Kategorie-Archiv: Wiedergelesen

Wiedergelesen – wiederentdeckte Literatur

Vergessene Stücke (16): Peter Weiss: Der neue Prozeß

    Leni: Die Firma brauchte jemanden in der Leitung, den kein Argwohn treffen konnte, auf dessen Redlichkeit man sich bei allen Vorstößen, allen Abschlüssen berufen konnte. Sie brauchen nur genannt zu werden, und das ganze Unternehmen ist die Wahrheit selbst.
    K: Auch wenn ich nicht mehr daran glaube, noch etwas tun zu können –
    Leni: Ihre Unschuld paßt auf alles, was – ohne Ihr Wissen – vorgenommen wurde.
    K: So ein Geringer wie ich –
    Leni: So ein Geringer kann der Macht ihr Gesicht geben.
    K: Ohne auf sie einzuwirken?
    Leni: Ohne auf sie einzuwirken.

Gestern hatte ich mich mit Peter Weiss‘ Roman Die Ästhetik des Widerstands, in dem er sich auch mit Kafkas fragmentarischen Roman Das Schloss (dazu später etwas mehr), beschäftigt. Heute nun noch einmal Peter Weiss – und Franz Kafka: Der Prozess

Josef K. wird befördert. In rasantem Tempo steigt er auf. Eben noch hatte er sich in seine Position als Prokurist in der Versicherungsabteilung eingewöhnt und sich in seinem Büro eingerichtet, da befördert man ihn in die Hauptverwaltung des Konzerns. Von dort geht es blitzschnell weiter in die Direktion. Herr K. weiß bald nicht mehr, wo ihm der Kopf steht. Vor allem aber weiß er nicht, warum man ihn in das so verantwortungsvolle Amt des Direktors eingesetzt hat. Die einzige Konstante in seinem Leben bildet bald nur noch sein Zimmer in der alten Pension, und seine heimliche Liebe zu Frau Bürstner. Auch die hat einen steilen Aufstieg hinter sich und ist ebenfalls zur Direktorin berufen worden. Aber anders als K. ist sie sich ihrer Aufgabe bewußt. Die Machtansprüche des riesigen Konzerns weiten sich immer weiter aus, bis er sogar auf der Regierungsebene alle Fäden in der Hand hält und über Krieg und Frieden entscheiden kann. Das Personal des Konzerns scheint dabei beliebig ausgetauscht zu werden, ganz nach den Fähigkeiten und der Kompromißlosigkeit des Ange­stellten. Einzig und allein Herr K. scheint unverzichtbar. Und bevor selbst er unter die Räder des Kapitalismus kommt, erfährt er auch den Grund: Er gibt der Firma sein Gesicht, das nach jahrelangem geflissentlichen Arbeiten zu einem Aushängeschild der Moral geworden ist. (Quelle: suhrkamptheater.de)

Das Stück Der neue Prozeß – Stück in drei Akten – Franz Kafka gewidmet – habe ich als Taschenbuch (1. Auflage 1984 – edition suhrkamp 1215 – Neue Folge Band 215) vorliegen.

Peter Weiss 1982
Peter Weiss 1982

Während der Arbeit am ersten Band der Ästhetik des Widerstands dramatisierte Peter Weiss Kafkas Prozeß. Unmittelbar nach dem Abschluß der Roman-Trilogie, im Jahr 1981, begann er ein Stück zu schreiben, Der neue Prozeß, sein letztes Werk. Er inszenierte es zusammen mit Gunilla Palmstierna-Weiss am 12. März 1982 in Stockholm [Rolle des Josef K.: Stellan Skarsgård – genau der! – deutschsprachige Erstaufführung: Freie Volksbühne, Berlin, 25. März 1983 (Regie: Roberto Ciulli)]. Josef K. ist der „Held“ auch dieses Stückes – aber die Welt des Neuen Prozesses ist nicht mehr diejenige Kafkas, sondern die Gegenwart. Josef K. wird nicht eines Morgens verhaftet, „ohne daß er etwas Böses getan“ hätte, Josef K. ist Prokurist in einem großen Konzern. Wegen seiner Kenntnis der jeweils aktuellen politischen und ideologischen Strömungen, seiner Verantwortungsbereitschaft, seinem Eingehen auf die Nöte der Menschen ist sein Aufstieg, der Aufstieg des Intellektuellen zum Direktor des Konzerns, unumgänglich. Und auch dort, wo der multinationale Konzern die Konkurrenz auf dem Weltmarkt ausschaltet, verfügt K. über die große Menschheitspersepektive: „Wenn es keine Konkurrenz mehr gibt, ist auch der Eigennutz behoben. Dann dienen wir nur noch dem Allgemeinwohl.“ Für die Militärs und Minister ist er unersetzlich. Der neue Prozeß, den die Mächtigen dem Direktor K. machen, besteht gerade darin, daß er „ohne etwas Böses getan zu haben“, der Macht ihr Gesicht gegeben hat. (aus dem Klppentext)

siehe auch: Vergessene Stücke (13): Peter Weiss: Marat/Sade

Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands

Die dreibändige Ausgabe des Romans Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss habe ich in einem Band (1. Auflage 1988 – edition suhrkamp 1501) als Taschenbuch vorliegen und es in diesem Sommer zum 2. Mal gelesen. Die drei Bände umfassen über 940 Seiten und sind in zehnjähriger Arbeit zwischen 1971 und 1981 entstand. Das Werk stellt den Versuch dar, die historischen und gesellschaftlichen Erfahrungen und die ästhetischen und politischen Erkenntnisse der Arbeiterbewegung in den Jahren des Widerstands gegen den Faschismus zum Leben zu erwecken und weiterzugeben. Zentral ist der Gedanke der zu erreichenden Einheit: zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten wie zwischen der künstlerischen Moderne und der Arbeiterbewegung. Aufgrund seines besonderen formalen Aufbaus ist Die Ästhetik des Widerstands auch als Roman-Essay bezeichnet worden. (Quelle u.a. Wikipedia.org)

Peter Weiss 1982
Peter Weiss 1982

Das erst kurz vor dem Tod des Autors abgeschlossene Werk zeichnet ein umfassendes Bild der faschistischen Epoche in Europa aus der Sicht des antifaschistischen Widerstands und könnte als eine eigenständige Geschichtsinterpretation gedeutet werden, die eine Sicht aufzeigt, die die allgemeine Geschichtsschreibung zu gern unterdrückt sähe. Von daher kam auch die Kritik, die dem Roman eine gewisse Einseitigkeit vorwarf.

