Es ist nun, oh, Schreck, fast ein Jahr her, dass ich das 9. Kapitel des Ulysses von James Joyce abgehandelt habe. Hier nun endlich das 10. Kapitel des Jahrhundertromans:
Inhalt des 10. Kapitels:
Szene Straßen • Uhrzeit 15 Uhr
Im Kapitel „Irrfelsen“ weicht Joyce von seinem literarischen Leitfaden ab: Die „Irrfelsen“ (αἱ συμπληγάδες Symplegaden) werden in der Odyssee nur erwähnt und bilden keine eigene Episode. Odysseus vermeidet sie vielmehr, von Kirke gewarnt, und nimmt den Weg zwischen Skylla und Charybdis hindurch. Die Irrfelsen – kleine Inseln, die sich hin- und herbewegen und Schiffe, die zwischen ihnen hindurchzusteuern suchen, zu zerschmettern drohen – werden vielmehr sowohl von den Argonauten auf ihrer Fahrt als auch von Aeneas auf seinem Weg nach Italien durchquert.
In 19 Episoden werden Erlebnisse unterschiedlicher Bürger von Dublin erzählt, teilweise überschneiden und durchdringen sich diese Begebenheiten wie auch die Bewusstseinsströme der Protagonisten. „Irrfelsen“, bewegliche Felsen, rahmen das Kapitel ein: Zu Beginn sehen wir Father Conmee, stellvertretend für den „geistlichen Felsen“ Irlands, die katholische Kirche, der dem Sohn des verstorbenen Paddy Dignam einen Platz im Jesuitenkolleg von Artane sichern will. Er träumt von der Christianisierung der heidnischen Seelen Afrikas.
Da ist ein betrunkener Seemann, er grölt ein Lied wider England und ihm wirft Molly eine Münze aus dem Fenster zu; da sind die Schwestern Stephens, sie versuchen in Geldnot seine Bücher zu versetzen und holen ihren, dem Trunk ergebenen Vater aus dem Pub; und da ist Boylan, der für das Rendezvous um 16 Uhr vorab Molly einen Früchtekorb schickt; oder Stephen, er trifft seinen früheren Italienisch-Lehrer Artifoni und hat Gewissenbisse angesichts der armseligen Existenz seiner Schwestern; M’Coy und Lenehan verabreden sich im Ormond Hotel mit Boylan und reden über Lyons Wette; Bloom ist auf der Suche nach einem erotischen Buch für Molly; Martin Cunningham sammelt Geld für die Familie Dignam; Mulligan und Haines reden über Stephens beeindruckenden Intellekt, aber doch mangelnde künstlerische Begabung; und Dignams Sohn kann nur schwer Trauer über seinen toten Vater empfinden. Sie alle streift am Ende die Stadtfahrt der vizeköniglichen Kavalkade mit dem Repräsentanten Englands, der zur Eröffnung eines Basars fährt, als „weltlicher Felsen“ der Macht. Die Liffey – als Bosporus interpretierbar – trennt dabei Osten und Westen. Zwischen zwei „fremden“ Mächten (Kirche, Großbritannien) droht Irland wie zwischen den Irrfelsen aufgerieben zu werden und sich selbst zu verlieren.
Im Irrfelsen-Kapitel verlässt der Roman Bloom und Stephen Dedalus für eine Stunde; nur selten taucht Blooms schwarzer Anzug oder ein gebildeter Stephen-Gedanke im Gewirr der Bewusstseine auf. Das Kapitel widmet sich den anderen Bürgern Dublins und ihrem Alltag.
(Quellen: swr.de/swr2/hoerspiel & de.wikipedia.org)
Pater John Conmee © www.goodreads.com.
Personen des 10. Kapitels
Wie schon erwähnt, tauchen in diesem Kapitel die Hauptfiguren Leopold Bloom und Stephen Dedalus nur ganz am Rande auf. Eine der Protagonisten ist Pater Conmee (Pater “Don” John). Conmee war ein echter Jesuitenpriester , der Autoritätspositionen am Clongowes Wood College und am Belvedere College innehatte, als Joyce diese Institutionen besuchte (im Alter von 6–9 bzw. 11–16 Jahren). Conmee ist zwar höflich, freundlich und wohlmeinend, aber selbstgefällig in Bezug auf seine geistliche Autorität und scheinbar taub gegenüber menschlichem Leid. Die Erzählung beschreibt Conmee in einem leichten Ton, der zu seinem luftigen Spaziergang an einem schönen Sommertag passt, aber die bösen Ironien können durchaus als vernichtend bezeichnet werden. Darin bringt Joyce seine Feindseligkeit gegenüber der hierarchischen Autorität der katholischen Kirche zum Ausdruck.
