Ein Jahr Rentnerdasein

Wie die Zeit vergeht: Heute vor einem Jahr hatte ich meinen letzten Arbeitstag. Und (offiziell) mit dem 1. November 2019 begab ich mich in Rente. Was war das für ein Jahr …

The Best of 'Willi auf Arbeit' (Die letzten Tage ...)
The Best of ‚Willi auf Arbeit‘ (Die letzten Tage …)

Natürlich bin ich froh, in Corona-Zeiten nicht mehr Tag für Tag stundenlang zur Arbeit und zurück fahren zu müssen. Der letzte Arbeitstag z.B. (noch ohne Corona) hatte sich sehr prickelnd entwickelt: Zugausfälle und Verspätung in beide Richtungen! Danke, Metronom! Danke, HVV!

Den ersten Monat ‚in Freiheit‘ nutzte ich dank des schönen Wetters für Radtouren rund um meinen Wohnort. Und im Dezember ging es dann ja auf Weihnachten zu – ein letzter Tag auf der Arbeit zur Weihnachtsfeier.

Dann kam das Corona-Virus und sollte von nun an unser weiteres Leben beeinflussen. Als Rentner habe ich davon natürlich nicht allzu viel gemerkt. Gut zum Einkaufen muss auch ich mir diesen Schnutenpulli vors Gesicht binden. Aber auch sonst … und jetzt geht es wieder von vorn los: Vorerst für November 2020 gilt: Restaurants, Bars usw. müssen schließen, und Zusammenkünfte mit Personen aus mehr als zwei Haushalten sind untersagt.

Willi mit Gesichtsmaske
Willi mit Schnutenpulli

Die Reise mit meiner Frau im Mai zu Bekannten auf Sizilien mussten wir canceln. Inzwischen haben wir wenigstens das Geld für Bahn und Flug erstattet bekommen (hat bis zu fünf Monaten gedauert). Dafür machte ich dann die Radtour nach Cuxhaven mit meinen beiden Söhnen. War ja auch nicht schlecht!

Aber dann, aber dann … geht’s so richtig los!

Nun so richtig los ging es eigentlich noch nicht. Vieles, das auf meinen ‚Zettel‘ steht, ist noch nicht abgehakt. Dafür habe ich aber endlich wieder viel gelesen und komme in den vergangenen zwölf Monaten auf über 12.000 Seiten (oder fast 50 Bücher), wenn es mit James Joyce‘ Ulysses auch noch nicht geklappt hat (oder nur teilweise – ich traue mich nicht …). Einige der Bücher habe ich hier ja in den letzten Wochen vorgestellt.

Und dann habe ich den Griff in meine hauseigene Videothek (die wie von Geisterhand Tag für Tag größer wird) gewagt und mir Filme unterschiedlichstem Genre allabendlich ‚reingezogen: Neben den sonntäglichen Tatortfolgen viele andere Krimis in Miniserie: Countdown Copenhagen II (8 Folgen aus 2019), Trapped – Gefangen in Island (5 Folgen aus 2019), Hindafing (2. Staffel – 6 Folgen aus 2019), Der Pass (8 Folgen aus 2019), Die Frau aus dem Meer (6 Folgen aus 2019), Arctic Circle – Der unsichtbare Tod (10 Folgen aus 2018), Mammon (6 Folgen aus 2014), The Bay (6 Folgen aus 2019), Mammon (2. Staffel – 8 Folgen aus 2015), Dunkelstadt (6 Folgen aus 2020), Professor T (4. Staffel – 4 Folgen aus 2020), Kommissar Van der Valk (3 Folgen aus 2019), New Blood I – III (insgesamt 7 Folgen aus 2017), The Killing [Kommissarin Lund – Das Verbrechen] (1. bis 3. Staffel – insgesamt 40 Folgen 2007 – 2012), Darkness – Schatten der Vergangenheit (8 Folgen aus 2019), Dan Sommerdahl – Tödliche Idylle (4 Folgen aus 2020), Mord im Böhmerwald (8 Folgen aus 2018) und viele einzelne Folgen weiterer Krimiserien.

Von weiteren Serie habe ich geguckt: Doctor Who (4. bis 9. Staffel), Neues aus Büttenwarder (14. Staffel aus 2019), Unterleuten – Das zerrissene Dorf (3 Folgen aus 2020), Warten auf’n Bus (8 Folgen aus 2020), Die Kanzlei (4. Staffel – bisher 12 Folgen aus 2020), Oktoberfest 1900 (8 Folgen aus 2020), Sløborn (8 Folgen aus 2020), Pan Tau (14 Folgen aus 2020), Da is‘ ja nix (6 Folgen aus 2020), Babylon Berlin (3. Staffel – 12 Folgen aus 2020); Moloch (1. Staffel – 6 Folgen aus 2019) – und viele Filme von Regisseuren wie François Truffaut, Claude Chabrol, Eric Rohmer, Jean-Luc Godard, Wim Wenders, Werner Herzog, Rainer Werner Fassbinder, Klaus Lemke, Christoph Schlingensief, Alfred Hitchcock, Richard Lester, Jim Jarmusch, Brian De Palma, Roman Polanski u.v.m.

Und ab und zu habe ich – wie ihr seht – auch die Zeit gefunden, hier den einen oder anderen Beitrag zu veröffentlichen. Und so komme ich ins Rentenjahr No. 2 …

Martin Walser: Das Alterswerk

Inzwischen ist Martin Walser 93 Jahre alt. Und wie es aussieht, so geht es ihm auch in Corona-Zeiten noch ganz gut (siehe unten). Bis vor zwei Jahren war er zu Lesungen in der Republik unterwegs. Und neben Sammlungen von Reden, Aufsätzen usw. gab er bis zum Ende des letzten Jahres auch immer mindestens ein Prosastück zum Besten. Als Letztes hatte ich hier Walsers Roman Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte vom April 2018 besprochen. Wohl mit keinem anderen Schriftsteller habe ich mich soviel beschäftigt wie mit Martin Walser (d.h. ich habe ihn gelesen).

