Aber darstellen will ich mich nicht als Wortjongleur, sondern als Mensch, als Person.
Martin Walser: Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte (S. 7)
Was das Sexuelle angeht, wird in der einschlägigen Literatur relativ gesichert festgestellt: Männer fantasieren anders als Frauen. Sie reagieren viel stärker auf optische Schlüsselreize. Frauen finden es erotischer, Geschichten zu hören. Männer reagieren auf das, was sie sehen. (Quelle: zeit.de/zeit-magazin/)
Ein gutes Jahr nach seinem Roman Statt etwas oder Der letzte Rank veröffentlichte Martin Walser sein nächstes Werk, den vor gut 10 Monaten erschienenen Roman Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte, 1. Auflage (27. März 2018) – Rowohlt, Reinbek bei Hamburg. Felicitas von Lovenberg schrieb in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Seit einem halben Jahrhundert ist Martin Walser unser Gewährsmann für Liebe, Ehe, Glaube und deutsche Befindlichkeiten. Ein Lustwandler seiner Ausdruckswelt.“ Und natürlich kommen dabei der Sex und speziell Männerphantasien nicht zu kurz. Walser beschreibt. Aber mit zunehmendem Alter, und Martin Walser ist inzwischen über 90 Jahre alt, wird ihm nunmehr das von ihm Geschriebene persönlich angelastet: das Wort, der Vorwurf der Altersgeilheit findet sich in vielen Rezensionen zu seinen Romanen.
Nein, ich will Martin Walser hier nicht verteidigen. Aber ich kann nicht den oft vernommenen Kritiken dieser lediglich den eigenen reflexhaften Vorurteilen erliegenden Walser-Beurteilern folgen, die mit Freuden den Köder schlucken, den Walser auslegt. Ich gestehe allerdings, dass es mir der Roman ‚ Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte‘ nicht leicht gemacht hat, wenn der Protagonist des Romans mit Donald Trump sympathisiert oder sich permanent von „Weibsattacken“ tyrannisiert fühlt.
Jener Justus Mall, der sich aufgrund eines ‚Vorfalls‘ vom Oberregierungsrat namens Dr. Gottfried Schall zum Philosophen ‚mausert‘, macht es dem Leser wirklich nicht leicht. Aber beginnen wir am Anfang. Im so genannten Klappentext steht geschrieben:
„Was, bitte, wäre ich lieber als ich? Alles andere als ich.“ Das sagt Justus Mall, der früher einmal anders hieß. Oberregierungsrat war er, zuständig für Migration, aber dann kam der Tag, an dem er etwas Unbedachtes machte, und seitdem ist er Philosoph, zuständig für alles und nichts. Doch das ist nicht das einzige Dilemma seines Lebens. Tag und Nacht liegt er im Streit mit den Umständen, zu denen er es als Liebender hat kommen lassen. Ist es vielleicht leichter, keine Frau zu haben als nur eine? Er jedenfalls liebt zwei, und weil das nicht gehen kann, beginnt er, einen Blog zu schreiben – auf der Suche nach einem Menschen, der genau das ist, was ihm fehlt.
Was für ein sagenhaftes Paradox. Ein Mann, für den Wirklichkeit ein Gespinst aus erfundenen Fäden ist, hofft, ausgerechnet in einem Weblog so etwas wie Nähe zu finden. Er richtet seine Selbstgespräche an eine unbekannte Geliebte und weiß doch, sie ist nicht mehr als eine Illusion. In früheren Romanen ließ Martin Walser noch Briefe und E-Mails hin und her gehen, in „Gar alles“ gibt es das nicht mehr. Hier ruft einer ins Irgendwo, ist zurückgeworfen auf sich selbst, hat für das, was er empfindet, keinen Adressaten mehr. Ein völlig geklärt geschriebener Roman über lauer Ungeklärtes, ein in seiner existenziellen Dringlichkeit ungeheuerliches, überwältigendes Buch.