Ich will hier nicht in die Tiefe gehen, aber anhand von Stichworten einen Einblick in dieses Werk vornehmen:

Erster Band
Bergamon-Fries (erste Sicht einer Ästhetik des Widerstands aus der Antike – der Aufstand der Niederen gegen die gottgleichen Herrschenden – siehe Kunstwerke in der „Ästhetik des Widerstands“)
– Nazi-Herrschaft
Spanischer Bürgerkrieg
Sagrada Familia (Gaudí)
Guernica (Picasso)
Kafkas Das Schloss (S. 171 ff).

Zweiter Band
– Paris
GéricautsMedusa
– Montmartre
Spiegelgasse, Zürich (Lenin & Co.)
-Stockholm
– u.a. Ossietzkys Tod
Bert Brecht
Margareta, u.a. Königin von Schweden, 14. Jh.
Engelbrekt, Freiheitskämpfer, 15. Jh.

Dritter Band
– Stockholm
Karin Boye: Kallocain
BayonAngkor Wat, Kambodscha
Angkor Thom
Dürers Melencolia (S. 132)
– Hinrichtungen Plötzensee (S. 210)

… denn die Offenheit, die uns zu eigen war und die unsre Selbstandigkeit begründete, sollte aufgerieben werden, und wie viele schon auf der Strecke geblieben waren, so zerstört, daß sie die Verunstaltungen, denen sie anheimfielen, nicht einmal mehr erkannten, das hatte mit großer Detailschärfe einer geschrieben, dessen Werk, Das Schloß, ich in der Buchhandlung am Marktplatz fand. (S. 171)

Peter Weiss setzt sich mit Kafkas ‚Erzählung vom Landvermesser‘ (S. 175) detailiert auseinander und kommt zu dem Ergebnis: ‚Was Kafka geschrieben hatte, war ein Proletarierroman.‘ (S. 179)

Der Roman Die Ästhetik des Widerstands ist, seit dem Erscheinen des dritten Bandes im Jahre 1981, zu einem Kultbuch geworden. Peter Weiss gelingt nämich eine erzählerische Synthese der politischen und ästhetischen Strömungen des 20. Jahrhunderts: er entfaltet eine Ästhetik, die Widerstand gegen jede Art der Unterdrückung ist, und zugleich dem Widerstand eine Ästhetik einschreibt, die ihn vor jeder Dogmatik bewahrt. Was erzählt dieser Roman? Sein erstes Buch berichtet von einigen Freunden, jungen Arbeitern, die im September 1937 in Berlin ihren Standort umreißen. Unter ihnen befindet sich der Erzähler. Über die Tschechoslowakei, wo seine Eltern ansässig sind, gelangt er nach Spanien und nimmt teil am bewaffneten Widerstand, bis zum September 1938, dem Zusammenbruch der Republik. Er geht nach Paris. Die letzten Bemühungen um die Bildung einer Volksfront, einer Einheitsfront der beiden zerschlagenen deutschen Arbeiterparteien, verfolgt er hier. Es ergibt sich die Gelegenheit, nach Stockholm zu reisen. Geschildert wird im zweiten Buch die Vielschichtigkeit der Erlebnisse dort, bei den Gängen durch die Stadt, in der Zerzinnungsabteilung der Fabrik, bei der Anstrengung, Zugang zu künstlerischen Ausdrucksmitteln zu finden. In den ersten beiden Bänden der Ästhetik des Widerstands wurde die Auseinandersetzung mit Werken der Kunst geführt; im abschließenden Teil der Trilogie stehen die Schicksale der Menschen im Vordergrund. Der Autor verfolgt ihre Wege: Endstation für viele von ihnen sind die Hinrichtungsstätten des „Dritten Reichs“. Dennoch bleibt der Widerstand ihr Vermächtnis. (aus dem Klappentext).

„Wir sagten: Ulysses – und das nicht allein, um den Rang der Weiss’schen Epopöe zu bezeichnen, sondern weil wir glauben, daß es sich bei der Ästhetik des Widerstands um einen ebenso listigen wie gelungenen Gegen-Entwurf zum Joyceschen Kompendium handelt – Herakles tritt auf den Plan und fordert Odysseus in die Schranken der Poesie!“ Walter Jens

Stanisław Lem: Die vollkommene Leere

Mitte September vor 100 Jahren, genauer am 12. September 1921, wurde der polnische Philosoph, Essayist und Science-Fiction-Autor Stanisław Lem geboren. Besonders durch seine ‚Zukunfts‘-Romane (z.B. Solaris und Golem XIV) ist er auch bei uns bekannt geworden. Lem gilt als brillanter Visionär und Utopist, der zahlreiche komplexe Technologien Jahrzehnte vor ihrer tatsächlichen Entwicklung erdachte.

Stanisław Lem 1966
Stanisław Lem 1966 (Quelle: wikipedia.org)

Ich selbst bin kein so großer Fan von Science Fiction. Viele Romane und Filme (ich denke da z.B. an Star Wars, Star Trek, alle die Superman und Superwoman-Filme) sind mehr oder weniger Märchen für Jugendliche und Erwachsene. Und so habe ich von Lem auch nur ein Buch in meiner Bibliothek, das keine Science-Fiction im herkömmlichen Sinne enthält: Die vollkommene Leere (suhrkamp taschenbuch st 707 – 1. Auflage 1981)

Das Buch enthält Rezensionen über nicht existierende Bücher. Als Erklärung schreibt Lem, dass der Autor Einfälle hatte, die er nicht in vollem Umfang zu realisieren vermochte; er konnte sie nicht niederschreiben … Es sind also Rezensionen über Bücher, die er selbst gern geschrieben hätte. Das ist übrigens nicht allein Lems Erfindung; nicht nur bei einem neuzeitlichen Schriftsteller – J.L. Borges – findet man derartige Versuche (z.B. Als „Besprechung des Werks von Herbert Quaine“ in dem Band „Labyrinthe“) […] auch Rabelais (Gargantua und Pantagruel) war nicht der erste … (S. 7)

Nun in der ersten Rezension schreibt Lem über ein Buch, dass diesem Buch den Namen gab: Stanisław Lem: Die vollkommene Leere – und schreibt am Ende: … Behauptung, nicht ich, der Kritiker, sondern er selbst, der Autor, hätte die vorliegende Rezension geschrieben … (S. 12) – und schafft so eine Art gedankliches Perpetuum mobile

Lem schafft Gedankenspiele der außerngewöhnlichen Art. In Les Robinsonades per Marcel Coscat schreibt er über Robinson Crusoes gesellschaftliches Leben, das es bekanntlich auf der einsamen Insel nicht gab. Er nennt es u.a. Soziologie der Einsamkeit oder eine Massenkultur einer menschenleere Insel. Höchst amüsant, wie ich finde.