Martin Walsers Alterswerk
Martin Walsers Alterswerk

Zuerst möchte ich aber ein Buch aus dem Jahr 2017 ansprechen, das ein Gespräch zwischen Walser und Jakob Augstein wiedergibt:

Martin Walser – Jakob Augstein: Das Leben wortwörtlich – ein Gespräch (2017)

    „Ich würde nie eine
    Autobiographie schreiben.
    Das zwingt zu einer
    mir unangenehmen Art
    von Lüge. Die Lüge im
    Roman ist wunderbar.
    Sie ist eine Variation
    der Wahrheit.“

    Martin Walser

Martin Walser ist Schriftsteller. Jakob Augstein ist Journalist. Und sie sind Vater und Sohn.
2009 gab Jakob Augstein bekannt, dass Martin Walser sein leiblicher Vater sei, was er 2002 nach dem Tod von Rudolf Augstein durch seine Mutter erfuhr. Walser und Augstein trafen sich seither häufig.

Dieses Buch Das Leben wortwörtlich: Ein Gespräch, das ich in 1, Auflage Dezember 2017 – Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg vorliegen habe, könnte als eine Art Ersatz-Autobiographie gelten, denn in diesem Buch sprechen sie über das Leben von Martin Walser, über dessen Jugend in Wasserburg am Bodensee, über den Vater, der Hölderlin gelesen hat, und die Mutter, die das Gasthaus geführt hat. Sie sprechen über den Krieg, über das Schreiben, über Geld und das Spielcasino in Bad Wiessee, über Uwe Johnson und Willy Brandt. Sex ist kein Sujet, sagt Walser, und so sprechen sie stattdessen über das Lieben. Und dann über das Beten.

Jakob Augstein fragt Walser nach der umstrittenen Rede in der Paulskirche und der öffentlichen Fehde mit Marcel Reich-Ranicki. Und natürlich spielen Auschwitz und die deutsche Vergangenheit eine Rolle, ohne die das Leben und die Romane von Walser nicht zu denken sind. Und sie sprechen auch über sich.

„Das Leben wortwörtlich“ ist der gemeinsame Blick auf eine deutsche Lebensgeschichte, bewegend und voller überraschender Einsichten.
(aus dem Klappentext)

Jakob Augstein, geboren 1967 in Hamburg, studierte Politikwissenschaften, Germanistik und Theaterwissenschaften in Berlin und Paris. Er arbeitete für die „Süddeutsche Zeitung“, unter anderem als Chef der Berlin-Seite, und für die „Zeit“. 2008 übernahm er die Wochenzeitung „der Freitag“, deren Verleger und Chefredakteur er heute ist. Er ist Kolumnist bei „Spiegel Online“.

Du bist mein Vater.
Ein Umstand, der mich mit Freude erfüllt.
Als ich ein Kind war, wusste ich das nicht. Und vielleicht auch nicht. Ich war beinahe vierzig, als wir uns das erste Mal begegnet sind, du beinahe achtzig Jahre alt.
Ja, Jakob, wir waren beide zu alt.

Martin Walser: Spätdienst – Bekenntnis und Stimmung (2018)

    Süß ist es, lächerlich und steil,
    von einem Arschloch verrissen zu werden.
    Alles hab ich schon mir zuliebe probiert,
    euch zum Possen mach ich jetzt Gedichte.

    Martin Walser: Spätdienst (S. 57)

Was Martin Walser ‚Bekenntnis und Stimmung‘ in diesem Buch Spätdienst (habe ich in 2. Auflage Dezember 2018 – Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg) nennt, sind hunderte kurzer und kürzester Texte. Naturlyrisches neben Politischem, Reflexionen über Leben und Tod, Friedliches und Provozierendes, Abrechnungen mit «Feinden» im Feuilleton (von Reich-Ranicki und Karasek über Raddatz und Schirrmacher bis Löffler und Höbel): Gedanken, Gedichte, Aphorismen, Notate, begleitet von zarten Arabesken seiner Tochter Alissa. In seiner «formlosen Form» ist «Spätdienst» am ehesten vergleichbar mit Walsers «Meßmer»-Trilogie.

Für Gegner:
ein gefundenes Fressen

Für meine Leser:
vielleicht ein Ausflug
ins Vertraute

„Wie klingt die Zeit im Gewölbe der Nacht?“ Wer fragt das? Ein lyrisches Ich zwischen raren Glücksmomenten und Schwärze, Leere, Sturz. Beim Durchkämmen des Hundefells, beim Aufschneiden eines Apfels oder immer dann, wenn die Berge im Blau stehen, der Wind in den Bäumen rauscht, die Blätterschönheit den Atem stocken lässt, kommt sie auf, die Frage, ob das das Glück sei, denn lange währt sie nie. Schon fährt etwas dazwischen, Wörter, die weh tun, ausgesprochen von anderen, gegen die nur eines hilft: „Sich in Verse hüllen, als wären es Schutzgewänder, schön, weltabweisend, die Einbildung heißt Aufenthalt.“

Hier haben wir sie – die Summe, ja das Resultat der Poetik Martin Walsers. Hier lässt sich sein Realismus fassen wie nirgends sonst. Mehr als schön ist nichts. Oder: etwas so schön sagen, wie es nicht ist.

Martin Walser hat den Schmerz das Singen gelehrt, und aus den Zumutungen der Wirklichkeit destilliert er glasklare Gedanken. (aus dem Klappentext)

Ich muss aber
die Wörter wie’s Vieh auf die Weide treiben,
dass die Wörter wuchern über meine Wunden.
(S. 104)

Martin Walser: Mädchenleben oder Die Heiligsprechung – Legende (2019)

    Die Welt entspricht mir nicht, aber ich soll ihr entsprechen.

    Ich will nicht mehr sprechen müssen. Was ich denke, kann ich nicht sagen. Und etwas sagen, was ich nicht denke, kann ich auch nicht.

    Ich bin die Wächterin am Grab meiner Wünsche.

    Martin Walser: Mädchenleben (Aus Sirtes Tagebuch)

Es ist lediglich ein kleines Büchlein geworden, dieses Mädchenleben: oder Die Heiligsprechung (Originalausgabe – Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2019 – Umschlagabbildung: Alissa Walser), ein Werk von gerade 90 Seiten. Eine ‚Legende‘, also eine neue Facette in Walsers Werk. Viele Walser-Kritiker werden wohl den Kopf geschüttelt haben, als sie das Buch lasen. Für mich ist es ein Werk, das den Walser’schen Kosmos, der nun einmal meist am Bodensee spielte, abrundet. Religiösität spielt dort eine große Rolle.Walser zeichnet diese Legende allerdings in seiner ganz eigenen, sehr kraftvollen Art auf. Und …Zürn – da war doch was! Da war sogar eine ganze Menge im literarischen Walser-Universum! Es gab bereits einen Chauffeur Xaver Zürn («Seelenarbeit», 1979), einen Dr. Gottlieb Zürn («Das Schwanenhaus», 1980; «Die Jagd», 1980; «Der Augenblick der Liebe», 2004) – nun also Ludwig Zürn.

