechen ist grotesk. Mir ist im Lauf der Jahrzehnte vom Auschwitz-Prozess bis heute immer deutlicher geworden, dass wir, die Deutschen, die Schuldner der Juden bleiben. Bedingungslos. Also absolut. Ohne das Hin und her von Meinungen jeder Art. Wir können nichts mehr gutmachen. Nur versuchen, weniger falsch zu machen. (S. 102)
Etwas irritierend finde ich, was Walser dann schreibt. Es klingt so, als ginge er in dem jiddischen Autoren Abramovits und mit ihm in der jiddischen Sprache voll und ganz auf, sodass nichts mehr für das ‚Hier und Heute‘ bleibt. Walser wird in wenigen Tagen (am 24. März) immerhin 88 Jahre alt. Die Schaffenskraft Walsers der letzten Jahre war ungebrochen, geradezu erstaunlich. Dazu die vielen Reisen zu Lesungen (zuletzt zusammen mit Susanne Klingenstein). In Kafkas Roman „Der Prozess“ lautet der letzte Halbsatz: „… es war, als sollte die Scham ihn überleben.“ Sollte sich das jetzt auf Walser beziehen? Übermannt ihn jetzt eine Scham gegenüber den Juden, sodass jedes weitere Schreiben, das sich nicht auf dieses Thema bezieht, für ihn bedeutungslos geworden ist? Walser schreibt:
Ich merke, wenn ich jetzt Abramovitsh lese, dass mich das ungeeignet macht für alles, was ich jetzt tun oder sein müsste. Ich erlebe ein Nicht-mehr-in-Frage-Kommen für das sogenannte Hier und Heute. Eine vollkommene Eingenommenheit. Von ihm. Ich kann auch nichts dagegen tun, in mir dominiert die Mitteilung, dass wir dieses Volk umbringen wollten und zu Millionen umgebracht haben. Und dieses Volk ist mir jetzt, erst jetzt, wirklich bekannt geworden. Durch Abramovitsh. Durch Mendele, Yisrolik, Binjamin, Senderl und Schloimale [Romanfiguren Abramovitsh‘].
Dass Menschen abgerichtet werden können, das zu tun, was sie dann taten, bleibt unfassbar. (S. 107)
Bevor am Schluss in dem kleinen, gerade einmal gut 130 Seiten umfassendem Buch der Einleitungsvortrag über Jargon von Kafka dessen Gedanken zur jiddischen Sprache kundgetan werden (Kafka spricht von Jargon, wenn er die jiddische Sprache meint), findet sich eine kleine Erzählung von Sholem Yankev Abramovitsh unter seinem Autorennamen Mendele Moykher Sforim, die zunächst in deutscher Übersetzung (übersetzt gemeinsam von Susanne Klingenstein und Martin Walser), dann in der Transliteration und zuletzt in hebräischer Schrift wiedergegeben wird. Hier der erste Absatz.
Mendele Moykher Sforim: Meine (letzte) Reise
Vor einem Jahr, am 2. Elul 5629, habe ich mich mit meinem Bücherwagen nach Kiew hineingeschmuggelt. Ich sage hineingeschmuggelt, wie, wie ihr ja wisst, ein Jude in Kiew faule Ware ist, er darf sich dort nicht aufhalten, es sei denn, er hätte ein Siegel, was bedeutet, dass er die Abgabe entrichtet und Handelserlaubnis hat. So wie es aussieht, dürfen sich dort keine Juden aufhalten, nicht weil man sie für unehrliche, ungeschlachte, ungebildete Menschen hielte, denn erstens, so fein, so ehrlich wie Zigeuner sind sie schon. Warum gehen denn dort Zigeuner und andere üble Leute frank und frei herum? Und, zweitens, seit wann ist eine Handelserlaubnis ein Zeichen von Ehrlichkeit? Man kann ein Händler und trotzdem ein großer Betrüger sein. Drittens, möchten dort doch auch alle wohnen, die einmal studiert haben in den russischen Schulen und Rabbinerseminaren, auch Schriftsteller und ihresgleichen, die ja feine, gebildete Leute sind, auch wenn sie kein Geld haben für den Mitgliedsbeitrag im Berufsverband. Was also ist der wirkliche Grund? Verzeiht mir, da müsst ihr wirklich andere fragen, Klügere, Verständigere als