In Patrick Hannahan – Gigamesh steht das Gilgamesch-Epos Pate (nur ohne den Buchstaben L) und wird in die Neuzeit ‚übersetzt‘. Hier wird „Gilgamesh“ zu einem G.I. J. Maesch mit einer „Vielfalt der Bezüge, die aus einem einzigen Wort entspringen, aus dem Titel nämlich.“ (S. 36)

Zu Simon Merril – Sexplosion nur ein Zitat: „… die […] Industrie der USA hatte die Stellungskünste des Ostens und des Westens verschlungen, aus den Fesseln des Mittelalters Gürtel der Untugend gemacht, die Kunst für die Projektierung von Beischlafstellungen, Seyarien, Magnopenissen, Megaklitoriden, Vaginetten und Pornotheken eingespannt, hatte sterilisierte Förderbänder in Betrieb genommen, von den Sadomobile, Kohabitatoren, Heimsodamäler und öffentlcihe Gomorkaden rollten, […] um den Kampf für die Befreiung des Geschlechts vom Dienst der Arterhaltung aufzunehmen.“ (S. 49) – Allerdings wird am Ende die Stellung, die der Sex eingenommen hatte, nun durch das Essen ersetzt.

In Alfred Zellermann – Gruppenführer Louis XVI. (Suhrkampf Verlag) versucht ein ehemaliger Gruppenführer der SS zusammen mit seinen ehemaligen Kameraden einen unabhängigen Staat zu bilden. Schauplatz der Handlung ist Argentinien im ersten Jahrzehnt nach dem Ende des Weltkrieges. Die Hauptstadt heißt „Parisia“ und befindet sich in einer Gegend, die mehrere hundert Meilen von den letzten Vorposten der Zivilisation entfernt liegt. Der SS-Gruppenführer Siegfried Taudlitz sieht sich als Reinkarnation Ludwigs XVI.

In diesem Stile geht es weiter (siehe Die vollkommene Leere bei wikipedia.org). In Arthur Dobb: Non serviam erzeugen Wissenschaftler im Computer Welten aus mathematischen Axiomen, in denen sich dann Personoiden entwickeln. Der Programmierer spielt Gott.

Zuletzt in Alfred Testa: Die neue Kosmogonie wird die Rede eines Professors anlässlich der Verleihung des Nobelpreises widergegeben. U.a.spekuliert der Redner, dass die Naturgesetze nicht unveränderlich sind, sondern durch uns überlegene Intelligenzen in einer Art Spiel umgeformt werden und darüber, was die Gründe für bestimmte momentane Naturgesetze sein könnten und ob sich mit den Naturgesetzen auch die Mathematik verändern könnte.

Aus dem Klappentext: In dem Maße, in dem Lem seine spiegelfechtenden Rezensionen und ausgedachten Autoren den Wirklichkeitsverlust von Denken und Sprache feststellen läßt, verdichten sich brillante literarische Parodie und ironische Berechnung wissenschaftlicher Aussagen zu einem rein literarischen hermetischen Gebilde – letztmögliche, hochartifizielle Reaktion eines utopischen Genres auf die fragwürdige Authentizität technologisch inspirierter Zukunftsvisionen. (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

Wer sich auf das Buch einlässt, dass ohne Zweifel einen hohen Anspruch an den Leser stellt, wird sich eines außergewöhnlichen Lesegenusses erfreuen. Den Namen J.L. Borges habe ich oben erwähnt. Beide spielen mit ihren phantastischen Gedankenspielen in einer Liga.

Der Mensch erscheint im Holozän – ein Visual Poem nach Max Frisch

Wie der Zufall es so will, sendet 3SAT im Rahmen des Berliner Theatertreffens 2020 das Visual Poem nach Max Frischs Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän in einer Aufführung des Schauspielhauses Zürich. Zufall deshalb, weil ich mich in den letzten Tagen mit Theaterstücken von Max Frisch beschäftigt und in diesem Jahr auch weitere Werke von ihm (erneut) gelesen habe (dazu später mehr).

Max Frisch: Der Mensch erscheint im Holozän - 1. Auflage
Max Frisch: Der Mensch erscheint im Holozän – 1. Auflage

Alexander Giesche legt mit „Der Mensch erscheint im Holozän“ (verfügbar auf 3SAT bis 12.03.2021) am Schauspielhaus Zürich die erste große Inszenierung zum Thema Klimawandel vor. Er erhielt dafür im Rahmen des Berliner Theatertreffens 2020 den 3sat-Preis.

Schauspielhaus Zürich 2020: Der Mensch erscheint im Holozän – nach Erzählung von Max Frisch
Schauspielhaus Zürich 2020: Der Mensch erscheint im Holozän – nach Erzählung von Max Frisch

„Der Mensch erscheint im Holozän“ von Max Frisch ist eine Erzählung über das Vergessen und Vergehen. Mit dem Verlust des Gedächtnisses verschwindet auch der Mensch, verliert sich und die Kontrolle über das eigene Leben.

Ein Gefühl der Heimat bleibt, die vertraute Umgebung, die Natur, die Berge, der Schnee, wie das Licht ins Tal fällt zu verschiedenen Jahreszeiten. In einem durch ein Unwetter von der Außenwelt abgeschlossenen Bergdorf kämpft Herr Geiser gegen den fortschreitenden Verlust seines Gedächtnisses. Mit Hilfe kleiner Zettel, die er in seinem Haus verteilt, baut er sich eine Wissensdatenbank auf. Die Isolation macht Herrn Geisers zurückgezogenes Leben noch einsamer. Hinzu kommt die Sorge, dass durch den andauernden Regen der ganze Berg ins Rutschen geraten könnte.
Die Erzählung des Schweizer Autors Max Frisch erscheint 1979. Ein lange verkanntes Spätwerk. Der Regisseur Alexander Giesche nimmt den Text als Ausgangspunkt für seine Inszenierung am Schauspielhaus Zürich, die ganz um die Trias Mensch, Natur, Technik kreist. Er folgt dabei nur lose der Erzählung, sie ist vielmehr Stichwortgeber für immer neue Bilder, die dem Verlust, dem Vergessen, dem Abschied eine Form geben.

Eine Schauspielerin und ein Schauspieler berichten fragmentarisch über Herrn Geisers Zustand und den des Tals, mal aus seiner Perspektive, mal als Beobachter. Alexander Giesche nennt seine Werke Visual Poems. Die Inszenierung besteht aus klar voneinander abgegrenzten Bildern. Er lässt Krankenhausbetten und elektrische Rollstühle tanzen, zaubert Hologramme auf die Bühne und lässt einen erstaunlich realistischen Dinosaurier auftreten. Die verschiedenen Elemente und theatralen Mittel stehen dabei gleichberechtigt nebeneinander, sind alle Teil seines Gedichts.