Für alle Walser-Leser ein Fest des Wiedersehens: Schon in seinen Tagebüchern aus dem Jahr 1961 finden sich Eintragungen zu „Mädchenleben“, und nun, fast sechzig Jahre später, hat er das dort Notierte zusammengetragen und zu etwas verwoben, das er „Legende“ nennt: die Geschichte des Mädchens Sirte Zürn, das, weil es seine eigenen Wege geht – plötzlich verschwindet, erst nach Tagen wieder auftaucht, sich im Sand eingräbt, bei Sturm in den See rennt -, nach Wunsch seines Vaters heiliggesprochen werden soll. Der Untermieter der Familie, der Lehrer Anton Schweiger, ist von diesem Einfall so entzündet, dass er alles sammelt, was es über das Mädchen zu erzählen gibt. Darüber gerät er mehr und mehr in ihren Bann.

Martin Walsers neues Buch besticht durch seine lebhaften, ungewöhnlichen Figuren, die in einer gleichsam entrückten Welt zu leben scheinen. Was ist mit Anton Schweiger, warum wohnt er als Lehrer zur Untermiete bei den Zürns, was bringt ihn dazu, nach Sirte eine solche Sehnsucht zu haben? Wie kommt ihr Vater auf den Gedanken der Heiligsprechung seiner Tochter, und was ist das für eine seltsame Ehe der Zürns, in der die Frau, während sie im Garten Lupinen setzt, von ihrem Mann zu Boden geworfen wird und er sich ein andermal mit Kuhfladen beschmiert? Mit Staunen lesen wir die herrlichen Walser-Sätze und lassen uns gefangen nehmen von der Geschichte eines jungen Mädchens, das anders ist als andere – zerbrechlich und sonderbar und ausgestattet mit einem ins Himmlische und Unwirkliche reichenden Gespür.

Über ein Mädchen, das wie kein anderes ist – ein schwebendes, klangschönes Alterswerk, das seine Rätsel bewahrt. (aus dem Klappentext)

Martin Walser: Sprachlaub oder Wahr ist, was schön ist (2021)

Nach dem ‚Gesetz der Serie‘ sollte eigentlich zum Jahresende ein weiteres Prosastück von Martin Walser erscheinen. Die Walser-Leser müssen aber dann doch noch bis zum 23. März im nächsten Jahr warten. Dann erscheint ein Buch, das den Titel „Sprachlaub oder Wahr ist, was schön ist“ trägt und mit Aquarellen von Walsers Tochter Alissa versehen ist, einen Tag vor Walsers 94. Geburtstag. Dabei soll es sich ähnlich dem ‚Spätdienst‘ um Sentenzen, Eingebungen, Reime, Aphorismen, also um „Augenblickspoesien“ oder „Augenblickstexte“ handeln.

Wie anfangs erwähnt: Walser erfreut sich auch in Corona-Zeiten noch guter Gesundheit. Erst vor einigen Tagen feierte es mit seine Frau Käthe Gnadenhochzeit. Das Paar ist also seit 1950 verheiratet: Eine Ehe ohne Liebe, das ist wie ein Auto ohne Motor!

Kurz und spitz (03): Kunst und wirkliches Leben

    Kunst und wirkliches Leben
    verhalten sich zueinander
    wie Onanie und Geschlechtsliebe.

Kurz und spitz: Kunst und wirkliches Leben
Kurz und spitz: Kunst und wirkliches Leben

Gut ein Viertel Jahrhundert habe ich in Bremen gelebt. Die Hansestadt an der Weser ist umgeben von Niedersachsen in seiner rustikalen Form. Da kam es schon öfter vor, dass ich mich mit Freunden und Bekannten aufmachte, das ländliche Umfeld zu erkunden. So ergaben sich z.B. auch Dorffeste, die wir besuchten. Und da ich in einer Musikgruppe spielte, so traten wir mit der Band (siehe: Schweine-Dachboden-und-Keller-Mucke) z.B. auf Feierlichkeiten mit ‚Tanz in dem Mai‘ hin und wieder auf.

Ich will aber nicht von unseren Auftritten erzählen, sondern von diesen anderen, oft sehr merkwürdigen Dorffesten. Auch später im weiteren Familienkreis gab es solche Feste, z.B. die goldene Hochzeit meiner Schwiegereltern: Da sorgte ein einzelner Musiker für die Stimmung und für die Tanzbegleitung. Das war dann ein Organist, der mit einem umfangreichen Equipment die Bühne füllte. Die meisten Tonsequenzen hatte dieser eigentlich längst eingespielt und brauchte nur noch die ‚Konserve öffnen‘. Eigentlich war nur der Gesang live (und das auch nur teilweise).

Wie auch immer: Solche Organisten nannten wir in Musikerkreisen nur Onanisten (schon der klänglichen Ähnlichkeit wegen), denn wir hatten immer den Eindruck, als könne sich so ein Organist/Onanist bei seinem Auftritt ‚einen Affen von der Palme wedeln‘. In diesem Blog habe ich öfter schon über diese musikalische Selbstbefriedigung geschrieben. Hier nur zwei Zitate:

… in früheren Zeiten sprachen wir da nicht mehr von Organisten, sondern Onanisten, die sich gewissermaßen an ihrem Instrument selbst befriedigten …

Früher gab es ja das berühmte Schlagzeugsolo, ich erwähnte es bereits. Die richtige Zeit, um aufs Klo zu gehen. Ähnlich verhielt es sich mit schier endlosen Gitarrensoli. Die kamen manchmal einer in aller Öffentlichkeit vollzogenen Selbstbefriedigung gleich. Ein solcher Onanist war Hendrix.

Helge Schneider bezieht Prügel von Schimanski

Gestern sah ich einen alten Tatort (Folge 159) aus Duisburg, also mit Schimanski: Zweierlei Blut – aus dem Jahr 1984. Der WDR hat die alten Tatort-Folgen aus Duisburg aufgehübscht. Diese sind jetzt in der Mediathek aufrufbar. Jede Woche kommt eine neue Folge hinzu.


Tatort 159 aus Duisburg (1984) Zweierlei Blut (Schimanski)

Die Folge „Zweierlei Blut“ enthält ein kleines Schmankerl (wie die Bajuwaren sagen): einen Miniauftritt von Helge Schneider in jungen Jahren.