Anmerkungen zu diesem 10. Kapitel
Auch zu diesem Kapitel hier einige Anmerkungen und Erklärungen, die vielleicht helfen, mehr Verständnis für den Text zu erlangen. Natürlich bin ich mir nicht sicher, immer ‚das Richtige‘ gefunden zu haben. Für Korrekturen und weitere Anregungen bin ich dankbar:
S. 305: Presbyterium [Priesterseminar]
Artane [Vorort von Dublin]
Vere dignum et iustum est … [In Wahrheit ist es würdig und recht, billig und heilsam, dir immer und überall dankzusagen – Liedertext]
M.P. [Member of Parliament]
S. 306: Cockney [Londoner Mundart]
S. 307: Christian Brothers [Orden mit Lehrauftrag]
S. 308: Katastrophe in New York [Feuer und Untergang des Raddampfers ‚General Slocum‘ am 15.06.1904]
S. 310: Mr. Eugene Stratton [ein in den USA geborener Tänzer und Sänger]
Peter Claver S.J. [Petrus C., spanischer Jesuit und Missionar 16./17. Jh.]
Le Nombre des Élus [Die Zahl der Auserwählten]
(D.V.) [Deo volente – Gottes Wille]
Lord Talbot [erblicher brit. Adelstitel für Irland]
S. 311: eiaculatio seminis inter vas naturale mulieris [Ejakulation von Samen in die Vagina der Frau]
Breiten [im S. von Reichhaltigkeit]
Moutonner [Schafs… gesprenkelt]
S. 312: Nonen [Non = 9. Stunde der Stundengebete]
Deus in adiutorium [Gott, merk auf meine Hilfe]
Res [Dinge]
Beati immaculati [Glücklich die Rechtschaffenen]
Principium verborum tuorum veritas: in eternum omnia iudicia iustitiae tuae [Gesegnet sind die Unbefleckten: Der Anfang deiner Worte ist Wahrheit: Alle Beweise deiner Gerechtigkeit sind ewig]
Sin: Principes persecuti sunt me gratis: et a verbis tuis formidavit cor meum [Denn ‚Prinzen‘ haben mich ohne Grund verfolgt und mein Herz war in Ehrfurcht vor deinem Wort]
S. 315: Skiff [kleines Segelboot]
… Elias kommt … [signalisiert die Wiederkehr des Erlösers]
S. 316: H.E.L.Y.‘S [5 Männer, die durch das Tragen von roten Buchstaben auf weißen Hüten für Hely’s Niederlassungsfreiheit werben – vgl. S. 150: Wisdom Hely, Reisender in Löschpapier]
Fuppe [Tasche, die man an sich trägt]
S. 317: Goldsmith [irischer Schriftsteller]
Anch’io ho avuto di queste idee, … quand‘ ero giovine come Lei. Eppoi mi sono convinto che il mondo è una bestia. È peccato. Perchè la sua voce… sarebbe un cespite di rendita, via. Invece, Lei si sacrifica [Auch ich hatte diese Ideen, als ich jung war wie du. Und dann bin ich davon überzeugt, dass die Welt ein Tier ist. Es ist schade. Denn seine Stimme … wäre eine Annuität (Tilgungsrechnung mit Zinsen), los. Stattdessen opferst du dich selbst]
Sacrifizio incruento. … [Unblutiges Opfer]
Speriamo. … Ma, dia retta a me. Ci rifletta [Lass uns hoffen. Aber hör mir zu. Denk darüber nach]
moustachiert [schnurbärtig]
Grattan [irischer Politiker]
S. 318: Inchicore [Stadtteil von Dublin]
Ci rifletteró [Ich denke drüber nach]
Ma, sul serio, eh? [Aber im Ernst, oder?]
Eccolo [Da ist er]
Venga a trovarmi e ci pensi. Addio, caro. … Arrivederla, maestro. E grazie. … Di che? Scusi, eh? Tante belle cose! [Kommen Sie zu mir und denken Sie darüber nach. Auf Wiedersehen, mein Lieber. – Kommen Sie an, Meister. Und danke. – Wie wäre es mit? Entschuldigung, hm? Viele schöne Dinge!]