Ein Abend, der scheinbar die Schönheit des Untergangs besingt. Auch die Menschheit wird einmal Geschichte sein oder wie Max Frisch es formuliert hat, „Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt; die Natur kennt keine Katastrophen.“ Aber Alexander Giesche schafft es aus diesem Fatalismus einen Hoffnungsschimmer, ein Gefühl der Wärme herauszuschälen. Das Verhältnis Mensch – Natur bleibt ein angespanntes. Unser schädlicher Einfluss auf den Planeten zeigt sich jeden Tag deutlicher.

Im Anschluss an diese Inszenierung ist Max Frisch mit seiner Dankesrede Die Schweiz als Heimat zur Verleihung des Schillerpreises am 12.01.1974 zu sehen. Hier setzt sich Frisch ebenso eloquent wie kritisch mit der eigenen Herkunft auseinander. Die Rede ist heute so aktuell wie eh und je.

Russische Wochen (5) – Vladimir Kazakov: Unterbrechen Sie mich nicht, ich schweige!

Als ich mir das Buch vor vielen Jahren kaufte (1994 – denke ich), hatte es mir der absurde Titel angetan. Beim Lesen der sämtlichen Dramen von Vladimir Kazakov (in deutscher Transkription: Wladimir Kasakow) war ich zunächst etwas enttäuscht. Aber von Drama zu Drama – und es handelt sich um Minidramen von manchmal nicht einmal zehn Seiten Länge – fand ich zunehmend Gefallen an diesem Buch unter dem Titel Unterbrechen Sie mich nicht, ich schweige! -– Edition Akzente Hanser 1990, München Wien – aus dem Russischen von Peter Urban.

Mit Vladimir Kazakov betritt ein Schriftsteller die Bühne (der Literatur), der das genaue Gegenteil zu dem ist, was wir uns unter einem russischen Autor vorstellen: seine komischen Lese-Stücke und verspielten Scharaden sind kleine Meisterwerke eines metaphysischen Lachtheaters, auf dem die großen Gesten respektlos unterbrochen, die pathetischen Weltentwürfe genüßlich zertrümmert werden. Eine Mischung aus Karl Valentin und Daniil Charms.
Vladimir Kazakovs verrückte Meisterstücke eines metaphysischen Lachtheaters haben den großen Vorteil, daß sie nur drei Minuten dauern und in jedem Kopf mühelos aufzuführen sind. Wer es nicht glaubt, muß selbst dran glauben.
(aus dem Klappentext)

Nun die Dramen sind nicht nur zur Aufführung für den Kopf gemacht, sondern wurden 1993 im Mousonturm Frankfurt und in der Kampnagel Fabrik Hamburg, Regie: Birgitta Linde – mit Ulrich Cyran – auch auf die Bühne gestellt.

Viel ist es nicht, was ich über den Autor finden konnte. Vladimir Kazakov wurde am 29.08.1938 in Moskau geboren und verstarb dort am 23.06.1988. Er trat 1972 der russisch-orthodoxen Kirche bei. Als Schriftsteller stand er in der Tradition des Futurismus, schrieb surrealistisch-absurde Kurzprosa und »Szenen«, die in der Sowjetunion bis 1989 nicht veröffentlicht werden konnten.

Vladimir Kazakov: Unterbrechen Sie mich nicht, ich schweige! - Sämtliche Dramen
Vladimir Kazakov: Unterbrechen Sie mich nicht, ich schweige! – Sämtliche Dramen

Diese Welt ist merkwürdig streng, gläsern, scharf, kalt. Stein, Eisen und Glas sind die Materialien, aus denen sie hauptsächlich besteht, zu ihrem Inventar gehören – den Menschen gleichgestellt und gleichberechtigt: die steinernen Wände, Hausmauern, Hausdächer, Fenster, der Spiegel, die Uhr. Vermessen werden die Beziehungen, Brechungen, Winkel, Schwingungen, die zwischen diesen Gegenständen entstehen – durch die Luft, durch das Licht und vor allem durch die Zeit, eine Zeit allerdings, die nicht identisch ist mit derjenigen, die die Uhr anzeigt, Zeit, die von Uhren, in Sekunden und Minuten gar nicht meßbar erscheint, eine Zeit, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einer beherrschenden Gleichzeitigkeit verschmelzen.
In dieser Gleichzeitigkeit agieren Menschen oder Personen, die wie surreale Puppen oder gar körperlos sich bewegen, sie erscheinen wie Gespenster, verschwinden wie Gespenster und offen bleibt letztlich, ob es sich bei diesen Kunstfiguren um Menschen handelt, die nicht nur eine Stimme, sondern auch einen realen Körper besitzen, oder um Geister, Erscheinungen, Spiegelungen, Stimme gewordene Erinnerungen, die, in der Stille der Kazakovschen Welt, mehr schweigen als reden.

[…]
In Kazakovs Dialog sind die Regeln und Verbindlichkeiten des allgemeinen Sprachgebrauchs aufgehoben. Kazakovs Personen sehen und hören das Wort jedesmal neu, sie erfahren die Wörter gleichsam staunend, als hörten und sagten sie sie immer wieder zum ersten Mal. Sie sind fähig, sich am Wort „Messer“ die Zunge zu verletzen, fähig, sich am Wort „Glas“ zu schneiden, sie empfinden die scharfe Spitze des Sekundenzeigers als ständige Bedrohung, das Wort „Sekunde“ ist für sie ein Stich, ist für sie – seinen sie nun körperlos oder reale Menschen – physische Wahrnehmung, Schmerz.
(aus dem Nachwort von Peter Urban)

Ich bin ein Freund des Surrealen, des Absurden. Was den meisten als grober Un-Sinn erscheint, hat aber unter seiner rauen Schale oft mehr Sinn als manches, was uns als Sinnvolles verkauft wird. Und wenn es dann doch total absurd ist, dann bringt es uns wenigstens zum Lachen. Das hat dann auch viel Sinn!

Ich habe mir einige Textpassagen im dem Buch unterstrichen, weil diese mir besonders gut gefallen oder ich sie auf bestimmte Weise bemerkenswert finde. Da das Buch leider nicht mehr verfügbar ist (außer im Antiquariat), hier einige dieser Sprüche, um sie gewissermaßen „der Nachwelt“ zu erhalten:

Gibts das andre, gibt es auch das eine.

Ich habe noch 183 Wörter zu leben.
Oder 5 Küsse.

Ich gehe über die Straße und sehe plötzlich, daß ich vergessen habe, aus dem Haus zu gehen.

Man sollte meinen, alles sei bereits gesagt. Aber es gibt auch vieles Nichtgesagte. Also schweigen wir.

Aber das ist ein schlechtes Thema zum Schweigen.

Ob Schlinge oder Schlips ist unwichtig. Auf den Hals kommt es an.

Dieser Himmel ist sehr unbeständig, stellen wir uns unter einen anderen.

Ich erinnere mich nicht, wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt.