(1) Helge Schneider als MSV-Duisburg-Fan
(1) Helge Schneider als MSV-Duisburg-Fan

1984 wurde er vom Arbeitsamt Köln an einen Schimanski-„Tatort“ vermittelt. Im Interview mit der „Az“ verriet der 64-Jährige, wie das war. Er sagte: „Ach, den Schimanski hab‘ ich damals gar nicht so wahrgenommen.“ Auf die Frage, welche Rolle er damals hatte, sagte er: „Irgendso ‘nen Typen von einer Rockerbande. So ‘nen ganz Fiesen. Einmal musste ich auf einen einprügeln, und dann hat der mich sofort umgehauen.“ Hört sich nach einem tollen Job an, es gab aber einen Haken. Schneider sagte weiter: „Irgendwann wurden dann beim Dreh alle Rocker versammelt, und einer sagte zu mir: „Du nicht.“ Dabei wollte ich doch berühmt werden! Ich hatte auch noch andere Jobs beim Fernsehen.“ (Quelle: fan-lexikon.de/musik)

(2) Helge Schneider als MSV-Duisburg-Fan guckt nach dem Ball
(2) Helge Schneider als MSV-Duisburg-Fan guckt nach dem Ball

Tatsächlich kommen sich Rocker und angeblicher MSV Duisburg-Fan Helge und Schimanski beim Kampf um einen Ball kurz ins Gehege.Die Szenen mit Helge Schneider beginnen nach genau 35 Minuten und enden nach gut einer Minute. Zunächst sitzt Rocker Helge auf der Lehne einer Parkbank (1). Dann greift er ins Geschehen ein: ein Ball wird hin- und hergeworfen. Beim Versuch, den Ball zu erhaschen (2), kommt ihn Schimanski zuvor. Dieser schubst ihn dann mit dem Ball. Helge fällt zu Boden, fasst sich noch einmal ins Gesicht … und verschwindet auf Nimmerwiedersehen.

Natürlich ist das nicht der erste Tatort mit besonderem Besuch. Ebenfalls in einem Duisburg-Tatort laufen sich Schimanski und Jan Fedder (Brakelmann aus Neues aus Büttenwarder) über den Weg. Und in einem Tatort aus München (… und die Musi spielt dazu (1994)) sind die Toten Hosen als Seemannsquintett „Andi Frege und seine Wasserratten“ in Matrosenanzügen zu sehen (Matrosenanzüge als norddeutsches Pendant zur Bayerntracht).

Saschas unglaubliche ‚Aura‘

Am Wochenende erreicht die Lage in Belarus einen Punkt, der für die weitere Entwicklung maßgebend sein könnte. Das Ultimatum von Swetlana Tichanowskaja, der Präsidentschaftskandidatin der Opposition, läuft am Sonntag aus. Darin forderte sie:

1. Lukaschenko muss seinen Rücktritt bekannt geben
2. Gewalt auf den Straßen muss vollständig aufhören
3. Alle politischen Gefangenen müssen freigelassen werden

Ansonsten soll es vermehrt Streiks im Lande geben. Ob das Ultimatum so sinnvoll ist, mag ich zu bezweifelt. Immerhin heißt es, dass den Arbeitern erster Betriebe eine Lohnerhöhung versprochen wurde, was zeigt, dass die Staatsführung unter Lukaschenko ‚kalte Füße‘ bekommt, oder?

Apropos: Lukaschenko und Swetlana Tichanowskaja, die gezwungenermaßen nach Litauen ausreisen musste. Angeblich bat sie Sascha (Alexander Lukaschenko) mit Tränen in den Augen in seinem Arm liegend um die Ausreise und um 15.000 Dollar ‚Reisegeld“. Und auch Sergei Tichanowski, Swetlanas Ehemann und vormals Präsidentschaftskandidat, bevor er Ende Mai verhaftet wurde, der mit anderen inhaftierten Vertretern der Opposition zu dem ominösen Gespräch mit Sascha geladen war, soll sich, nachdem er sich angeblich ‚ungehörig‘ gegen Lukaschenko geäußert hatte, von der ‚Aura‘ des Präsidenten beruhigt worden sein. Eher ist er von dem stundenlangen Geschwafel Lukaschenkos in Tiefschlaf gefallen.

Lukaschenko hat einen Stich
Lukaschenko hat einen Stich

Am Sonntag sollten auch die ‚Anhänger‘ Lukaschenkos Flagge zeigen. Angeblich wusste Lukaschenko nichts von der Kundgebung zu seiner Unterstützung. Und als er es herausfand, sprach er sich aus Sicherheitsgründen dagegen aus. Für ihn genügt es zu sagen, dass „etwa 250-300 Tausend“ seiner ‚Anhänger‘ gekommen wären. Warum 300.000 und nicht 3 Millionen?! – Oder 30 Millionen? Ach, so viele Einwohner hat Belarus ja nicht …

Natürlich gibt es Befürworter für Lukaschenko. Das Problem ist aber, dass die Medien in Belarus mittlerweile komplett gleichgeschaltet sind, und wenn man nicht explizit im Internet sucht, nur noch mit Propaganda gefüttert wird. Gerade die Leute vom Dorf und die Rentner sind davon am meisten betroffen.

Aber von wegen Rentner: Da gibt es z.B. die 73-jährige Nina Baginskaja oder die 82-jährige Zoya Nikolaevna, die beide keinen Minsker Protestmarsch auslassen. Besonders Nina Baginskaja ist zum Inbegriff des Protestes gegen das Regime in Minsk geworden.


Marsch der Rentner

Wenn es nicht so ernst wäre, müssten wir lachen! Denn bei den Protesten von August bis September 2020 wurden in Minsk mindestens 1.376 Menschen von Sicherheitskräften verletzt. Jeder Dritte wurde schwer verletzt. Es gab mindestens drei Fälle sexueller Gewalt, eine der Vergewaltigten war minderjährig.

Die Behörden sind daran interessiert, die Proteste zu radikalisieren: Die Geschichten von den von Demonstranten verletzten Bereitschaftspolizei, beschädigte und verbrannte Autos von Polizisten und staatlichen Medien, Angriffe mit Molotow-Cocktails auf staatliche Institutionen usw. sind Lieblingsthemen regierungsnaher Journalisten. Schauen Sie, wie der Protest radikalisiert wird, dieser ist alles andere als friedlich – Militante und Kriminelle gehen durch die Straßen!

