Kategorie-Archiv: Literatur

WilliZ Welt der Literatur

Der Mensch erscheint im Holozän – ein Visual Poem nach Max Frisch

Wie der Zufall es so will, sendet 3SAT im Rahmen des Berliner Theatertreffens 2020 das Visual Poem nach Max Frischs Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän in einer Aufführung des Schauspielhauses Zürich. Zufall deshalb, weil ich mich in den letzten Tagen mit Theaterstücken von Max Frisch beschäftigt und in diesem Jahr auch weitere Werke von ihm (erneut) gelesen habe (dazu später mehr).

Max Frisch: Der Mensch erscheint im Holozän - 1. Auflage
Max Frisch: Der Mensch erscheint im Holozän – 1. Auflage

Alexander Giesche legt mit „Der Mensch erscheint im Holozän“ (verfügbar auf 3SAT bis 12.03.2021) am Schauspielhaus Zürich die erste große Inszenierung zum Thema Klimawandel vor. Er erhielt dafür im Rahmen des Berliner Theatertreffens 2020 den 3sat-Preis.

Schauspielhaus Zürich 2020: Der Mensch erscheint im Holozän – nach Erzählung von Max Frisch
Schauspielhaus Zürich 2020: Der Mensch erscheint im Holozän – nach Erzählung von Max Frisch

„Der Mensch erscheint im Holozän“ von Max Frisch ist eine Erzählung über das Vergessen und Vergehen. Mit dem Verlust des Gedächtnisses verschwindet auch der Mensch, verliert sich und die Kontrolle über das eigene Leben.

Ein Gefühl der Heimat bleibt, die vertraute Umgebung, die Natur, die Berge, der Schnee, wie das Licht ins Tal fällt zu verschiedenen Jahreszeiten. In einem durch ein Unwetter von der Außenwelt abgeschlossenen Bergdorf kämpft Herr Geiser gegen den fortschreitenden Verlust seines Gedächtnisses. Mit Hilfe kleiner Zettel, die er in seinem Haus verteilt, baut er sich eine Wissensdatenbank auf. Die Isolation macht Herrn Geisers zurückgezogenes Leben noch einsamer. Hinzu kommt die Sorge, dass durch den andauernden Regen der ganze Berg ins Rutschen geraten könnte.
Die Erzählung des Schweizer Autors Max Frisch erscheint 1979. Ein lange verkanntes Spätwerk. Der Regisseur Alexander Giesche nimmt den Text als Ausgangspunkt für seine Inszenierung am Schauspielhaus Zürich, die ganz um die Trias Mensch, Natur, Technik kreist. Er folgt dabei nur lose der Erzählung, sie ist vielmehr Stichwortgeber für immer neue Bilder, die dem Verlust, dem Vergessen, dem Abschied eine Form geben.

Eine Schauspielerin und ein Schauspieler berichten fragmentarisch über Herrn Geisers Zustand und den des Tals, mal aus seiner Perspektive, mal als Beobachter. Alexander Giesche nennt seine Werke Visual Poems. Die Inszenierung besteht aus klar voneinander abgegrenzten Bildern. Er lässt Krankenhausbetten und elektrische Rollstühle tanzen, zaubert Hologramme auf die Bühne und lässt einen erstaunlich realistischen Dinosaurier auftreten. Die verschiedenen Elemente und theatralen Mittel stehen dabei gleichberechtigt nebeneinander, sind alle Teil seines Gedichts.

Ein Abend, der scheinbar die Schönheit des Untergangs besingt. Auch die Menschheit wird einmal Geschichte sein oder wie Max Frisch es formuliert hat, „Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt; die Natur kennt keine Katastrophen.“ Aber Alexander Giesche schafft es aus diesem Fatalismus einen Hoffnungsschimmer, ein Gefühl der Wärme herauszuschälen. Das Verhältnis Mensch – Natur bleibt ein angespanntes. Unser schädlicher Einfluss auf den Planeten zeigt sich jeden Tag deutlicher.

Im Anschluss an diese Inszenierung ist Max Frisch mit seiner Dankesrede Die Schweiz als Heimat zur Verleihung des Schillerpreises am 12.01.1974 zu sehen. Hier setzt sich Frisch ebenso eloquent wie kritisch mit der eigenen Herkunft auseinander. Die Rede ist heute so aktuell wie eh und je.

Willis Plaudereien (10): Der übliche Verrat der Hülle am Inhalt

    Seit ein paar Jahren, ungefähr seit Mitte vierzig, fiel mir das auf, na ja, der übliche Verrat der Hülle am Inhalt, graue Haare, Fett, das nicht mehr ablaufen kann, Ohrenhaare, die offenbar mit den Nasenhaaren zu korrespondieren beabsichtigen, aber die sind ja noch ganz lustig, trockene, schuppige Echsenhaut, dann gehen mir die Haupthaare aus, das heißt, ihre Produktionsstätten veröden, werden aufgegeben, jemand Zuständiger ist unentschuldigt weggegangen.

Willi mit Helm in grün (Edelsteinminen Idar-Oberstein Juli 2019)
Willi mit Helm in grün (Edelsteinminen Idar-Oberstein Juli 2019)

Bei Herrn Rubinowitz ist der Zeitpunkt die Mitte der vierziger Jahre, da er erkannt hat, dass es mit der Hülle nicht mehr ganz zum Besten bestellt ist. Ha, junger Mann, komm erst einmal in mein Alter, wenn die Zähne zu wackeln beginnen, die Knochen morsch werden oder die Augen stumpf. Das ist dann längst kein Verrat mehr, das ist Sabotage!

