Inzwischen ist Martin Walser 93 Jahre alt. Und wie es aussieht, so geht es ihm auch in Corona-Zeiten noch ganz gut (siehe unten). Bis vor zwei Jahren war er zu Lesungen in der Republik unterwegs. Und neben Sammlungen von Reden, Aufsätzen usw. gab er bis zum Ende des letzten Jahres auch immer mindestens ein Prosastück zum Besten. Als Letztes hatte ich hier Walsers Roman Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte vom April 2018 besprochen. Wohl mit keinem anderen Schriftsteller habe ich mich soviel beschäftigt wie mit Martin Walser (d.h. ich habe ihn gelesen).
Martin Walsers Alterswerk
Zuerst möchte ich aber ein Buch aus dem Jahr 2017 ansprechen, das ein Gespräch zwischen Walser und Jakob Augstein wiedergibt:
Martin Walser – Jakob Augstein: Das Leben wortwörtlich – ein Gespräch (2017)
„Ich würde nie eine
Autobiographie schreiben.
Das zwingt zu einer
mir unangenehmen Art
von Lüge. Die Lüge im
Roman ist wunderbar.
Sie ist eine Variation
der Wahrheit.“
Martin Walser
Martin Walser ist Schriftsteller. Jakob Augstein ist Journalist. Und sie sind Vater und Sohn.
2009 gab Jakob Augstein bekannt, dass Martin Walser sein leiblicher Vater sei, was er 2002 nach dem Tod von Rudolf Augstein durch seine Mutter erfuhr. Walser und Augstein trafen sich seither häufig.
Dieses Buch Das Leben wortwörtlich: Ein Gespräch, das ich in 1, Auflage Dezember 2017 – Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg vorliegen habe, könnte als eine Art Ersatz-Autobiographie gelten, denn in diesem Buch sprechen sie über das Leben von Martin Walser, über dessen Jugend in Wasserburg am Bodensee, über den Vater, der Hölderlin gelesen hat, und die Mutter, die das Gasthaus geführt hat. Sie sprechen über den Krieg, über das Schreiben, über Geld und das Spielcasino in Bad Wiessee, über Uwe Johnson und Willy Brandt. Sex ist kein Sujet, sagt Walser, und so sprechen sie stattdessen über das Lieben. Und dann über das Beten.
Jakob Augstein fragt Walser nach der umstrittenen Rede in der Paulskirche und der öffentlichen Fehde mit Marcel Reich-Ranicki. Und natürlich spielen Auschwitz und die deutsche Vergangenheit eine Rolle, ohne die das Leben und die Romane von Walser nicht zu denken sind. Und sie sprechen auch über sich.
„Das Leben wortwörtlich“ ist der gemeinsame Blick auf eine deutsche Lebensgeschichte, bewegend und voller überraschender Einsichten.
(aus dem Klappentext)
Jakob Augstein, geboren 1967 in Hamburg, studierte Politikwissenschaften, Germanistik und Theaterwissenschaften in Berlin und Paris. Er arbeitete für die „Süddeutsche Zeitung“, unter anderem als Chef der Berlin-Seite, und für die „Zeit“. 2008 übernahm er die Wochenzeitung „der Freitag“, deren Verleger und Chefredakteur er heute ist. Er ist Kolumnist bei „Spiegel Online“.
Du bist mein Vater.
Ein Umstand, der mich mit Freude erfüllt.
Als ich ein Kind war, wusste ich das nicht. Und vielleicht auch nicht. Ich war beinahe vierzig, als wir uns das erste Mal begegnet sind, du beinahe achtzig Jahre alt.
Ja, Jakob, wir waren beide zu alt.
Martin Walser: Spätdienst – Bekenntnis und Stimmung (2018)
Was Martin Walser ‚Bekenntnis und Stimmung‘ in diesem Buch Spätdienst (habe ich in 2. Auflage Dezember 2018 – Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg) nennt, sind hunderte kurzer und kürzester Texte. Naturlyrisches neben Politischem, Reflexionen über Leben und Tod, Friedliches und Provozierendes, Abrechnungen mit «Feinden» im Feuilleton (von Reich-Ranicki und Karasek über Raddatz und Schirrmacher bis Löffler und Höbel): Gedanken, Gedichte, Aphorismen, Notate, begleitet von zarten Arabesken seiner Tochter Alissa. In seiner «formlosen Form» ist «Spätdienst» am ehesten vergleichbar mit Walsers «Meßmer»-Trilogie.
Für Gegner:
ein gefundenes Fressen
Für meine Leser:
vielleicht ein Ausflug
ins Vertraute
„Wie klingt die Zeit im Gewölbe der Nacht?“ Wer fragt das? Ein lyrisches Ich zwischen raren Glücksmomenten und Schwärze, Leere, Sturz. Beim Durchkämmen des Hundefells, beim Aufschneiden eines Apfels oder immer dann, wenn die Berge im Blau stehen, der Wind in den Bäumen rauscht, die Blätterschönheit den Atem stocken lässt, kommt sie auf, die Frage, ob das das Glück sei, denn lange währt sie nie. Schon fährt etwas dazwischen, Wörter, die weh tun, ausgesprochen von anderen, gegen die nur eines hilft: „Sich in Verse hüllen, als wären es Schutzgewänder, schön, weltabweisend, die Einbildung heißt Aufenthalt.“
Hier haben wir sie – die Summe, ja das Resultat der Poetik Martin Walsers. Hier lässt sich sein Realismus fassen wie nirgends sonst. Mehr als schön ist nichts. Oder: etwas so schön sagen, wie es nicht ist.
