Kategorie-Archiv: Literatur

WilliZ Welt der Literatur

Ben Lyttleton: Elf Meter – Die Kunst des perfekten Strafstoßes

Champions-League-Finale 2012, FC Bayern München gegen FC Chelsea, Elfmeterschießen. Wie schaffte es Torwart Petr Čech, sechsmal in die richtige Ecke zu springen? Und warum versagten auf Seiten der Bayern ausgerechnet erfahrene Spieler wie Schweinsteiger und Robben?

Auf der Suche nach dem Geheimnis des perfekten Elfmeters sprach Ben Lyttleton mit Spielern, Trainern und Sportwissenschaftlern. Er erfuhr, welcher Teufel Panenka ritt, als er den entscheidenden Elfmeter im EM-Finale 1976 elegant über Sepp Maier hob. Er diskutierte mit Jens Lehmann, warum die Deutschen so gut im Elfmeterschießen sind. Und er lernte, welche körperlichen und mentalen Faktoren den Schützen beeinflussen. Gleichzeitig erzählt dieses Buch von den größten Elfmeterdramen, den sichersten Schützen, den besten Elfmeterkillern, aber auch von tragischen Helden wie Roberto Baggio, der im WM-Finale 1994 den entscheidenden Schuss vergab.

Wie berichtet, habe ich mich vor einiger Zeit für ein Abonnement der Monatszeitschrift 11 Freunde – Magazin für Fußballkultur entschieden. Mir gefällt das ganz einfach, wie hier witzig, sogar auf gewissem höheren literarischen Niveau über Fußball gefachsimpelt wird. Wirklich empfehlenswert. Als Abonnent kann man an immer neuen Auslosungen teilnehmen und dabei vor allem Bücher über Fußball gewinnen. Ich habe es öfter gewagt – und gewonnen! Vielen Dank!

    WilliZ Dauerkarte bei ‚11 Freunde‘

Eigentlich habe ich bei solchen Sachen kein Glück. Aber diesmal klappte es. Und das Buch, das ich gewann, habe ich inzwischen mit viel Spaß gelesen: Ben LyttletonElf Meter: Die Kunst des perfekten Strafstoßes – aus dem Englischen von Olaf Bentkämper – Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel Twelve Yards. The Art and Psychology oft he Perfect Penalty – Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2015.

    Ben Lyttleton: Elf Meter – Die Kunst des perfekten Strafstoßes

In einer der Ausgaben der „11 Freunde“ (#163 Juni 2015) hatte dann auch schon der stellvertretende Chefredakteur des Magazins, Tim Jürgens, eine Rezension des Buches geschrieben (die ich hier sicherlich ungestraft wiederholen darf):

Die Entschlüsselung des Elfmeter-Codes

Wie viel besser wäre es um den englischen Fußball bestellt, gäbe es mehr Typen wie Matt Le Tissier? Im Gegensatz zu seinen Kollegen empfand es das Enfant terrible nämlich stets als Hochgenuss, Strafstöße auszuführen: ‚Ich mochte es, wenn das ganze Stadion auf mich schaute, das tat meinem Ego gut. Außerdem war es die einfachste Art, ein Tor zu schießen, vor allem, wenn ich nicht mal laufen musste.“ Da aber nicht jeder Profi diese Leichtigkeit empfindet, macht es sich der renommierte englische Autor Ben Lyttleton zur Aufgabe, das Geheimnis des perfekt geschossenen Elfmeters zu entschlüsseln. Zur Bewältigung dieser Sisyphosaufgabe sprach der mit einer Vielzahl prominenter Schützen und Torhüter und wertete zahllose Statistiken über Anlaufwinkel, bevorzugte Torecken, Reaktionszeiten und situative Entscheidungen Einzelner aus. So erfährt der Leser, dass Miro Klose bei allen Elfmetern, die er ausführte, als sein Team nicht im Rückstand war, stets in seine ‚natürliche‘ Torecke schoss. Wir lernen, dass Antonin Panenka 1976 kein Affekttäter war, sondern zwei Jahre lang an der Strafstoßtechnik feilte, die ihn im EM-Finale berühmt machte. Und dass bei Shootouts gegen die Niederlande 63 Prozent der Torhüter die richtige Ecke der Oranje-Schützen ahnen. Jede Frage, die wir uns je zum Elfmeter stellten, wird abendfüllend und anhand historischer Ereignisse beantwortet und in Gesetzmäßigkeiten überführt. Diese lesen sich mitunter zwar ein bisschen wie eine Diät, die zu Bewegung und Obst rät: ‚Lass dich nicht verunsichern‘, ‚Entscheide dich für eine Ecke und zaudere nicht‘, ‚Höre nicht auf Medien‘. Dennoch: Diese Scheinwissenschaft ist ein großer Spaß. Lyttleton überlässt nichts dem Zufall: Er beschreibt minutiös den Tagesablauf der Teams beim ersten Shootout der WM-Geschichte, um nachzuweisen, warum 1982 die deutsche Elf einen psychologischen Vorteil gegenüber Frankreich hatte. Die Versuchsanordnungen sind so vielfältig, dass der Leser gut gelaunt durch 320 anekdotengeschwängerte Seiten schmökert, um am Ende doch festzustellen, dass kein Elfmeter wie der andere ist und im Ernstfall die Psyche jede überzeugende Statistik ad absurdum führt. Oder wie Lothar Matthäus über den Unterschied der DFB-Elf zu den ‚Three Lions‘ bei der WM 1990 sagte: ‚Wir machten uns keinen Kopf. Statt groß drüber nachzudenken, konzentrierten wir uns.‘