Ein Jahr Rentnerdasein

Wie die Zeit vergeht: Heute vor einem Jahr hatte ich meinen letzten Arbeitstag. Und (offiziell) mit dem 1. November 2019 begab ich mich in Rente. Was war das für ein Jahr …

The Best of 'Willi auf Arbeit' (Die letzten Tage ...)
The Best of ‚Willi auf Arbeit‘ (Die letzten Tage …)

Natürlich bin ich froh, in Corona-Zeiten nicht mehr Tag für Tag stundenlang zur Arbeit und zurück fahren zu müssen. Der letzte Arbeitstag z.B. (noch ohne Corona) hatte sich sehr prickelnd entwickelt: Zugausfälle und Verspätung in beide Richtungen! Danke, Metronom! Danke, HVV!

Den ersten Monat ‚in Freiheit‘ nutzte ich dank des schönen Wetters für Radtouren rund um meinen Wohnort. Und im Dezember ging es dann ja auf Weihnachten zu – ein letzter Tag auf der Arbeit zur Weihnachtsfeier.

Dann kam das Corona-Virus und sollte von nun an unser weiteres Leben beeinflussen. Als Rentner habe ich davon natürlich nicht allzu viel gemerkt. Gut zum Einkaufen muss auch ich mir diesen Schnutenpulli vors Gesicht binden. Aber auch sonst … und jetzt geht es wieder von vorn los: Vorerst für November 2020 gilt: Restaurants, Bars usw. müssen schließen, und Zusammenkünfte mit Personen aus mehr als zwei Haushalten sind untersagt.

Willi mit Gesichtsmaske
Willi mit Schnutenpulli

Die Reise mit meiner Frau im Mai zu Bekannten auf Sizilien mussten wir canceln. Inzwischen haben wir wenigstens das Geld für Bahn und Flug erstattet bekommen (hat bis zu fünf Monaten gedauert). Dafür machte ich dann die Radtour nach Cuxhaven mit meinen beiden Söhnen. War ja auch nicht schlecht!

Aber dann, aber dann … geht’s so richtig los!

Nun so richtig los ging es eigentlich noch nicht. Vieles, das auf meinen ‚Zettel‘ steht, ist noch nicht abgehakt. Dafür habe ich aber endlich wieder viel gelesen und komme in den vergangenen zwölf Monaten auf über 12.000 Seiten (oder fast 50 Bücher), wenn es mit James Joyce‘ Ulysses auch noch nicht geklappt hat (oder nur teilweise – ich traue mich nicht …). Einige der Bücher habe ich hier ja in den letzten Wochen vorgestellt.

Und dann habe ich den Griff in meine hauseigene Videothek (die wie von Geisterhand Tag für Tag größer wird) gewagt und mir Filme unterschiedlichstem Genre allabendlich ‚reingezogen: Neben den sonntäglichen Tatortfolgen viele andere Krimis in Miniserie: Countdown Copenhagen II (8 Folgen aus 2019), Trapped – Gefangen in Island (5 Folgen aus 2019), Hindafing (2. Staffel – 6 Folgen aus 2019), Der Pass (8 Folgen aus 2019), Die Frau aus dem Meer (6 Folgen aus 2019), Arctic Circle – Der unsichtbare Tod (10 Folgen aus 2018), Mammon (6 Folgen aus 2014), The Bay (6 Folgen aus 2019), Mammon (2. Staffel – 8 Folgen aus 2015), Dunkelstadt (6 Folgen aus 2020), Professor T (4. Staffel – 4 Folgen aus 2020), Kommissar Van der Valk (3 Folgen aus 2019), New Blood I – III (insgesamt 7 Folgen aus 2017), The Killing [Kommissarin Lund – Das Verbrechen] (1. bis 3. Staffel – insgesamt 40 Folgen 2007 – 2012), Darkness – Schatten der Vergangenheit (8 Folgen aus 2019), Dan Sommerdahl – Tödliche Idylle (4 Folgen aus 2020), Mord im Böhmerwald (8 Folgen aus 2018) und viele einzelne Folgen weiterer Krimiserien.

Von weiteren Serie habe ich geguckt: Doctor Who (4. bis 9. Staffel), Neues aus Büttenwarder (14. Staffel aus 2019), Unterleuten – Das zerrissene Dorf (3 Folgen aus 2020), Warten auf’n Bus (8 Folgen aus 2020), Die Kanzlei (4. Staffel – bisher 12 Folgen aus 2020), Oktoberfest 1900 (8 Folgen aus 2020), Sløborn (8 Folgen aus 2020), Pan Tau (14 Folgen aus 2020), Da is‘ ja nix (6 Folgen aus 2020), Babylon Berlin (3. Staffel – 12 Folgen aus 2020); Moloch (1. Staffel – 6 Folgen aus 2019) – und viele Filme von Regisseuren wie François Truffaut, Claude Chabrol, Eric Rohmer, Jean-Luc Godard, Wim Wenders, Werner Herzog, Rainer Werner Fassbinder, Klaus Lemke, Christoph Schlingensief, Alfred Hitchcock, Richard Lester, Jim Jarmusch, Brian De Palma, Roman Polanski u.v.m.