Martin Walser: Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte
Jener Justus Mall will „künftig nur noch Überflüssiges […] verfassen, um dadurch einen utopischen Kontrast zum zeitgenössischen Zweckrationalismus zu entwerfen.“
Aber konzentrieren wir uns auf jenen Vorfall, auf das Unbedachte, das Gottfried Schall tat, bevor er zum Philosophen Justus Mall wurde. Walser schreibt:
[…] Es geschah bei einem Opernbesuch, in der zweiten Pause von “Tristan und Isolde”. […]
Da sie auf einem Barhocker saß und er an der Bar stand, liefen an ihm in Brusthöhe vorbei ihre gleißenden Oberschenkel und ihr rot-schwarzes Rockrüschengewell. Auf einmal war sie nicht mehr der Bartheke zugewendet, sondern halb zu ihm gedreht. Warum, das erfuhr er erst später durch das von ihr verfasste Protokoll. Ein kleiner Wortwechsel zwischen ihr und ihrem Begleiter, der rechts neben ihr saß. Sie sagte: Franz, du spinnst, und drehte sich weg, also zu Justus Mall hin. Natürlich, ohne das zu wollen. Aber er, der dicht neben ihrem Hocker stand, erlebte das so, als habe sie sich zu ihm gedreht. Er wusste, dass sie ihn nicht meinte, nicht meinen konnte, aber er machte in der Laune, in der er durch „Tristan“ plus Alkohol war, einen Scherz, das heißt, er begrüßte sie, als habe sie sich absichtlich zu ihm gedreht, und mehr noch begrüßte er ihre Schenkel. Sink hernieder, Nacht der Liebe, singsangte er und tippte mit einem Zeigefinger auf die gleißende Schenkelrundung, als wolle er sagen: Du, Schenkel, bist die Nacht der Liebe. Dass er, was er da tat, selber als riskant empfand, drückte er dadurch aus, dass er ihr nur mit der Spitze des Zeigefingers seiner rechten Hand auf den Schenkel tippte, dann die Hand sofort zurückzog, als erschreckte er über das, was er da gerade getan hatte. Es war deutlich ein gespieltes Erschrecken! Er hatte doch die Hand so jäh zurückgezogen, als habe er die Zeigefingerspitze auf einer glühenden Herdplatte verbrannt. Um das Spielerische zu betonen, prostete er ihr sofort mit dem Champagnerrest zu, und sie, die auch ein Glas in der Hand hatte, erwiderte sein Prosit. Beide tranken. Dann drehte sie sich sofort wieder zur Bar und damit zu ihrem Begleiter. Auch er war gleich wieder bei seiner Frau, die auf dem Barhocker links neben ihm saß und nichts mitgekriegt hatte, weil sie sich vom Barkeeper sagen ließ, warum dieser Champagner so gut sei.
[…]
Natürlich hatte diese Frau ihn nicht wahrgenommen. Angeschaut hat sie ihn, wie man einen Irren anschaut. Jetzt noch spürte er, wie er sich, so angeschaut, gefühlt hat. Einsam. Er hatte gerade noch sein Um-bemerkt-werden-Betteln in etwas Lustiges hinübergelogen. Dieses Zugleich! Ihre Schenkel, die wilden Rockrüschen, sein Zeigefinger, der Satz aus der Oper, ihr Blick, sein Prosit, ihre Prosit-Entgegnung, das alles messbar kurz, unmessbar intensiv, unmessbar. (S. 79 ff.)
Dieser Vorfall, der stark an die Verbalattacke eines Herrn Brüderle erinnert, hatte Konsequenzen:
Einen Tag später gab es sie wieder. Und wie! In der Süddeutschen Zeitung berichtete die Praktikantin Suse Kranz, was ihr in der zweiten „Tristan“-Pause passiert ist. Ein Oberregierungsrat aus dem Justizministerium hat sie, die mit einem Freund an der Bar saß, grob begrapscht und hat dazu auch noch obszön geredet, nämlich: Ihr Rock sei kürzer, als es die Straßenverkehrsordnung erlaube, und jetzt sei dieser Rock auch noch so weit hochgerutscht, dass man von einer Schenkel-Emanzipation sprechen könne.
Am Tag darauf ein Interview mit der Praktikantin. Sie hat den Grapscher gekannt […].
Am Tag darauf war es in allen Zeitung: Frauen müssten geschützt werden vor den Grapschern der Altherren-Riege.
Die Süddeutsche brachte ein Interview mit dem Grapscher. Er konnte nicht abstreiten, was die Praktikantin zitiert hat, aber daran erinnern, dass er das und das gesagt habe, konnte er sich nicht. Dann wurde die Barszene genau rekonstruiert. Mit ihm. Im Gespräch. Er fand, dieses als Interview veranstaltete Gespräch sei ein Verhör. Das sagte er auch, und das stand dann auch in der Zeitung und was er zu seiner Rechtfertigung sagte.