Ich rührte mich nicht, aus Angst, meinen Mut zu erschrecken.

Eine Minute besteht aus 60 Fragezeichen …

Das ist das Schicksal aller Unglücklichen – begraben zu werden zusammen mit dem eigenen Glück.

Unter zwei Übeln wähle ich das mittlere.


Meine Liebe ist wie das erste Eis des Winters, noch nicht fest genug.

Robert Walser: Mädchen

Es war im Jahr 1978, also vor nun 42 Jahren – ich war im noch zarten Alter von 24 Jahren -, da gönnte ich mir als Werkausgabe Edition suhrkamp (ja, die mit dem Reihendesign in Spektralfarben) das Gesamtwerk in 12 Bänden von Robert Walser (erste Auflage zum 100. Geburtstag). Irgendwie muss ich über Hermann Hesse auf Walser gestoßen sein. Aber gleich das Gesamtwerk?

    Robert Walser (1878 - 1956)
    Robert Walser (1878 – 1956)

Nun, es war nicht nur Hesse, der sich für Robert Walser einsetzte. Walser hatte auch einen zumindest heute prominenten Leser: „Wenige seiner Leser von 1909 dürften so klar und sicher wie Kafka in einem Brief geurteilt haben: ‚Ein gutes Buch.‘ (Auch Max Brod hat bezeugt, ‚Jakob von Gunten‘ [ein Roman von Robert Walser] sei ein Lieblingsbuch seines Freundes gewesen.)
aus dem Nachwort zu Jakob von Gunten – ein Tagebuch (1909)

Nun, um es vorweg zu nehmen: Die Investition hat sich gelohnt. Robert Walser fällt dermaßen aus dem Rahmen, den die Schriftsteller um die Zeit 1900 bis 1935 gebildet haben, dass es mich eigentlich wundert, Walser auch heute noch im Olymp deutschsprachiger Dichter zu wähnen.

Aber komme ich endlich zur Sache. Hier ein Gedicht von ihm, das im März 1927 im „Prager Tagblatt“ erstmals erschien. Max Brod war Mitarbeiter der Zeitung und hat Walser dadurch unterstützt, dass er von seinem Werk vieles veröffentlichen ließ (so schließt sich dann auch der Kreis Walser-Brod-Kafka):

    Das eine dieser beiden Mädchen
    sieht zierlich aus wie ein Salätchen
    von duftenden und zarten Blättchen
    und hat die schönstgeformten Wädchen
    und schaut zum Fenster still hinaus
    ins morgendliche Landschaftshaus.
    Des andern Mädchens Haar ist kraus
    wie ein zerzauster Blumenstrauß.
    Unangefochten steht die eine
    als Ungezwungene und Reine
    auf ausgesprochen feinem Beine,
    im Mieder vor dem Sonnenscheine.
    Die andre küßt und flüstert: „Du!“
    Besinnung schließt sich ganz ihr zu,
    sie zittert, knistert, lodern, puh,
    von Leidenschaft bis in die Schuh`
    und kennt im Herzen keine Ruh‘.
    Die erste weiß nichts von Genüssen,
    wofür noch jed` hat büßen müssen,
    sie gleicht mit jedem Atemzug
    dem wonnenangefüllten Krug.
    Die zweite ist von sündigfrommen,
    lüsternen Flammen eingenommen,
    von Ungenügsamkeit umglommen,
    und hat sie nicht mehr wegbekommen.
    Wie fröhlich, selig ist ein Leben,
    das heiter uns aus uns kann heben.
    Das ist`s ja eben, daß wir kleben
    am Körpers Nöten, statt zu schweben
    in unherabgezognem Streben,
    wie Reben, die im Trieb, zu geben,
    sich wohlbefinden an den Stäben.

Zu seiner Zeit wurde Walser Geschwätzigkeit vorgeworfen (bezog sich vor allem auf seine Romane). So ganz kann das nicht bestritten werden. Aber es ist eine besondere Geschwätzigkeit. Und besonders die Gedichte von ihm zeugen von einem Wort-Klang-Spiel von kindlichem Ernst. Wie das Gedicht ‚Mädchen‘ so sind viele mit „ziemlich gewollten, unglücklichen Reime[n]“ ausgestattet. Aber darin liegt der Reiz: Vielleicht sollten wir etwas kindlicher sein.

Hier nur ein kleines, weiteres Beispiel Walser’scher Dichtkunst:

“Schnee liegt vergnügt auf allen Dächern
wie längst vergeßne Brief in Fächern”

„Wie ich zum Dichten kam, weiß ich selber nicht recht. Das gab sich, wie sich sonst etwas gibt. Ich habe mich oft gefragt, wie es anfing. Nun, es fing bei einem Zipfelchen an und nahm mich fort. Kaum wußte ich, was ich tat. Ich dichtete aus einem Gemisch von hellgoldenen Aussichten und ängstlicher Aussichtslosigkeit, war immer hlb in Angst, halb in einem beinah übersprudelnden Frohlocken.“
Robert Walser

Albert Camus: Der Fall (1956)

    «Wenn die Zuhälter und Diebe immer und überall verurteilt würden, hielten sich ja alle rechtschaffenen Leute ständig für unschuldig! Und meiner Meinung nach muss gerade das verhindert werden.»
    Albert Camus: Der Fall (1956)

In diesem 1957 mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Roman Der Fall schildert Camus den Fall des Pariser Anwalts Johannes Clamans, der seine Karriere als erfolgreicher und beliebter Strafverteidiger der Pariser Hautevolee freiwillig aufgibt, um als um als Winkeladvokat und „Bußrichter“ unter den Asozialen im Amsterdamer Hafenviertel unterzutauchen. Clamans war aus seiner Selbstzufriedenheit und dem vermeintlichen Einklang mit der Welt gestürzt, als er eines Nachts an der Seine den Hilfeschrei einer Selbstmörderin gehört und nicht beachtet hatte. Damit beginnt sein Gewissenskonflikt; und in einer atemberaubenden Beichte voll eisiger Ironie und lateinischer Klarheit bekennt er, daß Selbstgefälligkeit und Opportunismus die Triebfelder seines Gerechtigkeitssinnes waren. (aus dem Klappentext)

Ich habe diesen gerade einmal 120 Seiten umfassenden Roman in folgender Ausgabe vorliegen: Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg – 1044, 184.-193. Tausend Februar 1979 – aus dem Französischen übertragen von Guido G. Meister – Originalausgabe erschien unter dem Titel „La Chute“

Albert Camus: der Fall (1956)
Albert Camus: der Fall (1956)

Die Geschichte ist in Amsterdam angesiedelt und wird als Monolog vom selbsternannten „Bußrichter“ Jean-Baptiste Clamence erzählt, der einem Fremden seine Vergangenheit als erfolgreicher Anwalt offenbart. In seiner Lebensbeichte berichtet er von seiner Krise und seinem Fall, der als individuelle säkulare Version des Sündenfalls gesehen werden kann. Das Werk erkundet Themen wie Bewusstsein, Freiheit und die Sinnlosigkeit des menschlichen Lebens.