S. 319: Marie Kendall [brit. Schauspielerin]
Susy Nagle [Dubliner Persönlichkeit]
Im Ormond [Hotel]
Zwei rosa Gesichter … [John Conmee ist eine der Personen]
S. 320: Kildares [10. Earl – Aufstand gegen England]
S. 321: Earl of Kildare [anglo-irische Lords]
S. 322: Nisi-Prius-Gericht [rechtl. Begriff: „Es sei denn, bevor …“]
S. 327: Furchtbare Enthüllungen von Maria Monk [Buch über den Missbrauch von Nonnen in Montreal – gilt als Schwindel]
S. 328: Déshabillé [Haus- und Morgenkleid]
S. 329: Exparte-Antrag [‚im Auftrag von …‘]
S. 332: Pulbrook Robertson [& Co. – Firma für Tee]
Pimlico [Stadtteil in London]
Explosion auf der General Slocum [siehe oben zu S. 308]
S. 334: Emmet [Anführer einer Rebellion gegen England]
Dublin Distillers Company [D.W.D. – irischer Whiskey]
S. 336: Hanken [Oberschenkel (eines Pferdes)]
Antisthenes [griech. Philosoph, Schüler Sokrates‘]
S. 337: Curé [Pfarrer]
Alumno optimo, palmam ferenti [bester Schüler, Preisträger]
Se el yilo nabrakada femininum! Amor me solo! Sanktus! [Kleiner Himmel gesegneter Weiblichkeit! Liebe nur mich! Heilig!]
Mummelpotts Joachim [J. on Fiore: Buch der Weissagungen]
S. 340: Bailiff [Verwalter]
Lobengula [afrikanischer König 19. Jh., imposante Gestalt]
Lynchehaun [James L., Krimineller]
S. 341: … er soll sich mit seinem Schrieb die Flöte wischen … [i.O.: that writ where Jacko put the nuts …]
S. 342: … der Jude liebreich ist … [Shakespeare: Kaufmann von Venedig]
S. 343: Henry Clay [Zigarre]
Herren patres conscripti [i.S. von Senatoren / Väter/Beigeordnete]
Llandudno [Badeort in Wales]
Locum tenes [Art Stellvertreter]
S. 345: Panama [Hut]
schuckert [(er-)zittern]
Aengus [irische Sagengestalt]
S. 347: Coactus volui [Ich wollte gezwungen werden]
S. 348: Pucker [eigentl. Falten, hier wohl: Boxer]
Myler Keogh [Boxkämpfer]
S. 351: G.C.V.O. [Grand Cross oft he Royal Victorian Order – Ritter]
S. 352: dernier cri [allerletzte Neuheit – letzter Schrei]
S. 353: cortège [Gefolge, Prozession]
In deutscher Sprache gibt es zwei Übersetzungen, zunächst die vom Verfasser, also James Joyce, autorisierte Übersetzung von Georg Goyert (1927) – dann die 1975 erschienene Neuübersetzung von Hans Wollschläger, auf die ich mich hier beziehe (ich habe die einmalige Sonderausgabe aus dem Jahr 1979 – 1. Auflage – Suhrkamp Verlag)
siehe auch: Abenteuer Ulysses von James Joyce (01): Vorgeplänkel
Abenteuer Ulysses von James Joyce (02): 1. Kapitel – Telemachos [Telemachie]
Abenteuer Ulysses von James Joyce (03): 2. Kapitel – Nestor [Telemachie]
Abenteuer Ulysses von James Joyce (04): 3. Kapitel – Proteus [Telemachie]
Abenteuer Ulysses von James Joyce (05): 4. Kapitel – Kalypso [Odyssee]
Abenteuer Ulysses von James Joyce (06): 5. Kapitel – Lotophagen [Odyssee]
Abenteuer Ulysses von James Joyce (07): 6. Kapitel – Hades [Odyssee]
Abenteuer Ulysses von James Joyce (08): 7. Kapitel – Äolus [Odyssee]
Abenteuer Ulysses von James Joyce (09): 8. Kapitel – Lästrygonen [Odyssee]
Abenteuer Ulysses von James Joyce (10): 9. Kapitel – Scylla & Charybdis [Odyssee]