mich. Mir liegt es nicht, mich da in philosophische Spekulationen zu versteigen, auf hohen Pfaden zu wandeln und bis ins letzte Jahrtausend vor dem Kommen des Messias hineinzukriechen, und außerdem, warum überhaupt! Gelobt sei der Ewige, Er sei gepriesen, immerhin sitzen die Juden doch in Kiew. Dort gibt es heute – kein böses Auge – eine große jüdische Gemeinde, sie möge sich vermehren, sie haben schon – Gott sei’s gedankt – eine Fleischsteuer, das heißt, sie essen koscheres Fleisch und halten sich auch an andre gute Regeln, schon bald wie in Glupsk. Es kostet eben mal einen Rubel, sei’s drum! (S. 113 f.) […]
Hier die Transliteration (genauer: YIVO–Transkription) des in hebräischer Schrift (siehe unten) verfassten Textes. Leider ist diese Umsetzung des Textes vom Englischen geprägt und lässt für den Deutsch Sprechenden zwischen Zeichen und Laut keine Eins-zu-Eins-Entsprechung zu. Anstelle von y, z, s, v, ts, kh, sh, zh, ay, ey, oy treten im Deutschen j, s, ß, w, z, ch, sch, sh, aj, ej, oj – also zwejtn für tsveytn oder ich mich für ikh mikh ließe sich leichter lesen). Berücksichtigt man diese Unwegsamkeit, dann wird der Leser schnell erkennen, welche Ähnlichkeit das Jiddische mit der deutschen Sprache hat und doch welche besondere Eigenart. Versuchen wir es einmal:
Mendele Moykher Sforim: Mayn (letste) Nesie
Dem tsveytn elul, far a yorn, tarkh“t [1869] (1), hob ikh mikh mit mayn baydl sforem arayngepeklt in kiev. Ikh zog arayngepeklt, makhmes, vi ir veyst, iz a yid in kiev treyfe skhoyre. Er tor zikh dort nit gefinen, saydn mit a blomb (2), dos heyst, az er tsolt poshline(3) un nemt a kupetshestvo(4). Vi es hot a ponem (5), torn keyn yidn dort nit zitsn, nit vayl me halt zey far umerlekhe, grobe, umgebildete mentshn, vorem reyshis (6), azoy fayn, azoy erlekh zaynen zey dokh, lekhol hapokhes (7), vi tsigayner. Far vos zhe geyen arum dortn tsigayner mit nokh andere shlek frank un fray? Tsveytns, vos iz kupetshestvo far a simen fun erlekhkayt? Me ken zayn a kupets (8) un fort a groyser moshenik (9). Dritns, voltn dokh dortn gemegt zitsn di, vos hobn a mol gelernt in shkoles, in rabiner-shuln, oykh mekhabrem (10) un nokh azelkhe, vos zaynen zeyer fayne gelernte mentshn, khotshe-nebekh, zey hobn nit keyn gelt tsu tsoln gilde (11). Vos den zhe iz der emeser tam? dos, zayt moykhl, geyt fregn andere, kliger, farshtenderike fun mir. Ikh bin nit oysn zikh do arayntsulozn in khkires un geyn in hoykhe drokhem, farkrikhn biz dem elef hashishi (12)… un iberikns, vos makht es oys, geloybt iz hashem yisborekh, yidn zitsn dokh fort in kiev. Dortn gefint zikh haynt, on nehore, a groyse eyde yidn, zoln zikh mern. Zey hobn shoyn, dankn got, a takse mit nokh azelkhe gute tekones, bald efsher azoy, vi in glupsk. Es kost a mol a kerbl, nu, meyle, khe!… (S. 119 f.) […]
(1) Jahreszahlen werden in hebräischen Buchstaben geschrieben, die Zahlenwert haben, Elul fällt auf Mitte August
(2) blomb vermutlich ein offizielles Dokument mit Metallsiegel
(3) poshline Abgabe oder Steuer
(4) kupetshestvo Handelserlaubnis
(5) ponem Gesicht
(6) reyshis erstens
(7) lekhol hapokhes wenigstens
(8) kuperts Händler
(9) moshenik Betrüger (shvindler, dreyer, opnarer)
(10) mekhabrem (Schriftsteller (plural)
(11) gilde Berufsverband, Gilde
(12) Elef hashishi nach der Kabbala das sechste und letzte Jahrtausend vor dem Kommen des Messias
… zuletzt der Text in hebräischer Schrift:
Martin Walser hat den Toten und ihrer vernichteten Kultur in Osteuropa seine Reverenz erwiesen. (Jüdische Allgemeine)