Die Besonderheit dieses Romans liegt darin, dass der Protagonist, der die Beichte ablegt, im ganzen Werk als Einziger zu Wort kommt. Der Verzicht auf einen allwissenden Erzähler, der auch Camus’ 14 Jahre zuvor erschienenen Roman Der Fremde prägt, nimmt dem Leser die Möglichkeit, das Geschehen zu objektivieren.

Nebelverhangene Grachten, kleine Brücken und unzählige Fahrradfahrer bestimmen das Bild von Amsterdam. 1954 entdeckte Albert Camus die niederländische Hauptstadt und empfand sie als klassisch und frech, aber auch düster – der ideale Konterpart zu seiner Melancholie. In Amsterdam siedelte der zukünftige Literaturnobelpreisträger seinen Roman „Der Fall“ an: die poetische Irrfahrt eines Mannes, der von der Schuld zerfressen wird. (Quelle: arte.tv)


Der Fall: Albert Camus und Amsterdam

Hier einige kurze Textpassagen, die teilweise allein für sich sprechen:

„… gepflegter Stil und Seidenhemden haben miteinander gemein, daß sie nur allzu oft einen häßlichen Ausschlag verbergen.“ (S. 8)

    „Wer keinen Charakter hat, muß sich wohl oder übel eine Methode zulegen.“ (S. 12)

„Wenn einer nicht umhin kann, Sklaven zu halten, ist es dann nicht besser, er nennt sie freie Menschen?“ (S.- 40)

    „Sie wissen ja, was Charme ist: eine Art, ein Ja zur Antwort zu erhalten, ohne eine klare Frage gestellt zu haben.“ (S. 48f.)

„Ich habe keine Freunde mehr, ich habe nur noch Komplicen. Dafür hat ihre Zahl zugenommen, sie umfaßt das ganze Geschlecht der Menschen. Und unter den Menschen kommen Sie an erster Stelle. Der just Anwesende kommt immer an erster Stelle.“ (S. 62f.)

    „… geben wir ihnen ja keinen Vorwand, […] uns zu richten!“ (S. 65)

„Glücklich und gerichtet oder freigesprochen und elend.“ (S. 67)

    „… und bliebt in einem Leben auch nur eine Lüge verborgen, verlieh der Tod ihr Endgültigkeit.“ (S. 75)

„… die Lobreden wurden mir je länger desto unerträglicher. Mir schien, die Lüge nehme damit immer mehr zu …“ (S. 76)

    „Um dem Lachen zuvorzukommen, verfiel ich also auf die Idee, mich der allgemeinen Lächerlichkeit preiszugeben.“ (S. 76)

„… es genügt nicht, sich anzuklagen, um seine Unschuld zu beweisen …“ (S. 79)

    „… der Dreck verleiht uns Haltung.“ (S. 82)

„… die Wahrheit […] ist zum Sterben langweilig!“ (S. 85)

    „… daß die echte Ausschweifung befreit, weil sie keinerlei Verpflichtung schafft.“ (S. 86)

„Es ist kein Gott vonnöten, um Schuldhaftigkeit zu schaffen oder um zu strafen. Unsere von uns selbst wacker unterstützten Mitmenschen besorgen das zur Genüge.“ (S. 92)

    „… daß die einzige Nützlichkeit Gottes darin bestünde, die Unschuld zu verbürgen …“ (S. 92)

„Es fehlt nie an Gründen, einen Menschen umzubringen. Im Gegenteil, es ist unmöglich, sein Weiterleben zu rechtfertigen.“ (S. 93)

    „Keine Entschuldigung [,,,] Ich lasse nichts gelten, weder die wohlmeinende Absicht, noch den achtbaren Irrtum, den Fehltritt oder den mildernden Umstand.“ (S. 109)

„Die Anklagerede ist zu Ende. Im selben Augenblick wird das den Mitmenschen vorgehaltene Porträt zum Spiegel.“ (S. 115)

Russische Wochen (3) – Fjodor M. Dostojewski: Die Dämonen

Komme ich heute zum 3. Buch meiner ‚russischen Wochen‘. Es ist der 1873 veröffentlichte Roman Die Dämonen von Fjodor M. Dostojewski, den ich in folgender Ausgabe vorliegen habe: Deutscher Taschenbuch Verlag, München – 5. Auflage Juni 1982 – 31. – 36. Tausend – dtv weltliteratur – Dünndruck-Ausgabe – Vollständige Ausgabe. Aus dem Russischen übertragen von Marianne Kegel [Marianne Kegel: Die Teufel – Leipzig: Hesse & Becker 1924]. – Titel der Originalausgabe: Бесы ‚Besy‘ (Petersburg 1971/72)

Über dieses Buch:
Der Roman >Die Dämonen< ist eine der machtvollsten, beziehungsreichsten Schöpfungen Dostojewskijs. Seine Romantechnik erreicht hier in der Verbindung von packender Handlung mit tiefster philosophisch-religiöser Thematik ihren Höhepunkt. Ein >Buch des großen Zorns< hat ein russischer Kritiker >Die Dämonen< genannt. Das ist der Roman zweifellos in dem heftigen Angriff Dostojewskijs auf die „nihilistische“ Generation der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts.
Wie in Turgenjews >Väter und Söhne< steht sich die Welt der Väter und der Söhne gegenüber. Der Vater Stepan Trofimowitsch Werchowenskij ficht Dostojewskijs Kampf gegen den Utilitarismus der jungen Genaration aus. Vor seinem Tod läßt er sich aus dem Lukas-Evangelium die Geschichte von der Austreibung der Teufel vorlesen, die dem Roman den Titel und seine religiöse Entschlüsselung gibt. Die Teufel, die Dämonen Russlands, sind die Handlanger der Zerstörung um der Zerstörung willen, vertreten durch den Sohn und Mörder aus politischen Motiven, Pjotr Stepanowitsch, durch die Hauptfigur Nikolaj Stawrogin und seinen Kreis der Nihilisten. Stawrogin ist ein von Machtgier und Zerstörungslust Besessener, der ein Leben voller Ausschweifungen und Grausamkeiten führt und sich schließlich, innerlich gescheitert, erhängt.