Antonín Panenka – letzter Elfmeterschütze im Endspiel Europameisterschaft 1976 in Jugoslawien

Der Panenka (oder Panenka-Heber) hat es mir übrigens angetan. Und so habe ich noch zwei weitere auf diese Weise geschossene Strafstöße gefunden, die von keinen anderen als von Zidane bzw. Messi geschossen wurden.


Zinédine Zidane mit einem Panenka bei der WM 2006 im Endspiel 2006


Lionel Messi mit einem Panenka in einem Spiel der spanischen Liga 2015

Wenn man überlegt, dass viele Meisterschaften durch Strafstöße und durchs Elfmeterschießen entschieden werden, dann wird einem schnell klar, welche Bedeutung diesen zukommt. Kein Geringerer als Johan Cruyff behauptete, man könne das Elfmeterschießen nicht trainieren. Sicherlich sind die Bedingungen im Training völlig andere als z.B. bei einem Turnier wie eine Weltmeisterschaft. Aber es ist sicherlich hilfreich, das Schießen von Elfmetern zuvor – vom Ablauf her – trainiert zu haben. Je mehr man diesen Ablauf verinnerlicht hat, umso größer werden die Erfolgsaussichten sein. Wer nach 120 Spielminuten überhastet ‚am Punkt‘ antritt, verringert diese mit Sicherheit:

‚Sich Zeit zu nehmen, bedeutet keine Treffergarantie, aber zumindest verschießt man nicht wie so viele andere Spieler aus meinen Studien, weil man sich nachlässig und unachtsam auf den Schuss vorbereitet hat‘, betonte [der norwegische Sportpsychologe Geir] Jordet. ‚Indem man sich auf eine Strategie konzentriert, die auf gesicherten Daten basiert, hat man sich selbst und die Situation gleich besser im Griff und erhöht seine Erfolgsaussichten. Sich eine Sekunde mehr Zeit zu nehmen, um durchzuatmen, wirkt entspannend und erhöht die Konzentration, und wenngleich es die Spieler nicht direkt in einen meditativen Zustand versetzt, kann es die nachteiligen Auswirkungen von Stress ein wenig dämpfen.“ (S. 48)

Apropos Cruyff: Er gehörte wie viele andere prominente Fußballspieler zu denen, die sich am liebsten vor dem Elfmeterschießen gedrückt haben. Aber zumindest einmal schrieb er Elfmetergeschichte, als er 1982 mit Ajax Amsterdam in einem Ligaspiel mit Hilfe seines Mitspielers Jesper Olsen einen Elfer auf kuriose, aber durchaus regelkonforme Art verwandelte: Beim Spiel in der niederländischen Eredivisie zwischen Ajax und Helmond Sport am 5. Dezember 1982 spielte Johan Cruyff einen Elfmeter kurz ab, worauf Olsen den gespielten Ball dem Niederländer zurückspielte, der dann den verdutzten Torhüter ganz einfach bezwingen konnte. Allerdings soll Cruyff samt Olsen wohl nicht die ‚Urheberrechte‘ daran haben.