Wie sehr ihn dieses Verhör aufregte, zeigen seine Formulierungen. Die Welt sei nicht mehr alles, was der Fall ist, sondern alles, was Frau ist! Wo du hinschaust, lächelt, lacht, grinst dir eine Frau entgegen und streckt dir alles hin, ihre Haare, ihre Brüste, ihre Beine. Er finde das, sagte er, nicht furchtbar, sondern herrlich. Aber er möchte auch reagieren dürfen. Er möchte sagen dürfen, dass er sich andauernd verführt fühle. Und wenn dann wirklich einmal ein solches Geschöpf in greifbare Nähe kommt, dann langt man eben eine Zehntelsekunde lang hin und sagt dazu noch irgendeinen Fast-Unsinn. Alles wegen dieses gleißenden Oberschenkels! Es gibt wahrscheinlich keinen Mann in der ganzen Welt, der, wenn ihm so ein Oberschenkel passiert, davon unberührt bleiben könnte. Vielleicht würde nicht jeder mit der Fingerspitze hintippen und dann den Erschreckten spielen, aber er könne, was er da getan hat, was ihm passiert sei, nicht nur nicht abstreiten, er müsse, was er mit einer Fingerspitze eine Zehntelsekunde lang vollbracht habe, immer noch bejahen, vertreten, ja sogar rühmen! Es sei eine Geste der Anbetung gewesen, der Verehrung, ein religiöser Akt. Allerdings gewidmet nicht einem unbekannten Gott, sondern dem wunderbaren Schenkel einer Frau.
Dann wurde er konfrontiert mit dem Wort Altersgeilheit. Er, wütend: Er bitte um Aufklärung! Nicht, dass er je mit so etwas zu tun habe, er wolle nur wissen, ob ein Fünfundfünfzigjähriger anders geil sein als ein Fünfundzwanzigjähriger! Gebe es dafür ein physiologisches Datum? (S. 82 f.)
Ohne Zweifel geht Martin Walser – auch in seiner Ausführlichkeit der Schilderung – viel zu weit. Wenn das sein Beitrag zur #MeToo-Debatte sein soll, dann hat er scheinbar nicht viel begriffen. Ich schreibe scheinbar, denn ich glaube immer noch, dass Walser sich hier bewusst in die Sichtweise des ‚Täters‘ versetzt hat, um – wie soll ich es sagen? – nicht allein das ‚Opfer‘ zu Wort kommen zu lassen. Christoph Schröder (Die Zeit) fasst es so zusammen:
Ganz im Unterschied zum vorangegangenen Buch Statt etwas oder Der letzte Rank, das in seiner Offenbarungskraft eine geradezu erschütternde Radikalität hatte, ist Gar alles ein matter Wiederaufguss. Der Tonfall ist nicht selbstreflexiv, sondern larmoyant. Statt etwas war ein hoch interessantes, poetologisch zu lesendes Buch; Gar alles ist bestenfalls der Versuch der Vorführung eines aktuell ins Visier der Öffentlichkeit geratenen Typus: Der alte, geile, weiße Mann zeigt sich in seiner ganzen Unappetitlichkeit.
Und dann ist da noch der Passus zu Donald Trump, dem derzeitigen US-Präsidenten:
[…] ich habe Mr. Trump von Anfang an, seit er im Wahlkampf gegen Mrs. Clinton angetreten ist, auch als eine Belebung erlebt. Nie hätte ich Hillary Clinton wählen können. Dass er Sätze gesagt hat, die peinlich sind, hat mich für ihn eingenommen. Nicht weil diese Sätze tatsächlich peinlich und unanständig waren, sondern weil er solche Sätze gesagt hat. Er hat sich deutlicher gezeigt als je ein Kandidat vor ihm. Er hat weniger gelogen als je ein Kandidat vor ihm. Ich wusste, woran ich bei ihm bin. Und das ist so geblieben. (S. 89).
Das Ganze steht unter dem Datum 1. April 2017. Also ein Aprilscherz? Wer halbwegs bei gesundem Menschenverstand ist, muss anerkennen, dass sich Trump tatsächlich deutlicher gezeigt hat und zeigt als je ein Kandidat vor ihm. Wie sonst lässt sich ein Urteil über ihn fällen, das ihn als Katastrophe ausweist. Wenn Trump lügt, dann lügt er offensichtlich und nachweisbar. Bei all den anderen Politikern ist der Nachweis ihrer Lügen weitaus schlechter zu führen.
Nun, Walsers Roman schmeckt nicht jedem. Auch bei mir verursachte er leichte Verdauungsstörungen. Wenn Walser provozieren wollte, so ist es ihm wohl gelungen. Er ist der immer noch der eloquente, in diesem Roman im Tonfall leider auch sentimental-weinerliche Wortjongleur.