Martin Walser hat den Schmerz das Singen gelehrt, und aus den Zumutungen der Wirklichkeit destilliert er glasklare Gedanken. (aus dem Klappentext)
… Ich muss aber
die Wörter wie’s Vieh auf die Weide treiben,
dass die Wörter wuchern über meine Wunden. (S. 104)
Martin Walser: Mädchenleben oder Die Heiligsprechung – Legende (2019)
Die Welt entspricht mir nicht, aber ich soll ihr entsprechen.
Ich will nicht mehr sprechen müssen. Was ich denke, kann ich nicht sagen. Und etwas sagen, was ich nicht denke, kann ich auch nicht.
Ich bin die Wächterin am Grab meiner Wünsche.
Martin Walser: Mädchenleben
(Aus Sirtes Tagebuch)
Es ist lediglich ein kleines Büchlein geworden, dieses Mädchenleben: oder Die Heiligsprechung (Originalausgabe – Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2019 – Umschlagabbildung: Alissa Walser), ein Werk von gerade 90 Seiten. Eine ‚Legende‘, also eine neue Facette in Walsers Werk. Viele Walser-Kritiker werden wohl den Kopf geschüttelt haben, als sie das Buch lasen. Für mich ist es ein Werk, das den Walser’schen Kosmos, der nun einmal meist am Bodensee spielte, abrundet. Religiösität spielt dort eine große Rolle.Walser zeichnet diese Legende allerdings in seiner ganz eigenen, sehr kraftvollen Art auf. Und …Zürn – da war doch was! Da war sogar eine ganze Menge im literarischen Walser-Universum! Es gab bereits einen Chauffeur Xaver Zürn («Seelenarbeit», 1979), einen Dr. Gottlieb Zürn («Das Schwanenhaus», 1980; «Die Jagd», 1980; «Der Augenblick der Liebe», 2004) – nun also Ludwig Zürn.
Für alle Walser-Leser ein Fest des Wiedersehens: Schon in seinen Tagebüchern aus dem Jahr 1961 finden sich Eintragungen zu „Mädchenleben“, und nun, fast sechzig Jahre später, hat er das dort Notierte zusammengetragen und zu etwas verwoben, das er „Legende“ nennt: die Geschichte des Mädchens Sirte Zürn, das, weil es seine eigenen Wege geht – plötzlich verschwindet, erst nach Tagen wieder auftaucht, sich im Sand eingräbt, bei Sturm in den See rennt -, nach Wunsch seines Vaters heiliggesprochen werden soll. Der Untermieter der Familie, der Lehrer Anton Schweiger, ist von diesem Einfall so entzündet, dass er alles sammelt, was es über das Mädchen zu erzählen gibt. Darüber gerät er mehr und mehr in ihren Bann.
Martin Walsers neues Buch besticht durch seine lebhaften, ungewöhnlichen Figuren, die in einer gleichsam entrückten Welt zu leben scheinen. Was ist mit Anton Schweiger, warum wohnt er als Lehrer zur Untermiete bei den Zürns, was bringt ihn dazu, nach Sirte eine solche Sehnsucht zu haben? Wie kommt ihr Vater auf den Gedanken der Heiligsprechung seiner Tochter, und was ist das für eine seltsame Ehe der Zürns, in der die Frau, während sie im Garten Lupinen setzt, von ihrem Mann zu Boden geworfen wird und er sich ein andermal mit Kuhfladen beschmiert? Mit Staunen lesen wir die herrlichen Walser-Sätze und lassen uns gefangen nehmen von der Geschichte eines jungen Mädchens, das anders ist als andere – zerbrechlich und sonderbar und ausgestattet mit einem ins Himmlische und Unwirkliche reichenden Gespür.
Über ein Mädchen, das wie kein anderes ist – ein schwebendes, klangschönes Alterswerk, das seine Rätsel bewahrt. (aus dem Klappentext)
Martin Walser: Sprachlaub oder Wahr ist, was schön ist (2021)
Nach dem ‚Gesetz der Serie‘ sollte eigentlich zum Jahresende ein weiteres Prosastück von Martin Walser erscheinen. Die Walser-Leser müssen aber dann doch noch bis zum 23. März im nächsten Jahr warten. Dann erscheint ein Buch, das den Titel „Sprachlaub oder Wahr ist, was schön ist“ trägt und mit Aquarellen von Walsers Tochter Alissa versehen ist, einen Tag vor Walsers 94. Geburtstag. Dabei soll es sich ähnlich dem ‚Spätdienst‘ um Sentenzen, Eingebungen, Reime, Aphorismen, also um „Augenblickspoesien“ oder „Augenblickstexte“ handeln.
Wie anfangs erwähnt: Walser erfreut sich auch in Corona-Zeiten noch guter Gesundheit. Erst vor einigen Tagen feierte es mit seine Frau Käthe Gnadenhochzeit. Das Paar ist also seit 1950 verheiratet: Eine Ehe ohne Liebe, das ist wie ein Auto ohne Motor!