Johan Cruyff und Jesper Olsen: Elfer der kuriosen Art (1982)

Da die durchschnittliche Trefferquote vom Punkt etwa 78 % beträgt, ist bei jedem Elfmeterschießen mit einem Fehlschuss zu rechnen. Dieser Wert sinkt auf 71 % bei Weltmeisterschaften, was […] ein Hinweis darauf ist, wie sich der erhöhte Druck auf die Spieler auswirkt. Für Mannschaften, die auf England treffen, steigt der Wert allerdings. […] In den sieben Elfmeterschießen, die England bei Welt- und Europameisterschaften bestritten hat, trafen die Gegner 83 % (29 von 35) ihrer Schüsse. Die Engländer selbst verwandelten nur 66 % (23 von 35). (S. 45)

Ausgangspunkt des Buchs sind die Probleme englischer Nationalspieler beim Elfmeterschießen. Aber dabei bleibt es nicht: Neben Anleitungen, die durch Statistiken aller Art untermauert werden, und vielen Anekdoten erfahren wir als Leser am Ende dann auch noch einiges zur Geschichte des Strafstoßes und der Entscheidungsfindung bei KO-Spielen durch das Antreten und Schießen ‚vom Punkt‘. „Unterhaltsam, brillant, meisterhaft“ nennt die Sunday Times das Buch und trifft damit den Nagel auf den Kopf (oder vom Punkt ins Tor). Daher sei dieses Buch jedem Fußballfan wärmstens ans Herz gelegt. Ich habe es auf jeden Fall mit Genuss gelesen.

siehe u.a.:
Alle Fakten zum Elfmeterschießen
10 psychologische Fakten über Fußball

Tschingis Aitmatow: Dshamilja

    Ich schwöre es, die schönste Liebesgeschichte der Welt.
    Louis Aragon

Im zentralasiatischen nordöstlichen Kirgisien, irgendwo im Tal des Kukureufluses, im Sommer des dritten Kriegsjahres, 1943, hat sie sich abgespielt, „die schönste Liebesgeschichte der Welt“ (Aragon). Said, der damals Fünfzehnjährige, der nicht wußte, wie Liebe sich zuträgt, erzählt sie mit großem Erstaunen.
(aus dem Klappentext)

    Ich war erschüttert. Die ganze Steppe schien zu erblühen, zu wogen, die Dunkelheit wich, und in der unendlichen Weite sah ich die Liebenden. Sie bemerkten mich nicht, sie hatten alles auf der Welt vergessen und wiegten sich im Takt des Liedes. Ich erkannte sich nicht wieder. Und dennoch: das war Danijar in seinem offenen, abgewetzten Uniformhemd, aber seine Augen schienen in der Dunkelheit zu leuchten. Und das war meine Dshamilja, die sich an ihn lehnte, aber sie war so stille und scheu, und an ihren Wimpern blitzten Tränen. Das waren zwei neue, unendlich glückliche Menschen. Und war das denn nicht das Glück? Danijars Lieder galten nur ihr, er sang für sie, er sang von ihr.
    Tschingis Aitmatow: Dshamilja(S: 96)

Mit seiner kleinen Erzählung von Dshamilja und Danijar hat der Kirgise Tschingis Aitmatow eine wunderbare Liebesgeschichte geschrieben, die sicherlich auch uns, die wir fernab der asiatischen Steppe leben, auf besondere Weise berührt. Denn sie spielt in einem Dorf namens Talas am Fluß Kukureu im Nordosten Kirgisiens (Talaskaja Oblast) an der Grenze zu Kasachstan und – wie bereits erwähnt – vor längerer Zeit im Jahr 1943. Aber auch wenn uns die beiden Liebenden von Ort und Zeit so weit entrückt sind, mit dieser Erzählung kommen sie uns ganz nah. Wer mag da dem guten Louis Aragon widersprechen: Es ist wirklich die schönste Liebesgeschichte der Welt!

    Tschingis Aitmatow: Dshamilja

Die Erzählung Dshamilja – aus dem Russischen von Gisela Drohla – habe ich als suhrkamp taschenbuch 1579 – erste Auflage 1988 – Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, vorliegen und zum ersten Mal vor nun 27 Jahren (eben 1988) gelesen.

Zum Inhalt: Said, ein 15-jähriger Junge, erzählt die Liebesgeschichte seiner Schwägerin Djamila. Während Djamilas ungeliebter Mann, Sadyk, im Zweiten Weltkrieg an der Front kämpft, lernt sie Danijar bei den täglichen Getreidefuhren zum Bahnhof mit ihm kennen. Er ist ein teilinvalider Frontheimkehrer, scheu, träumerisch und von den Menschen im Dorf gemieden. Erst als er eines Tages ein Lied singt, bemerkt Djamila, dass in ihm ungeahnte Qualitäten stecken. Er singt von der Landschaft und vom Leben und auch Said ist hingerissen von ihm. Djamila und Danijar verlieben sich ineinander und Said, der bisher versucht hat, Djamila von Männern fernzuhalten, da er selber auf eine für ihn noch unbegreifliche Weise in Djamila verliebt ist, billigt dies. Durch den Gesang Danijars entdeckt er sein eigenes künstlerisches Ausdrucksverlangen als Maler. Nach Sadyks Heimkehr von der Front eskaliert die Situation und die zwei Verliebten verlassen das Dorf und brechen so die Tradition, um miteinander leben zu können. Auch Said verlässt das Dorf und folgt seiner Berufung als Maler.