Und ab und zu habe ich – wie ihr seht – auch die Zeit gefunden, hier den einen oder anderen Beitrag zu veröffentlichen. Und so komme ich ins Rentenjahr No. 2 …

Martin Walser: Das Alterswerk

Inzwischen ist Martin Walser 93 Jahre alt. Und wie es aussieht, so geht es ihm auch in Corona-Zeiten noch ganz gut (siehe unten). Bis vor zwei Jahren war er zu Lesungen in der Republik unterwegs. Und neben Sammlungen von Reden, Aufsätzen usw. gab er bis zum Ende des letzten Jahres auch immer mindestens ein Prosastück zum Besten. Als Letztes hatte ich hier Walsers Roman Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte vom April 2018 besprochen. Wohl mit keinem anderen Schriftsteller habe ich mich soviel beschäftigt wie mit Martin Walser (d.h. ich habe ihn gelesen).

Martin Walsers Alterswerk
Martin Walsers Alterswerk

Zuerst möchte ich aber ein Buch aus dem Jahr 2017 ansprechen, das ein Gespräch zwischen Walser und Jakob Augstein wiedergibt:

Martin Walser – Jakob Augstein: Das Leben wortwörtlich – ein Gespräch (2017)

    „Ich würde nie eine
    Autobiographie schreiben.
    Das zwingt zu einer
    mir unangenehmen Art
    von Lüge. Die Lüge im
    Roman ist wunderbar.
    Sie ist eine Variation
    der Wahrheit.“

    Martin Walser

Martin Walser ist Schriftsteller. Jakob Augstein ist Journalist. Und sie sind Vater und Sohn.
2009 gab Jakob Augstein bekannt, dass Martin Walser sein leiblicher Vater sei, was er 2002 nach dem Tod von Rudolf Augstein durch seine Mutter erfuhr. Walser und Augstein trafen sich seither häufig.

Dieses Buch Das Leben wortwörtlich: Ein Gespräch, das ich in 1, Auflage Dezember 2017 – Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg vorliegen habe, könnte als eine Art Ersatz-Autobiographie gelten, denn in diesem Buch sprechen sie über das Leben von Martin Walser, über dessen Jugend in Wasserburg am Bodensee, über den Vater, der Hölderlin gelesen hat, und die Mutter, die das Gasthaus geführt hat. Sie sprechen über den Krieg, über das Schreiben, über Geld und das Spielcasino in Bad Wiessee, über Uwe Johnson und Willy Brandt. Sex ist kein Sujet, sagt Walser, und so sprechen sie stattdessen über das Lieben. Und dann über das Beten.

Jakob Augstein fragt Walser nach der umstrittenen Rede in der Paulskirche und der öffentlichen Fehde mit Marcel Reich-Ranicki. Und natürlich spielen Auschwitz und die deutsche Vergangenheit eine Rolle, ohne die das Leben und die Romane von Walser nicht zu denken sind. Und sie sprechen auch über sich.

„Das Leben wortwörtlich“ ist der gemeinsame Blick auf eine deutsche Lebensgeschichte, bewegend und voller überraschender Einsichten.
(aus dem Klappentext)

Jakob Augstein, geboren 1967 in Hamburg, studierte Politikwissenschaften, Germanistik und Theaterwissenschaften in Berlin und Paris. Er arbeitete für die „Süddeutsche Zeitung“, unter anderem als Chef der Berlin-Seite, und für die „Zeit“. 2008 übernahm er die Wochenzeitung „der Freitag“, deren Verleger und Chefredakteur er heute ist. Er ist Kolumnist bei „Spiegel Online“.

Du bist mein Vater.
Ein Umstand, der mich mit Freude erfüllt.
Als ich ein Kind war, wusste ich das nicht. Und vielleicht auch nicht. Ich war beinahe vierzig, als wir uns das erste Mal begegnet sind, du beinahe achtzig Jahre alt.
Ja, Jakob, wir waren beide zu alt.

Martin Walser: Spätdienst – Bekenntnis und Stimmung (2018)

    Süß ist es, lächerlich und steil,
    von einem Arschloch verrissen zu werden.
    Alles hab ich schon mir zuliebe probiert,
    euch zum Possen mach ich jetzt Gedichte.

    Martin Walser: Spätdienst (S. 57)

Was Martin Walser ‚Bekenntnis und Stimmung‘ in diesem Buch Spätdienst (habe ich in 2. Auflage Dezember 2018 – Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg) nennt, sind hunderte kurzer und kürzester Texte. Naturlyrisches neben Politischem, Reflexionen über Leben und Tod, Friedliches und Provozierendes, Abrechnungen mit «Feinden» im Feuilleton (von Reich-Ranicki und Karasek über Raddatz und Schirrmacher bis Löffler und Höbel): Gedanken, Gedichte, Aphorismen, Notate, begleitet von zarten Arabesken seiner Tochter Alissa. In seiner «formlosen Form» ist «Spätdienst» am ehesten vergleichbar mit Walsers «Meßmer»-Trilogie.

Für Gegner:
ein gefundenes Fressen

Für meine Leser:
vielleicht ein Ausflug
ins Vertraute

„Wie klingt die Zeit im Gewölbe der Nacht?“ Wer fragt das? Ein lyrisches Ich zwischen raren Glücksmomenten und Schwärze, Leere, Sturz. Beim Durchkämmen des Hundefells, beim Aufschneiden eines Apfels oder immer dann, wenn die Berge im Blau stehen, der Wind in den Bäumen rauscht, die Blätterschönheit den Atem stocken lässt, kommt sie auf, die Frage, ob das das Glück sei, denn lange währt sie nie. Schon fährt etwas dazwischen, Wörter, die weh tun, ausgesprochen von anderen, gegen die nur eines hilft: „Sich in Verse hüllen, als wären es Schutzgewänder, schön, weltabweisend, die Einbildung heißt Aufenthalt.“

Hier haben wir sie – die Summe, ja das Resultat der Poetik Martin Walsers. Hier lässt sich sein Realismus fassen wie nirgends sonst. Mehr als schön ist nichts. Oder: etwas so schön sagen, wie es nicht ist.