War der Ausgangspunkt Dostojewskijs zunächst weltanschaulicher Natur – der Konflikt zwischen den atheistischen, westlich orientierten Revolutionären und seiner nationalen, christlich-orthodoxen Überzeugung -, so wird immer mehr zum eigentlichen Thema, was der Dichter in einem Brief über den Romanplan schrieb: „Die Hauptprobleme, durch alle Teile des Romans hin, werden die gleichen sein, von denen ich bewußt und unbewußt während meines ganzen Lebens gequält worden bin – die Existenz Gottes.“

Fjodor M. Dostojewski: Die Dämonen
Fjodor M. Dostojewski: Die Dämonen

Das ist kein Buch, das man liest, das ist ein Abgrund, in den man hineinstürzt. Mir schien damals, ich habe durch diese Lektüre endgültig erfahren, was Leben wirklich ist: sich hilf- und heillos verstricken und schuldlos schuldig werden. Verzweifelt wie alle Personen des Romans bot sich mir als Ausweg jener an, den Kirillow und Stawrogin wählten: Selbstmord. So ein Buch ist das. Ein gefährliches Buch, wenn man es nicht ganz zu Ende liest.
[…]
Bei der Sitzung eine[s diese]r „Fünferkomitees“ legt ein Mitglied, Schigaljow, sein Buch vor, in dem er das Bild der künftigen sozialistischen Gesellschaft entwirft, ein Bild, gegen das, so sagt er, alle Gedanken früherer Reformer nichts als törichte Träume seien. Jedoch: er bekennt, sich selbst in seinen Ideen verirrt zu haben, und er müsse sehen, daß seine Propagierung der unbeschränkten Freiheit des einzelnen geradewegs in den unbeschränkten Despotismus führen. Es gebe keinen andern Weg als die Teilung des Volks in zwei Gruppen: ein Zehntel erhalte die unbeschränkte Freiheit und damit die absolute Macht, der Rest müsse entmündigt und damit in den „ursprünglichen Zustand der Lämmerunschuld zurückgeführt werden“. Das Ideal der totalen Diktatur, die Vorwegnahme des Faschismus und Stalinismus. (Quelle: zeit.de)

Aber damit endet Dostojewskis Hellsicht noch nicht. Es ist Pjotr Werchowenski, dem das Charisma eines Stawrogin abgeht, der diesen daher als ’neuen Zaren‘ auserkoren hat. Warum erinnert mich das so sehr an Putin, der mit seiner Scheindemokratie eine neue Form des Zarentums begründet hat. Stawrogin wollte nicht und nahm sich das Leben, Putin will dafür um so mehr …

Personenverzeichnis als PDF-Datei

siehe auch:
Heute Ruhetag (16): Fjodor Michailowitsch Dostojewski – Die Dämonen (nachzulesen bei zeno.org)

sowie:
Russische Wochen (1) – Tschingis Aitmatow: Frühe Kraniche
Russische Wochen (2) – Michael Bulgakow: Das hündische Herz

Sommerfrische

Zupf dir ein Wölkchen aus dem Wolkenweiß,
Das durch den sonnigen Himmel schreitet.
Und schmücke den Hut, der dich begleitet,
Mit einem grünen Reis.

Verstecke dich faul in der Fülle der Gräser.
Weil`s wohltut, weil`s frommt.
Und bist du ein Mundharmonikabläser
Und hast eine bei dir, dann spiel, was dir kommt.

Und lass deine Melodien lenken
Von dem freigegebenen Wolkengezupf.
Vergiss dich. Es soll dein Denken
Nicht weiter reichen als ein Grashüpferhupf.

Joachim Ringelnatz
Joachim Ringelnatz

Tun wir es dem Dichter gleich und denken nicht weiter als einen Grashüpferhupf. Mit einer Eistüte auf dem Gewissen und Sonne im Kopf frönen wir dem Sommer und Joachim Ringelnatz. Und mit seinen Gedichten. Wenn nicht jetzt, wann dann …

André Gide: Die Schule der Frauen

Die Stellung der Frau in Ehe und Gesellschaft und der Kampf um die Freiheit ihrer Persönlichkeit stehen im Mittelpunkt dieser drei, nun schon klassischen psychologischen Erzählungen, die sich wie die Tafeln eines Triptychons miteinander verbinden. Wir lesen das Tagebuch einer jungen Frau, deren frisches und klares Urteilsvermögen die vorgetäuschte moralische Überlegenheit ihres Mannes als raffinierten Egoismus entlarvt und die an dieser Erkenntnis zerbricht. In der zweiten Erzählung versucht der Beschuldigte eine Rechtfertigung, in der dritten nimmt, in Form eines Briefes, die Tochter des Ehepaares (inzwischen selbst eine junge Frau) zu den Ereignissen Stellung. Dabei erweist sich, daß die gesellschaftlichen Veränderungen zu einer Befreiung geführt haben: die Tochter nimmt für sich jenes Recht auf die eigene Persönlichkeit ganz selbstverständlich in Anspruch, das der Mutter versagt blieb.

André Gide, am 22. November 1869 in Paris geboren und dort am 19. Februar 1951 gestorben, der seinen Zeitgenossen und vielen seiner konservativen Autorenkollegen als gefährlich, als der große Seelenverderber galt, hat längst seinen Platz in der Weltliteratur. Der Nobelpreisträger (1947) zählt zu den wichtigsten französischen Schriftstellern seiner Generation. Er hat das geistige Gesicht des 20. Jahrhunderts entscheidend mitgeprägt. Die Erzählungen >École des Femmes< erschien 1929 (dt. 1929), >Robert< 1930, >Geneviève< 1936 (dt. zus. 1950). "Ein scharfzüngiges Manifest für die Frau. Doch bei allem Engagement zum Thema >Emanzipation< geht Gide nie der Charme aus. Schon allein die Komposition ist äußerst reizvoll ... Darüber hinaus jedoch besticht Gide durch seinen überaus eleganten Stil, in dem Einfachheit und Ironie sich raffiniert brechen." (Norddeutscher Rundfunk) André Gide gemalt von Paul Albert Laurens (1924)
André Gide gemalt von Paul Albert Laurens (1924)

Ich finde es schon erstaunlich, wie sich André Gide als Mann vor über 85 Jahren in die unterschiedlichen Rollen der Mutter, des Mannes und dann der Tochter hineinfühlt: André Gide: Die Schule der Frauen [L’École des Femmes] – Erzählungen – dtv 1751 – 3. Auflage 1983. Die Mutter, die zunächst dem Charme ihres späteren Mannes erliegt, erkennt bald, wie perfide ihr Ehegatte ist, wie er nicht nur sie, sondern seine ganze Umwelt hintergeht. Der Mann schiebt in seiner Rechtfertigung alles auf seine Frau und dann auch auf die Tochter. Der Brief der Tochter offenbart dann das ganze Dilemma, dem ihre Mutter ausgesetzt war.

siehe auch: André Gide: Die Falschmünzer

Ingomar von Kieseritzky: Das Buch der Desaster / Anatomie für Künstler

Ende der 1980-er Jahre hatte ich mir zwei Bücher von Ingomar von Kieseritzky gekauft – und natürlich auch gelesen. Bei der Durchsicht meiner Bibliothek bin ich wieder auf diese zwei kleinen Romane gestoßen und habe sie in diesen Tagen erneut vorgenommen. Kieseritzky war ein Verfasser experimenteller Prosa, die stets eine Tendenz zum Grotesken und Absurden aufweist. Sein Humor war grimmig und handelte vorallem von den passionierten Neurosen von Männern. Er war ein überaus stilsicherer Wortakrobat, der es nach meinem Geschmack oft etwas zu dick auftrug. Aber irgendwie passte das stilistisch zu dem von ihm Geschriebenen.