Der erste stellvertretende Innenminister von Belarus, Gennadi Kasakewitsch, erklärte: In dieser Hinsicht sind die Sicherheitsbehörden bereit, erforderlichenfalls Spezialausrüstung und Militärwaffen einzusetzen. Nach dem stellvertretenden Innenminister erklärte Mikalai Karpiankou (Karpenkow), GUBOPiK-Chef (auch GUBAZIK – Sondereinheit gegen organisiertes Verbrechen und Korruption) seine Bereitschaft, auf Zivilisten zu schießen: „Wenn sie sich widersetzen, werden wir Waffen einsetzen.“ Das ist der Mann, der gern auch mal persönlich mithilft, um z.B. die Glastüren eines Cafés zu zertrümmern. Nach seiner Meinung sind die Demonstranten „Banditen, Terroristen und Schläger“, die von Verschwörern und Koordinatoren aus dem Westen angeführt werden. Sie sind mit Messern, Molotow-Cocktails, Metallstangen u.v.m. bewaffnet. Die Polizei war nicht die erste, die Gewalt anwendete. Sie reagierten nur auf Aggressionen. Die Polizei setze moderate Gewalt gegen „überhaupt nicht friedliche Demonstranten“ ein. Und weiteres an hirnrissigen Anschuldigungen.

Mikalai Karpiankou (Karpenkow), Chef der Sondereinheit gegen organisiertes Verbrechen und Korruption, im 'Einsatz'
Mikalai Karpiankou (Karpenkow), Chef der Sondereinheit gegen organisiertes Verbrechen und Korruption, im ‚Einsatz‘

Und da gibt es viele Nadelstiche der Behörden: Anwälte, die die inhaftierten Regierungsgegner vertreten, verlieren ihre Zulassung. Gefangene, die nur donnerstags von ihren Verwandten mit Kleidung und Lebensmittel versorgt werden dürfen, werden noch am Donnerstagmorgen in andere Gefängnisse verlegt. Rektoren mehrerer Universitäten in Minsk wurden entlassen und durch ‚lilientreue‘ Beamte ersetzt, weil sie ihre Studenten nicht ‚in Zaum halten‘ können.

Belarus gibt als Silicon Valley des Ostens. Inzwischen sollen bereits 45 % aller belarusischen Start-up-Unternehmen entschieden haben, dem Land den Rücken zu kehren. Darunter auch viele IT-Firmen. Schon jetzt erleidet Belarus schwere wirtschaftliche Verluste.

Überhaupt das Geld: Nur hier kann man Lukaschenko und seinen Getreuen beikommen: Es steht wohl außer Frage, dass dieses Gesindel sein Geld im westlichen Ausland angelegt hat. Da ist z.B. eine Tochter von Lukaschenko, die ihre Gelder in einem Immobilienunternehmen auf Zypern investiert hat. Es helfen so nur strikte Sanktionen – auch gegen die Familienmitglieder. Die Gelder müssen eingefroren werden (am besten eingezogen und später dem belarusischem Volk, dem sie gestohlen wurden, zurückgegeben werden). Die EU reagiert nur halbherzig auf die brutale Gewalt. Da ist die Vergabe des Sacharow-Preises durch das Europäischen Parlament an die demokratische Opposition in Belarus, repräsentiert durch den Koordinierungsrat, nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.

François Truffaut: Der Wolfsjunge (1970)

Auf arte.tv werden in diesem Tage Filme von François Truffaut ausgestrahlt, u.a. der 1970 in Schwarz/Weiß uraufgeführte Film Der Wolfsjunge (Originaltitel: L’Enfant sauvage). Truffaut war Mitglied und maßgeblicher Begründer der Ende der 1950-er Jahre entstandenen Nouvelle Vague („Neue Welle“), einer Stilrichtung des französischen Kinos, zu der weitere bedeutende Regisseure wie Jean-Luc Godard, Claude Chabrol und Éric Rohmer sowie viele andere gehörten.

Truffaut als Dr. Itard und der 'Wolfsjunge' Victor machen Sprechübungen
Truffaut als Dr. Itard und der ‚Wolfsjunge‘ Victor machen Sprechübungen

Den Film ‚Der Wolfsjunge‘ habe ich als jungen Mensch wohl in den 1970-er Jahren zum ersten Mal gesehen und war beeindruckt. Er spielt um das Jahr 1800 in Frankreich und zeigt die Lebensgeschichte des Wolfsjungen Victor von Aveyron nach dem Dokumentarbericht Mémoire et rapport sur Victor l’Aveyron des Arztes Jean Itard. Der Wolfsjunge wurde in einem dokumentarfilmähnlichen Stil in Schwarzweiß gedreht und gehört zu den Schlüsselwerken des Regisseurs. Truffaut, der selbst die Rolle des Dr. Itard spielt, verbindet hier zwei seiner Kernthemen: Kinder und Bildung. Der mit geringem Etat gedrehte Film erhielt eine Reihe von Preisen und stieß in Frankreich und in den USA über Cinéastenkreise hinaus auf eine unerwartet große Resonanz.


François Truffaut: Der Wolfsjunge (1970) – (englischer Trailer: The Wild Child)

Um den jungen Schauspieler in „Der Wolfsjunge“ besser in Szene setzen zu können, beschloss François Truffaut, die Rolle des Tutors selbst zu spielen. Da ist die Schönheit, die Welt zu entdecken, und die Grausamkeit der Ablehnung durch andere. Da ist die plötzliche schlechte Laune der erschöpften Kindheit und, in einem Wimpernschlag, die Liebe zum anderen, die plötzlich erwacht.

Für mich ist dieser Film einer der besonderen. Truffaut spielt den Arzt mit großer Einfühlsamkeit, wie ich sie heute in unserer Welt leider oft vermisse. „Der Wolfsjunge“ zeigt, dass sich erst in entsprechender sozialer Umgebung die natürlichen Anlagen des Menschen entfalten können. Außerhalb der Zivilisation bleibt der Mensch ein Tier.

Leider ist der Film nicht in der Mediathek von arte.tv aufrufbar. Er wird allerdings am 27.10.2020 morgens um 1 Uhr 25 wiederholt. Schade, denn auch die anderen, wirklich sehenswerten Filme von Truffaut werden im Netz nicht gezeigt (anders als vor Zeiten bei den Filmen von Chabrol und Rohmer).