Martin Walser hat den Schmerz das Singen gelehrt, und aus den Zumutungen der Wirklichkeit destilliert er glasklare Gedanken. (aus dem Klappentext)

Ich muss aber
die Wörter wie’s Vieh auf die Weide treiben,
dass die Wörter wuchern über meine Wunden.
(S. 104)

Martin Walser: Mädchenleben oder Die Heiligsprechung – Legende (2019)

    Die Welt entspricht mir nicht, aber ich soll ihr entsprechen.

    Ich will nicht mehr sprechen müssen. Was ich denke, kann ich nicht sagen. Und etwas sagen, was ich nicht denke, kann ich auch nicht.

    Ich bin die Wächterin am Grab meiner Wünsche.

    Martin Walser: Mädchenleben (Aus Sirtes Tagebuch)

Es ist lediglich ein kleines Büchlein geworden, dieses Mädchenleben: oder Die Heiligsprechung (Originalausgabe – Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2019 – Umschlagabbildung: Alissa Walser), ein Werk von gerade 90 Seiten. Eine ‚Legende‘, also eine neue Facette in Walsers Werk. Viele Walser-Kritiker werden wohl den Kopf geschüttelt haben, als sie das Buch lasen. Für mich ist es ein Werk, das den Walser’schen Kosmos, der nun einmal meist am Bodensee spielte, abrundet. Religiösität spielt dort eine große Rolle.Walser zeichnet diese Legende allerdings in seiner ganz eigenen, sehr kraftvollen Art auf. Und …Zürn – da war doch was! Da war sogar eine ganze Menge im literarischen Walser-Universum! Es gab bereits einen Chauffeur Xaver Zürn («Seelenarbeit», 1979), einen Dr. Gottlieb Zürn («Das Schwanenhaus», 1980; «Die Jagd», 1980; «Der Augenblick der Liebe», 2004) – nun also Ludwig Zürn.

Für alle Walser-Leser ein Fest des Wiedersehens: Schon in seinen Tagebüchern aus dem Jahr 1961 finden sich Eintragungen zu „Mädchenleben“, und nun, fast sechzig Jahre später, hat er das dort Notierte zusammengetragen und zu etwas verwoben, das er „Legende“ nennt: die Geschichte des Mädchens Sirte Zürn, das, weil es seine eigenen Wege geht – plötzlich verschwindet, erst nach Tagen wieder auftaucht, sich im Sand eingräbt, bei Sturm in den See rennt -, nach Wunsch seines Vaters heiliggesprochen werden soll. Der Untermieter der Familie, der Lehrer Anton Schweiger, ist von diesem Einfall so entzündet, dass er alles sammelt, was es über das Mädchen zu erzählen gibt. Darüber gerät er mehr und mehr in ihren Bann.

Martin Walsers neues Buch besticht durch seine lebhaften, ungewöhnlichen Figuren, die in einer gleichsam entrückten Welt zu leben scheinen. Was ist mit Anton Schweiger, warum wohnt er als Lehrer zur Untermiete bei den Zürns, was bringt ihn dazu, nach Sirte eine solche Sehnsucht zu haben? Wie kommt ihr Vater auf den Gedanken der Heiligsprechung seiner Tochter, und was ist das für eine seltsame Ehe der Zürns, in der die Frau, während sie im Garten Lupinen setzt, von ihrem Mann zu Boden geworfen wird und er sich ein andermal mit Kuhfladen beschmiert? Mit Staunen lesen wir die herrlichen Walser-Sätze und lassen uns gefangen nehmen von der Geschichte eines jungen Mädchens, das anders ist als andere – zerbrechlich und sonderbar und ausgestattet mit einem ins Himmlische und Unwirkliche reichenden Gespür.

Über ein Mädchen, das wie kein anderes ist – ein schwebendes, klangschönes Alterswerk, das seine Rätsel bewahrt. (aus dem Klappentext)

Martin Walser: Sprachlaub oder Wahr ist, was schön ist (2021)

Nach dem ‚Gesetz der Serie‘ sollte eigentlich zum Jahresende ein weiteres Prosastück von Martin Walser erscheinen. Die Walser-Leser müssen aber dann doch noch bis zum 23. März im nächsten Jahr warten. Dann erscheint ein Buch, das den Titel „Sprachlaub oder Wahr ist, was schön ist“ trägt und mit Aquarellen von Walsers Tochter Alissa versehen ist, einen Tag vor Walsers 94. Geburtstag. Dabei soll es sich ähnlich dem ‚Spätdienst‘ um Sentenzen, Eingebungen, Reime, Aphorismen, also um „Augenblickspoesien“ oder „Augenblickstexte“ handeln.

Wie anfangs erwähnt: Walser erfreut sich auch in Corona-Zeiten noch guter Gesundheit. Erst vor einigen Tagen feierte es mit seine Frau Käthe Gnadenhochzeit. Das Paar ist also seit 1950 verheiratet: Eine Ehe ohne Liebe, das ist wie ein Auto ohne Motor!

Kurz und spitz (03): Kunst und wirkliches Leben

    Kunst und wirkliches Leben
    verhalten sich zueinander
    wie Onanie und Geschlechtsliebe.