Kieseritzky, der im letzten Jahr gestorben ist, war bei Kritikern durchaus beliebt. So erhielt er viele Auszeichnungen in Form von Stipendien und Literaturpreisen, z.B. 1989 den Literaturpreis der Freien Hansestadt Bremen. Ein großes Publikum zu finden, fiel aber nicht ganz so leicht.

Willi liest Kieseritzky
Willi liest Kieseritzky

Das Buch der Desaster (1988)

Wenn ich meinen Kalziumhaushalt saniert habe, werde ich Anna-M. heimsuchen und eine stille, feuchte Feier über die vielen Tode begehen und mit ihr diese Papiere verbrennen. Allzu romantischer Pla; sie hat bestimmt Zentralheizung. Sollte mich nicht, Schwur am chromierten Schreibtisch, der Lungenkrebs krepieren lassen, bliebe nach genügend Sinnstiftung noch Brants Geburtstagsgeschenk, die Mauser-Westentaschenpistole, ein handliches Ding im .kal. 6,35, ausreichend, um das ewige Flattern zu tonisieren.

So endet der Roman „Das Buch der Desaster“ von Ingomar Kieseritzky (dtv/Klett-Cotta 11379 – Mai 1991)

„Magdalena erbrach sich verschnupft und sagte, ich sei ein Trottel“, erinnert sich Kelp auf seiner Reise mit Brant. Und: „Mein Duell mit Anna dauerte genau zwei Jahre, drei Monate, vier Tage.“ Brant wiederum weiß zu berichten: „Es war meine Frau, meine über alles geliebte, wunderbare, sanfte und schöne Natalia, die von dem Kerl geschändet wurde.“ – Frauen, Cognac, und alle sonstigen Freuden und Lieden des Leibes spielen eine große Rolle bei dieser Reise nach Frankreich, die Kelp trotz aller Kalamitäten und Mißgeschicke nur als „sanftes Fiasko“ einstufen mag. „Die erotische Obsession und das ihr automatisch folgende Desaster – darum geht es in Kelps katastrophischen Plaudereien“, schreibt Volker Lilienthal im >Rheinischen Merkur>. „Das Buch der Desaster ist vor allem ein Buch über Männer und ihre lächerlichen Anstrengungen, ans Ziel ihrer sexuellen Begierden zu gelangen. Ich wüßte keinen zweiten Autor, der so köstlich ironisch über das eigene Geschlecht geschrieben hat.“ (aus dem Klappentext)

Eine mit brillantem Sprachwitz erzählte Frankreichreise. 93 Romankapitel über Theorie und Prxis der Alltagskatastrophe; oder: Eine kleine Enzyklopädie des täglichen Flops.
Im „Buch der Desaster“ vereinigen sich Esprit und Informiertheit, Freude an der Theoriebildung und Lust am erotischen Detail. Hohe Zeit, Kieseritzky zu lesen.

„Damit empfiehlt sich dieses Buch als Nachtlektüre für alle, die keine Panne im Leben auslassen. Denn dieses Buch ist für Katastrophenspezialisten das Trostvollste, was seit dem ‚Vaterunser‘ geschrieben wurde.“ Der Stern

„Kieseritzky meistert ein Vokabular vom grob ordinären Ausdruck bis zur kühl objektivierenden wissenschaftlichen Bezeichnung. Ich habe seit langem kein Buch mehr mit so großem Interesse und Vergnügen zweimal gelesen.“ Neue Zürcher Zeitung

„Unerschöpflich scheint Ingomar von Kieseritzkys Phantasie zu sein, wenn es darum geht, Mikrodesaster und Miniaturdebakel kunstvoll in trostreiche Anekdoten zu verpacken … Seine Desaster halten nicht nur jeden Vergleich mit der Wirklichkeit aus, sie sind vor allem viel amüsanter.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

Anatomie für Künstler (1989)

Im Roman Anatomie für Künstler – Klett-Cotta, Stuttgart 1989 (Erstausgabe) steht Maximilien Marun im Mittelpunkt. Er erzählt seine aberwitzige Geschichte, von eimem Symposion zur Rettung der Erde, bei der einer der Teilnehmer dank Marun ums Leben kommt. Irgendwo ist es auch so etwas wie ein Liebesroman.

Schon Thomas de Quincey feierte ihn: den Mord als eine schöne Kunst; die elegante, zweckfreie „Herbeiführung ewigen Stillschweigens“. In diesem Buch wird sie in allen Variationen durchgespielt – eine Geschichte, die in einem stillen Antiquitätenladen beginnt. Erzählt wird sie von Max Marun. Der sitzt in einer Klinikzelle und denkt nach über die Fragmente seiner früheren Existenz: die heillose Obsession für Laura; die mit privaten Überlebensprojekten beschäftigte Berliner Szene; die kryptischen Briefe des Onkels aus Schloß Painwood, England. Dort kommt bei ienem „Badeabenteuer“ ein Wissenschaftler ums Leben, Teilnehmer eines prominent besetzten Symposiums zur Rettung des Planeten. Maruns marodes Gedächtnis produziert einen Comic-Strip der Anschläge, mit einer Handlung, die bis zum Schluß ihre Auflösung für sich behält. (aus dem Klappentext)

„Kieseritzky hält seine Leser in Bewegung … Amüsements und Schocks lösen einander ab, hingerissen zwischen Sprachwitz und Denklust wird die Lektüre zum Ereignis.“ Die Zeit

„… ein deutscher Woody Allen.“ Deutsche Welle

„Stilsicherheit und technische Brillanz, Fedankentiefe und historische Geistesgegenwart – da ist alles, was große Literatur ausmacht.“ Süddeutsche Zeitung

Ich fürchte, dass man Kieseritzky heute vorwerfen würde, nicht unbedingt politisch korrekt zu sein. Und irgendwie sexistisch ist das Ganze dann auch noch. Aber das waren Ende der 1980-er Jahre noch keine handelsüblichen Vokabeln. Und irgendwie liegt da auch der Reiz beim Lesen dieser beiden Romane.