Hierzu empfehle ich auch die Erzählung Das wilde Kind von T.C. Boyle

Kurz und spitz (02): Weg und Ziel

Wer das Ziel erreicht, verfehlt alles Übrige.
Danilo Kiš

Kurz und spitz: Weg und Ziel
Kurz und spitz: Weg und Ziel

Da fällt mir natürlich gleich Konfuzius‘ Spruch ein: Der Weg ist das Ziel. Und der ‚alte Meister‘ des Daoismus, der Lehre vom Weg, Lao-Tse und sein „Heiliges Buch vom Weg und der Tugend“ (Tao-Tê-King) .

Der Weg ist das Tun und Schaffen, das oft sehr mühevoll sein kann. Ist das Werk vollbracht, das Ziel erreicht, dann mögen wir die Lorbeeren ernten (innere Zufriedenheit erlangen), aber das ist dann auch das ENDE. Wir müssen uns auf einen anderen Weg machen.

siehe auch:
Kurz und spitz (01): Polterer

Russische Wochen (5) – Vladimir Kazakov: Unterbrechen Sie mich nicht, ich schweige!

Als ich mir das Buch vor vielen Jahren kaufte (1994 – denke ich), hatte es mir der absurde Titel angetan. Beim Lesen der sämtlichen Dramen von Vladimir Kazakov (in deutscher Transkription: Wladimir Kasakow) war ich zunächst etwas enttäuscht. Aber von Drama zu Drama – und es handelt sich um Minidramen von manchmal nicht einmal zehn Seiten Länge – fand ich zunehmend Gefallen an diesem Buch unter dem Titel Unterbrechen Sie mich nicht, ich schweige! -– Edition Akzente Hanser 1990, München Wien – aus dem Russischen von Peter Urban.

Mit Vladimir Kazakov betritt ein Schriftsteller die Bühne (der Literatur), der das genaue Gegenteil zu dem ist, was wir uns unter einem russischen Autor vorstellen: seine komischen Lese-Stücke und verspielten Scharaden sind kleine Meisterwerke eines metaphysischen Lachtheaters, auf dem die großen Gesten respektlos unterbrochen, die pathetischen Weltentwürfe genüßlich zertrümmert werden. Eine Mischung aus Karl Valentin und Daniil Charms.
Vladimir Kazakovs verrückte Meisterstücke eines metaphysischen Lachtheaters haben den großen Vorteil, daß sie nur drei Minuten dauern und in jedem Kopf mühelos aufzuführen sind. Wer es nicht glaubt, muß selbst dran glauben.
(aus dem Klappentext)

Nun die Dramen sind nicht nur zur Aufführung für den Kopf gemacht, sondern wurden 1993 im Mousonturm Frankfurt und in der Kampnagel Fabrik Hamburg, Regie: Birgitta Linde – mit Ulrich Cyran – auch auf die Bühne gestellt.

Viel ist es nicht, was ich über den Autor finden konnte. Vladimir Kazakov wurde am 29.08.1938 in Moskau geboren und verstarb dort am 23.06.1988. Er trat 1972 der russisch-orthodoxen Kirche bei. Als Schriftsteller stand er in der Tradition des Futurismus, schrieb surrealistisch-absurde Kurzprosa und »Szenen«, die in der Sowjetunion bis 1989 nicht veröffentlicht werden konnten.

Vladimir Kazakov: Unterbrechen Sie mich nicht, ich schweige! - Sämtliche Dramen
Vladimir Kazakov: Unterbrechen Sie mich nicht, ich schweige! – Sämtliche Dramen

Diese Welt ist merkwürdig streng, gläsern, scharf, kalt. Stein, Eisen und Glas sind die Materialien, aus denen sie hauptsächlich besteht, zu ihrem Inventar gehören – den Menschen gleichgestellt und gleichberechtigt: die steinernen Wände, Hausmauern, Hausdächer, Fenster, der Spiegel, die Uhr. Vermessen werden die Beziehungen, Brechungen, Winkel, Schwingungen, die zwischen diesen Gegenständen entstehen – durch die Luft, durch das Licht und vor allem durch die Zeit, eine Zeit allerdings, die nicht identisch ist mit derjenigen, die die Uhr anzeigt, Zeit, die von Uhren, in Sekunden und Minuten gar nicht meßbar erscheint, eine Zeit, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einer beherrschenden Gleichzeitigkeit verschmelzen.
In dieser Gleichzeitigkeit agieren Menschen oder Personen, die wie surreale Puppen oder gar körperlos sich bewegen, sie erscheinen wie Gespenster, verschwinden wie Gespenster und offen bleibt letztlich, ob es sich bei diesen Kunstfiguren um Menschen handelt, die nicht nur eine Stimme, sondern auch einen realen Körper besitzen, oder um Geister, Erscheinungen, Spiegelungen, Stimme gewordene Erinnerungen, die, in der Stille der Kazakovschen Welt, mehr schweigen als reden.

[…]
In Kazakovs Dialog sind die Regeln und Verbindlichkeiten des allgemeinen Sprachgebrauchs aufgehoben. Kazakovs Personen sehen und hören das Wort jedesmal neu, sie erfahren die Wörter gleichsam staunend, als hörten und sagten sie sie immer wieder zum ersten Mal. Sie sind fähig, sich am Wort „Messer“ die Zunge zu verletzen, fähig, sich am Wort „Glas“ zu schneiden, sie empfinden die scharfe Spitze des Sekundenzeigers als ständige Bedrohung, das Wort „Sekunde“ ist für sie ein Stich, ist für sie – seinen sie nun körperlos oder reale Menschen – physische Wahrnehmung, Schmerz.
(aus dem Nachwort von Peter Urban)

Ich bin ein Freund des Surrealen, des Absurden. Was den meisten als grober Un-Sinn erscheint, hat aber unter seiner rauen Schale oft mehr Sinn als manches, was uns als Sinnvolles verkauft wird. Und wenn es dann doch total absurd ist, dann bringt es uns wenigstens zum Lachen. Das hat dann auch viel Sinn!

Ich habe mir einige Textpassagen im dem Buch unterstrichen, weil diese mir besonders gut gefallen oder ich sie auf bestimmte Weise bemerkenswert finde. Da das Buch leider nicht mehr verfügbar ist (außer im Antiquariat), hier einige dieser Sprüche, um sie gewissermaßen „der Nachwelt“ zu erhalten:

Gibts das andre, gibt es auch das eine.

Ich habe noch 183 Wörter zu leben.
Oder 5 Küsse.