Kurz und spitz: Kunst und wirkliches Leben
Kurz und spitz: Kunst und wirkliches Leben

Gut ein Viertel Jahrhundert habe ich in Bremen gelebt. Die Hansestadt an der Weser ist umgeben von Niedersachsen in seiner rustikalen Form. Da kam es schon öfter vor, dass ich mich mit Freunden und Bekannten aufmachte, das ländliche Umfeld zu erkunden. So ergaben sich z.B. auch Dorffeste, die wir besuchten. Und da ich in einer Musikgruppe spielte, so traten wir mit der Band (siehe: Schweine-Dachboden-und-Keller-Mucke) z.B. auf Feierlichkeiten mit ‚Tanz in dem Mai‘ hin und wieder auf.

Ich will aber nicht von unseren Auftritten erzählen, sondern von diesen anderen, oft sehr merkwürdigen Dorffesten. Auch später im weiteren Familienkreis gab es solche Feste, z.B. die goldene Hochzeit meiner Schwiegereltern: Da sorgte ein einzelner Musiker für die Stimmung und für die Tanzbegleitung. Das war dann ein Organist, der mit einem umfangreichen Equipment die Bühne füllte. Die meisten Tonsequenzen hatte dieser eigentlich längst eingespielt und brauchte nur noch die ‚Konserve öffnen‘. Eigentlich war nur der Gesang live (und das auch nur teilweise).

Wie auch immer: Solche Organisten nannten wir in Musikerkreisen nur Onanisten (schon der klänglichen Ähnlichkeit wegen), denn wir hatten immer den Eindruck, als könne sich so ein Organist/Onanist bei seinem Auftritt ‚einen Affen von der Palme wedeln‘. In diesem Blog habe ich öfter schon über diese musikalische Selbstbefriedigung geschrieben. Hier nur zwei Zitate:

… in früheren Zeiten sprachen wir da nicht mehr von Organisten, sondern Onanisten, die sich gewissermaßen an ihrem Instrument selbst befriedigten …

Früher gab es ja das berühmte Schlagzeugsolo, ich erwähnte es bereits. Die richtige Zeit, um aufs Klo zu gehen. Ähnlich verhielt es sich mit schier endlosen Gitarrensoli. Die kamen manchmal einer in aller Öffentlichkeit vollzogenen Selbstbefriedigung gleich. Ein solcher Onanist war Hendrix.

Kurz und spitz (02): Weg und Ziel

Wer das Ziel erreicht, verfehlt alles Übrige.
Danilo Kiš

Kurz und spitz: Weg und Ziel
Kurz und spitz: Weg und Ziel

Da fällt mir natürlich gleich Konfuzius‘ Spruch ein: Der Weg ist das Ziel. Und der ‚alte Meister‘ des Daoismus, der Lehre vom Weg, Lao-Tse und sein „Heiliges Buch vom Weg und der Tugend“ (Tao-Tê-King) .

Der Weg ist das Tun und Schaffen, das oft sehr mühevoll sein kann. Ist das Werk vollbracht, das Ziel erreicht, dann mögen wir die Lorbeeren ernten (innere Zufriedenheit erlangen), aber das ist dann auch das ENDE. Wir müssen uns auf einen anderen Weg machen.

siehe auch:
Kurz und spitz (01): Polterer

Russische Wochen (5) – Vladimir Kazakov: Unterbrechen Sie mich nicht, ich schweige!

Als ich mir das Buch vor vielen Jahren kaufte (1994 – denke ich), hatte es mir der absurde Titel angetan. Beim Lesen der sämtlichen Dramen von Vladimir Kazakov (in deutscher Transkription: Wladimir Kasakow) war ich zunächst etwas enttäuscht. Aber von Drama zu Drama – und es handelt sich um Minidramen von manchmal nicht einmal zehn Seiten Länge – fand ich zunehmend Gefallen an diesem Buch unter dem Titel Unterbrechen Sie mich nicht, ich schweige! -– Edition Akzente Hanser 1990, München Wien – aus dem Russischen von Peter Urban.

Mit Vladimir Kazakov betritt ein Schriftsteller die Bühne (der Literatur), der das genaue Gegenteil zu dem ist, was wir uns unter einem russischen Autor vorstellen: seine komischen Lese-Stücke und verspielten Scharaden sind kleine Meisterwerke eines metaphysischen Lachtheaters, auf dem die großen Gesten respektlos unterbrochen, die pathetischen Weltentwürfe genüßlich zertrümmert werden. Eine Mischung aus Karl Valentin und Daniil Charms.
Vladimir Kazakovs verrückte Meisterstücke eines metaphysischen Lachtheaters haben den großen Vorteil, daß sie nur drei Minuten dauern und in jedem Kopf mühelos aufzuführen sind. Wer es nicht glaubt, muß selbst dran glauben.
(aus dem Klappentext)

Nun die Dramen sind nicht nur zur Aufführung für den Kopf gemacht, sondern wurden 1993 im Mousonturm Frankfurt und in der Kampnagel Fabrik Hamburg, Regie: Birgitta Linde – mit Ulrich Cyran – auch auf die Bühne gestellt.

Viel ist es nicht, was ich über den Autor finden konnte. Vladimir Kazakov wurde am 29.08.1938 in Moskau geboren und verstarb dort am 23.06.1988. Er trat 1972 der russisch-orthodoxen Kirche bei. Als Schriftsteller stand er in der Tradition des Futurismus, schrieb surrealistisch-absurde Kurzprosa und »Szenen«, die in der Sowjetunion bis 1989 nicht veröffentlicht werden konnten.

Vladimir Kazakov: Unterbrechen Sie mich nicht, ich schweige! - Sämtliche Dramen
Vladimir Kazakov: Unterbrechen Sie mich nicht, ich schweige! – Sämtliche Dramen

Diese Welt ist merkwürdig streng, gläsern, scharf, kalt. Stein, Eisen und Glas sind die Materialien, aus denen sie hauptsächlich besteht, zu ihrem Inventar gehören – den Menschen gleichgestellt und gleichberechtigt: die steinernen Wände, Hausmauern, Hausdächer, Fenster, der Spiegel, die Uhr. Vermessen werden die Beziehungen, Brechungen, Winkel, Schwingungen, die zwischen diesen Gegenständen entstehen – durch die Luft, durch das Licht und vor allem durch die Zeit, eine Zeit allerdings, die nicht identisch ist mit derjenigen, die die Uhr anzeigt, Zeit, die von Uhren, in Sekunden und Minuten gar nicht meßbar erscheint, eine Zeit, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einer beherrschenden Gleichzeitigkeit verschmelzen.
In dieser Gleichzeitigkeit agieren Menschen oder Personen, die wie surreale Puppen oder gar körperlos sich bewegen, sie erscheinen wie Gespenster, verschwinden wie Gespenster und offen bleibt letztlich, ob es sich bei diesen Kunstfiguren um Menschen handelt, die nicht nur eine Stimme, sondern auch einen realen Körper besitzen, oder um Geister, Erscheinungen, Spiegelungen, Stimme gewordene Erinnerungen, die, in der Stille der Kazakovschen Welt, mehr schweigen als reden.

[…]
In Kazakovs Dialog sind die Regeln und Verbindlichkeiten des allgemeinen Sprachgebrauchs aufgehoben. Kazakovs Personen sehen und hören das Wort jedesmal neu, sie erfahren die Wörter gleichsam staunend, als hörten und sagten sie sie immer wieder zum ersten Mal. Sie sind fähig, sich am Wort „Messer“ die Zunge zu verletzen, fähig, sich am Wort „Glas“ zu schneiden, sie empfinden die scharfe Spitze des Sekundenzeigers als ständige Bedrohung, das Wort „Sekunde“ ist für sie ein Stich, ist für sie – seinen sie nun körperlos oder reale Menschen – physische Wahrnehmung, Schmerz.
(aus dem Nachwort von Peter Urban)

Ich bin ein Freund des Surrealen, des Absurden. Was den meisten als grober Un-Sinn erscheint, hat aber unter seiner rauen Schale oft mehr Sinn als manches, was uns als Sinnvolles verkauft wird. Und wenn es dann doch total absurd ist, dann bringt es uns wenigstens zum Lachen. Das hat dann auch viel Sinn!

Ich habe mir einige Textpassagen im dem Buch unterstrichen, weil diese mir besonders gut gefallen oder ich sie auf bestimmte Weise bemerkenswert finde. Da das Buch leider nicht mehr verfügbar ist (außer im Antiquariat), hier einige dieser Sprüche, um sie gewissermaßen „der Nachwelt“ zu erhalten:

Gibts das andre, gibt es auch das eine.

Ich habe noch 183 Wörter zu leben.
Oder 5 Küsse.

Ich gehe über die Straße und sehe plötzlich, daß ich vergessen habe, aus dem Haus zu gehen.

Man sollte meinen, alles sei bereits gesagt. Aber es gibt auch vieles Nichtgesagte. Also schweigen wir.

Aber das ist ein schlechtes Thema zum Schweigen.

Ob Schlinge oder Schlips ist unwichtig. Auf den Hals kommt es an.

Dieser Himmel ist sehr unbeständig, stellen wir uns unter einen anderen.

Ich erinnere mich nicht, wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt.

Ich rührte mich nicht, aus Angst, meinen Mut zu erschrecken.

Eine Minute besteht aus 60 Fragezeichen …

Das ist das Schicksal aller Unglücklichen – begraben zu werden zusammen mit dem eigenen Glück.

Unter zwei Übeln wähle ich das mittlere.


Meine Liebe ist wie das erste Eis des Winters, noch nicht fest genug.

Blühende Mimose

Auf rosig reimt sich ‚mimosig‘, und wenn es sich bei beiden, Rose und Mimose, auch um als große Sträucher blühende Pflanzen handelt, so ‚behandeln‘ wir beide doch eher gegensätzlich. Die Rose ist das Sinnbild für Schönheit, für Glanz und Gloria. Die Mimose steht für ihre ‚Mimosenhaftigkeit‘, sie ist überaus empfindlich und reagiert übertrieben auf Einflüsse von außen.

Wird die Mimose berührt, so klappt die Pflanze die betroffene Region blattweise ein. So reagiert sie auf Erschütterung, schnelle Abkühlung oder schnelle Erwärmung, außerdem auch auf Änderung der Lichtintensität. Nach einigen Minuten strecken sich die eingezogenen Zweige und Blätter wieder aus.

    Reaktion einer Mimose auf mechanischen Reiz
    Reaktion einer Mimose auf mechanischen Reiz (Autor: Hrushikesh)

Wir haben schon seit mehreren Jahren eine Mimosenpflanze bei uns in der Küche stehen. Lange sah es so aus, als würde sie undank ihrer Empflindlichkeit bald das Zeitliche segnen. Aber in diesem Jahr hat sie sich richtig prächtig erholt und auch endlich die ersten, bemerkenswerten Blüten entwickelt, die es mit den Blüten einer Rose durchaus aufnehmen können.