Ich gehe über die Straße und sehe plötzlich, daß ich vergessen habe, aus dem Haus zu gehen.

Man sollte meinen, alles sei bereits gesagt. Aber es gibt auch vieles Nichtgesagte. Also schweigen wir.

Aber das ist ein schlechtes Thema zum Schweigen.

Ob Schlinge oder Schlips ist unwichtig. Auf den Hals kommt es an.

Dieser Himmel ist sehr unbeständig, stellen wir uns unter einen anderen.

Ich erinnere mich nicht, wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt.

Ich rührte mich nicht, aus Angst, meinen Mut zu erschrecken.

Eine Minute besteht aus 60 Fragezeichen …

Das ist das Schicksal aller Unglücklichen – begraben zu werden zusammen mit dem eigenen Glück.

Unter zwei Übeln wähle ich das mittlere.


Meine Liebe ist wie das erste Eis des Winters, noch nicht fest genug.

„Wenn Ungerechtigkeit zum Gesetz wird, wird Widerstand zur Pflicht.“

Da gibt es die Unruhen in Kirgistan, in Chabarowsk finden seit Wochen Anti-Kreml-Proteste statt. Der Streit um Bergkarabach zwischen Armenien und Aserbaidschan hat einen neuen Höhepunkt in den kriegerischen Auseinandersetzungen erreicht. Und in den USA werden weiterhin Schwarze von Polizisten und rechtsextremistischen Trump-Anhängern getötet (Black lives matter!) In was für einer Welt leben wir?

Und in Belarus gehen die Menschen weiterhin auf die Straße, um gegen den Wahlbetrug durch Alexander Lukaschenko zu protestieren. Seit Neuestem sind es die Rentnerinnen und Rentner, die montags demonstrieren und gegen die die so genannten Sicherheitsbeamten zuletzt mit bisher unbekannter Härte vorgegangen sind: Es gab Verhaftungen und u.a. den Einsatz von Pfefferspray und Blendgranaten. Am Samstag demonstrieren weiterhin die Frauen und am Sonntag alle gemeinsam gegen Lukaschenko: Ihre Forderungen wie sie Swetlana Tichanowskaja in einem Ultimatum formuliert:

1. Lukaschenko muss seinen Rücktritt bekannt geben
2. Gewalt auf den Straßen muss vollständig aufhören
3. Alle politischen Gefangenen müssen freigelassen werden

Belarus 2020: Verhaftung mit Blume
Belarus 2020: Verhaftung mit Blume
Übrigens: Die junge Frau wurde heute zu einer Strafe von 810 Rubel verurteilt

Das Wochenende begann mit einer Überraschung: Am Samstag, den 10. Oktober, kam es zu einem äußerst ominösen Treffen zwischen Lukaschenko und zwölf inhaftierten Vertretern der Opposition im Untersuchungsgefängnis des KGB. Auch Maria Kolesnikowa, die belarussische Oppositionsführerin, war dazu eingeladen, weigerte sich aber teilzunehmen: „Ich bin glücklicher in meiner Zelle.“

Natürlich kann ein solches Treffen nur als absurd bezeichnet werden: Da kommt der ‚Gefängnisdirektor‘ zu seinen Gefangenen und hält ihnen Vorträge über seine Dialogbereitschaft, die er spätestens an den folgenden Tagen dank seiner Schlägertrupps widerlegt.

Und über den Internetauftritt von BelTA, der staatlichen Nachrichtenagentur von Belarus, erzählt der Märchenonkel Lukaschenko, was er von der angeblich neuen Taktik der Straßenproteste hält; sein Fazit: „Destruktivität dieser Bewegung liegt auf der Hand“. Scheinbar hat der Übersetzer fürs Deutsche die Kurve gekratzt, dafür wurde der Google Übersetzer benutzt, der Text ist sehr blumig. Lukaschenko spricht von einer Buntrevolution (Farbrevolution) und bezieht sich hierbei aufgrund früherer Äußerungen auf die Ukraine und Euromaidan, als die Lage dort eskalierte und zuletzt Präsident Janukowytsch abgesetzt wurde. – Die belarusischen Demonstranten bezeichnet Lukaschenko als Radikale. Hier gibt er sich wieder sehr ‚väterlich‘ und verweist auf die kilometerlangen Staus, die die Demonstranten verursachen. Und: „Die Eltern können ihre Kinder nicht wegen Schreie auf den Straßen ins Bett bringen.“

Er unterstellt den Protestierenden Gewaltbereitschaft. Das folgende Foto verdeutlicht es besonders:

Am 11. Oktober richtete ein Sicherheitsbeamter eine Schrotflinte auf eine radikale Demonstrantin, die mit einem Regenschirm bewaffnet war
Am 11. Oktober richtete ein Sicherheitsbeamter eine Schrotflinte auf eine radikale Demonstrantin, die mit einem Regenschirm bewaffnet war

Am Rande: Während der Proteste am Wochenende wird meist das mobile Funknetz unterbrochen, um den Austausch von Informationen zwischen den Demonstrierenden zu verhindern. Aber die Menschen wissen sich zu helfen. Wie auf dem folgenden Bild, so geben Anwohner ihr WLAN für die Nutzung frei:

Freies WLAN für Protestierende
Freies WLAN für Protestierende

Darja Domratschewa ist die wohl auch bei uns bekannteste ehemalige Sportlerin aus Belarus, die u.a. viermal Gold bei Olympischen Winterspielen im Biathlon gewann. Sie ist mit dem ‚König‘ der Biathleten, dem Norweger Ole Einar Bjørndalen, verheiratet. Sie war das Aushängeschild des belarusischen Sports und wurde so besonders von Lukaschenko hofiert, der u.a. auch Präsident des Nationalen Olympischen Komitees von Belarus ist.

Nun geschah am Sonntag etwas, was hätte nicht geschehen dürfen. Der ältere Bruder von Darja Domratschewa, Nikita Domratschew, wurde von Lukaschenkos Schergen von seinem Rad gerissen, brutal geschlagen und dann verhaftet, obwohl er an den Protesten nicht teilnahm. Eigentlich wollte er nur sein Fahrrad wieder haben. Dabei erlitt er u.a. schwere Kopfverletzungen.


Nikita Domratschew, Bruder von Darja Domratschewa, wird verhaftet

Darja Domratschewa hat sich bisher eher zurückhaltend geäußert. Auch jetzt reagierte sie leider viel zu vorsichtig. Es wäre sinnvoll, wenn sie ich direkt an Lukaschenko wenden würde. Hat sie etwas zu verlieren?