Blühende Mimose (Mimosa pudica)
Blühende Mimose (Mimosa pudica)

Da sich Mimose also auf Rose reimt (da reimt sich manches), so habe ich geschaut, ob es entsprechende Gedichte gibt, die beide Pflanzen zum Thema haben und fand diese Liebeserklärung an die Mimose:

Weil jeder sie so entzückend
Grün und natürlich fand,
Ging die große Mimose
Von Hand zu Hand.

Und ging und lebte, ward müde und schlief,
Und ward herumgereicht.
Und wünschte sich vielleicht – vielleicht! –
Ganz tief,
So unempfindlich zu sein
Wie ein Stein.

Und wie sie trotzdem wunderbar
Organisch grün und wissend klar
Gedieh,
Umschwärmten, liebten, achteten sie
Die Menschen und die Tiere,
Merkten aber fast nie,
Daß sie keine Rose,
Daß sie eine große Mimose war.

Jene Große von Joachim Ringelnatz

Willis Plaudereien (9): Und und/oder oder?

Denen, die jetzt Bahnhof verstehen, sei es erklärt: Es geht um die Frage, ob jemand ein Und-Typ ist oder doch eher ein Oder-Typ – oder vielleicht beides: Ein Und-Oder-Typ. Geddit? Immer noch nicht?

Es ist ganz einfach: Es gibt die ‚berühmten‘ Fragen: Tee oder Kaffee? Meer oder Berge? Beatles oder Stones? Und derer viele mehr. Na, geht Dir so langsam ein Licht auf? Avete capito, wohin die Reise geht?

Was für ein Typ bist Du? Trinkst Du lieber Tee oder doch lieber Kaffee? Reist Du lieber ans Meer oder in die Berge? Magst Du lieber die Beatles oder doch eher die Rolling Stones?

Willi mit Helm in lila (Edelsteinminen Idar-Oberstein Juli 2019)
Willi mit Helm in lila (Edelsteinminen Idar-Oberstein Juli 2019)

Nein, ich will hier nicht in die Welt der Antonyme, der Gegensatzwörter, einsteigen, obwohl dazu natürlich viel zu schreiben wäre. Es geht hier (soviel darf doch geschrieben sein) um Antonyme im weiteren Sinne.

Was für ein Typ bist Du also? Bleiben wir bei der Frage nach Tee oder Kaffee? Der eine mag also lieber Tee als Kaffee oder umgekehrt. Manche mögen aber durchaus auch beide Getränke gern (Und-Oder-Typ). Da fällt mir natürlich gleich ein, dass ich etwas vergessen habe: die Weder-Noch-Typen, die also weder Tee noch Kaffee mögen, lieber Milch, Saft oder Wasser trinken.

O je! Wir Menschen sind schon seltsame Gebilde. Viele fragen nach dem Sinn des Lebens und stolpern schon über kleinste Kleinigkeiten wie eben diese: Was mag ich lieber? Und vor allem: Was mag meine Liebste/mein Liebster gern.

Ich weiß nicht, ob es viele dieser Deckungsgleichheiten in einer Partnerschaft geben muss, um ihr eine gewisse Dauer zu garantieren. Angeblich mögen sich Gegensätze anziehen, aber auf lange Sicht habe ich da doch meine Bedenken, was die Zeitspanne einer solchen Beziehung betrifft.

Zudem lässt es sich gut streiten, was denn nun besser (oder gesünder und/oder schöner und beglückender etc.) ist. Wie auch immer: Es ist gut, dass wir Menschen auch in solch kleinen Dingen unterschiedlich sind. Es wäre langweilig, wenn alle nur Kaffee mögen. Da käme dann aber ein Ostfriese um die Ecke (wie in der Werbung) und würde fragen: Und was ist mit Tee?!

Nein, so doch nicht … (13): In postideologischen Zeiten

    Wo man früher über Kapitalismus, Marxismus und die Qualität der Politiker stritt, geht es heute um Fleischkonsum und Vollkornrettung. Und wer meint, dass wir in postideologischen Zeiten leben, möge doch beim Elternabend vorschlagen, den Kindern beim Wandertag ein Wurstbrötchen, Vollmilchschokolade und eine Dose Cola mitzugeben, wie früher. Ebenso gut könnte man Heroin anpreisen.
    Nils Minkmar im ‚Spiegel‘

2016 wurde Minkmar mit dem Ben-Witter-Preis ausgezeichnet und geehrt als „lebenskluger Beobachter unserer kleinen Welt, der sich seinen freien Blick und sanften Spott bewahrt hat“.

Nein, so doch nicht ...
Nein, so doch nicht …

Wer ist schon frei von Ideologie? Auch wenn wir uns nicht mehr so sehr um das große Ganze streiten, so hat doch jeder sein spezielles Gedankengebäude errichtet – bei dem einen ist es eher klein, bei dem anderen eher etwas größer aufgestellt -, um gewissermaßen über die alltäglichen Runden zu kommen.

Und wenn mancher meint, die ‚große Ideologie‘ von vorgestern bemühen zu müssen, dann verbirgt sich dahinter doch ein kleinkariertes Denken, das eher Schaden anrichtet als Nutzen bringt.

So sind mir diejenigen doch lieber, Herr Minkmar, die ernährungstechnisch ins Ideologische reichende Vorstellungen haben, als solche, die Nation und Volk zu völkischem Chauvinismus verwandeln wollen.

Nein, so doch nicht … (12): Das Wörtchen ‚man‘

Kafkas Prozess beginnt damit („Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, …“), Goethe benutzte es in seinem Faust („Ich weiß, wie man den Geist des Volks versöhnt; …“). Es geht um Indefinitpronoma, also um unbestimmte Fürwörter, die sich leider nicht immer vermeiden lassen, besonders das Wörtchen ‚man‘. Die Frage, die ich hier erörtern will, ist, ob ‚man‘ frauenfeindlich ist, wenn man ‚man‘ benutzt.

In diesem Blog bemühe ich mich, das Wörtchen ‚man‘ tunlichst zu vermeiden. ‚Man‘ klingt wie Mann. Ist aber ‚man‘ mit Mann gleichzusetzen? Werden Frauen also diskriminiert, weil ’s immer nur ‚man‘ und nie ‚frau‘ heißt?

Das Wörtchen ‚man‘ ist wie jemand (siehe Kafka), alle, einer, manche, wer, etwas, einige, andere ein Indefinitpronomen, also unbestimmtes Fürwort. Pronomen treten „an die Stelle eines Nomens (Substantiv; deutsch Namenwort)“ und das Wörtchen ‚man‘ verwenden wir insbesondere dann, wenn wir etwas verallgemeinern, also nicht konkret von einer Person, Sache usw. sprechen. Und ‚man‘ taucht noch in vielen anderen Wörtern auf wie mancherlei – manchmal – mannigfach. Und gibt es da noch jedermann (Hugo von Hofmannsthal und Salzburg lassen grüßen).

Nein, so doch nicht ...
Nein, so doch nicht …: Das Wörtchen ‚man‘

Wie verhält es sich nun mit der ‚Männlichkeit? Was dafür spricht, ist das generische Maskulinum, die Benutzung der verallgemeinernden männlichen Form, z.B. Man hat sein Glück gemacht, wenn … Das Possessivpronomen (besitzanzeigende Fürwörter) ’sein‘ ist männlich (so wie: Er hat sein Glück gemacht!).

Nun habe ich aber zur Etymologie von ‚man‘ gelesen (pinkstinks.de bzw. frauensprache.com), dass ‚man‘ im ursprünglichen Altnordischen „Frau“ (engl. woman) bedeutet. Das Wort für „Mann“ war nicht ‚man‘, sondern ‚wer‘, aus der Sanskritwurzel vir, wie in wer-wulf, dem Wolfsmann. Und die englische Isle of Man war z.B. der Mondfrau geweiht, die auch als Seejungfrau daher kam. Im Europa des Altertums sei es Mana, die Mondmutter, gewesen, die die Menschen hervorbrachte. Dem widerspricht allerdings, was ich über den Namen der Isle of Man gelesen habe. Danach lehnt sich ‚Man‘ an das keltische Wort für Berg, könnte allerdings auch der Name eines Königs sein. Männlich oder weiblich? Mann oder Frau? Wer weiß es genau? Wie auch immer …

Der Duden sagt, dass die Herkunft mittelhochdeutsch, althochdeutsch sei und ‚man‘ eigentlich irgendeiner, jeder beliebige (Mensch!) meint. Oder an anderer Stelle: ‚man‘ meint irgend jemand, manche oder alle Menschen, formal sind Frauen mitgemeint, wenn MAN „man“ sagt:

Der Duden geht dann noch etwas mehr in die Tiefe und definiert ‚man‘ u.a. mit:

– jemand (sofern er in einer bestimmten Situation stellvertretend für jedermann genommen werden kann), z.B. … man nehme … (wie viele Kochbücher müssten umgeschrieben werden, wenn …)

– irgendjemand oder eine bestimmte Gruppe von Personen, z.B. … man vermutet … (es wird allgemein vermutet)

– du, ihr, Sie; er, sie (zum Ausdruck der Distanz, wenn jemand die direkte Anrede vermeiden will), z.B. … hat man sich gut erholt? …

Und im digitalen Grimm (Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm) finden MAN u.a.:

man, seit der mhd. zeit im gebrauche […], sagt ohne bezug auf ein bestimmtes subject im allgemeinen aus, was zugleich von mehreren gelten kann (gramm. 4, 220); bei dieser allgemeinheit ist eine mehrheit verstanden, man menschen, leute …

Wie gesagt: Das Wörtchen ‚man‘ verallgemeinert. Und deshalb versuche ich, es zu umgehen. Wer laufend ‚man‘ benutzt, bleibt im Unbestimmten. Wir wollen angesprochen werden (wir oder ihr statt ‚man‘).. Oder wir wollen, dass sich der Schreiber zu erkennen gibt (ich statt ‚man‘).

Auf jeden Fall finde ich die Verwendung von ‚frau/man‘ statt ‚man‘ für – na ja – unpassend. Ich bin durchaus für eine geschlechtergerechte Sprache. Aber mit diesem ‚frau/man‘ ginge der Schuss nach hinten los. Nein, so doch nicht …!

Zuletzt: Nun, ich komme aus norddeutschem Gefilde. Und da gibt es eine Eigenheit mit dem Wörtchen ‚man‘, das nur hier zu finden ist: ‚man‘ als Adverb (Umstandswort), norddeutsch umgangssprachlich für nur, mal, z.B.:

– lass man gut sein!
– na, denn man los!

Ja, richtig: Lass man gut sein, Willi!