Lukaschenko klebt weiterhin an seiner Macht. Das Treffen mit den inhaftierten Oppositionellen diente doch nur dazu, eine vermeintliche Gesprächsbereitschaft zu zeigen: ‚Seht, ich bin zu Gesprächen bereit. Aber die wollen nicht und gehen weiterhin auf die Straße!‘ Und so werden seine Schlägertrupps und Folterknechte immer brutaler. Selbst vor Unbeteiligten wird nicht Halt gemacht, wie der Fall Nikita Domratschew zeigt. Und viele fürchten inzwischen, dass Lukaschenko auch vor dem Gebrauch von Waffen nicht zurückschreckt.

Eine junge Frau bringt es mit einem Plakat, das sie den Schlägern Lukaschenkos entgegen hält, auf den Punkt. Dort steht auf Belarusisch (Weißrussisch):

„Калі несправядлівасць робіцца законам, супраціў робіцца абавязкам“ – „Wenn Ungerechtigkeit zum Gesetz wird, wird Widerstand zur Pflicht.“

… alte weiße Männer (2): Trump und Biden

Nein, zu behaupten, dass die USA keine Kultur hätte, ist sicherlich falsch, wenn es auch so scheint, wenn wir das Fernsehduell der alten weißen Männer um die Präsidentschaft gesehen haben. Natürlich habe ich mir diesen Dreck nicht angeschaut, das wäre vergeudete Lebenszeit.

Sprechen wir von Debattenkultur, dann meinen wir sicherlich etwas anderes als das, was uns da die Herren Trump und Biden geboten haben. Besonders Herrn Trump geht es nicht um Sachthemen, die ein ernsthaftes Streitgespräch ausmachen sollten. Wie die nun bald vier Jahre zuvor pöbelt er und verbreitet nichts als Lügen, auf dass sich die Balken schon nicht mehr biegen, sondern längst verbrochen sind. Aber da erzähle ich ja nichts Neues.

Warnung vor alten, weißen Männer! (nur eine Auswahl!)
Warnung vor alten, weißen Männer! (nur eine Auswahl!)

Was mich geradezu erschüttert, ist die Tatsache, dass die Demokratische Partei der USA keinen anderen Kandidaten gegen den 74-jährigen Donald Trump aufzustellen wagte, als den bald 78-jährigen Joe Biden. Zwei alte weiße Männer kämpfen da um das mehr oder weniger wichtigste Amt unseres Planeten. Grausam!

Da wundert es kaum, dass die jungen Menschen keinen Bock auf Politik haben. Joe Biden werden sie nur deshalb wählen, weil er nicht Trump ist, weil sie die Schnauze von diesem egomanen Psychopathen endgültig voll haben.

Aber da gibt es ja noch etwas, was vielleicht für Biden spricht: Kamala Harris, Bidens 55-jährige Kandidatin für das Amt der Vizepräsidentin. Sollte nämlich Biden gewählt werden, die vier Jahre Amtszeit aber nicht überstehen, dann wäre Frau Harris als Vizepräsidentin in der Nachfolge des Präsidenten die erste Person, die im Falle des Todes, des Rücktritts oder der Amtsenthebung des Präsidenten dessen Amt übernimmt.

Allein wegen des Alters von Trump und Biden denken viele Amerikaner diesmal genauer als sonst darüber nach, ob sie auch den Vizepräsidentschaftskandidaten zutrauen, den Top-Job zu übernehmen. Und zumindest was TV-Duelle angeht, ist klar: Die können das. Sogar ein bisschen besser.

Am Dienstag, den 3. November, also in weniger als vier Wochen, ist es soweit: Die USA wählt ihren Präsidenten. Sollte tatsächlich Joe Biden neuer Präsident werden, dann bin ich gespannt, wie sich Donald Trump verhalten wird. „Kampflos“ wird er das weiße Haus nicht räumen. Ich fürchte, die Nationalgarde muss Herrn Trump beim Auszug helfen. Es wird spannend!

siehe auch:
… alte weiße Männer (1): A. Lukaschenko
Virus des Irrsinns
What a Year?!

Blühende Mimose

Auf rosig reimt sich ‚mimosig‘, und wenn es sich bei beiden, Rose und Mimose, auch um als große Sträucher blühende Pflanzen handelt, so ‚behandeln‘ wir beide doch eher gegensätzlich. Die Rose ist das Sinnbild für Schönheit, für Glanz und Gloria. Die Mimose steht für ihre ‚Mimosenhaftigkeit‘, sie ist überaus empfindlich und reagiert übertrieben auf Einflüsse von außen.

Wird die Mimose berührt, so klappt die Pflanze die betroffene Region blattweise ein. So reagiert sie auf Erschütterung, schnelle Abkühlung oder schnelle Erwärmung, außerdem auch auf Änderung der Lichtintensität. Nach einigen Minuten strecken sich die eingezogenen Zweige und Blätter wieder aus.

    Reaktion einer Mimose auf mechanischen Reiz
    Reaktion einer Mimose auf mechanischen Reiz (Autor: Hrushikesh)

Wir haben schon seit mehreren Jahren eine Mimosenpflanze bei uns in der Küche stehen. Lange sah es so aus, als würde sie undank ihrer Empflindlichkeit bald das Zeitliche segnen. Aber in diesem Jahr hat sie sich richtig prächtig erholt und auch endlich die ersten, bemerkenswerten Blüten entwickelt, die es mit den Blüten einer Rose durchaus aufnehmen können.

Blühende Mimose (Mimosa pudica)
Blühende Mimose (Mimosa pudica)

Da sich Mimose also auf Rose reimt (da reimt sich manches), so habe ich geschaut, ob es entsprechende Gedichte gibt, die beide Pflanzen zum Thema haben und fand diese Liebeserklärung an die Mimose:

Weil jeder sie so entzückend
Grün und natürlich fand,
Ging die große Mimose
Von Hand zu Hand.

Und ging und lebte, ward müde und schlief,
Und ward herumgereicht.
Und wünschte sich vielleicht – vielleicht! –
Ganz tief,
So unempfindlich zu sein
Wie ein Stein.

Und wie sie trotzdem wunderbar
Organisch grün und wissend klar
Gedieh,
Umschwärmten, liebten, achteten sie
Die Menschen und die Tiere,
Merkten aber fast nie,
Daß sie keine Rose,
Daß sie eine große Mimose war.

Jene Große von Joachim Ringelnatz