Der merkwürdige Reiz von „Dshamilja“ beruht darauf, […] daß wir das alles von innen erfahren durch Menschen, für die das alles natürlich ist, keiner Erklärung bedarf, so daß der Erzählfluß jene außerordentliche Leichtigkeit gewinnt, die der modernen, an einer Reportagekrankheit leidenden Literatur, in der alles vorher auf Karteikarten geschrieben zu sein scheint, so sehr fehlt. (Louis Aragon: Vorwort – S. 14 f. – Leseprobe: Vorwort zum Buch)

    Tschingis Aitmatow

Der Autor, Tschingis Aitmatow wurde 1928 im Dorf Sheker, Kirgisien, geboren. Mit fünfzehn war er der Sekretär des Dorfsowjets in Sheker. Genau in dieser Zeit spielt „Dshamilja“. 1946 studierte er an der Technischen Hochschule in Dshambul Veterinärmedizin. Nach dreijähriger Arbeit auf dem Experimentiergut des Wissenschaftlichen Viehzuchtforschungsinstituts von Kirgisien geht Aitmatow 1956 bis 1958 an das Literatur-Institut „Maxim Gorki“ nach Moskau. Aitmatows Name repräsentiert – auch in der westlichen Welt # die beste zeitgenössische Sowjetliteratur.

Bereits in den 1970er Jahren distanzierte er sich vom sozialistischen Realismus, sein Roman Der Richtplatz (auch: Die Richtstatt) gab 1987 wichtige literarische Impulse für die Perestroika.

1988–1990 war Aitmatow Vorsitzender des kirgisischen Autorenverbandes. In der Zeit der Perestroika war er als parlamentarischer Vertreter (Oberster Sowjet der UdSSR) aktiv, seit Ende 1989 auch als Berater Michail Gorbatschows. 1990 wurde er der letzte sowjetische Botschafter in Luxemburg. Bis März 2008 war er Botschafter für Kirgisistan in Frankreich und den Benelux-Staaten und lebte in Brüssel.

Nachdem der an Diabetes erkrankte Aitmatow bei Dreharbeiten im Wolgagebiet im Mai einen Schwächeanfall erlitten hatte, verstarb er am 10. Juni 2008 im Nürnberger Klinikum nach drei Wochen an den Folgen einer schweren Lungenentzündung.

Hannes Wader wurde durch die Erzählung zu seinem Lied „Am Fluss“ inspiriert („Es wird Abend, siehst du auch die alten Weiden dort am Fluß? Komm, in ihren Schatten kühlst du deinen müden Fuß …“).

Tilman Spreckelsen: Das Nordseegrab – ein Theodor-Storm-Krimi

Als ich mit meiner Frau aus unserem Kurzurlaub in Sizilien kommend am Koblenzer Hauptbahnhof Anfang Mai d.J. am sehr frühen Morgen auf unseren Zug nach Bremen warteten (der Bahnstreik war da noch im vollen Gange), hatten wir einige Zeit, um uns mit Frühstück und Lektüre zu versorgen. So kaufte meine Frau u.a. den Roman Das Nordseegrab: Ein Theodor-Storm-Krimi von Tilman Spreckelsen.

    Tilman Spreckelsen: Das Nordseegrab - ein Theodor-Storm-Krimi

Apropos Sizilien und Theodor Storm: Im August 2000 (also vor nun 15 Jahren) weilte ich mit Frau und beiden Söhnen anlässlich einer sizilianischen Hochzeit schon einmal auf der großen Mittelmeerinsel. Dort in Marina di Ragusa fand gerade ein Bouquinistenmarkt, ähnlich wie in Paris an der Seine, statt, also ein Markt mit alten Büchern. Bei meinem Faible für Bücher (auch besonders für alte Bücher) kamen wir nicht umhin, dort ein wenig zu stöbern. Und so fiel uns Theodor Storms Roman Der Schimmelreiter – in deutscher Sprache – in die Hände. Der ältere meiner beiden Söhne wollte das Buch unbedingt haben, vielleicht des Titels wegen. So kauften wir es. Die letzten Tage dort im Süden fanden wir unseren Sohn immer wieder hingebungsvoll im Buch lesend. Dazu muss gesagt werden: Sohnemann war damals gerade zehn Jahre alt.

Urlaubszeit ist, wie öfter an dieser Stelle gesagt, auch Lesezeit. Nachdem meine Frau dem Theodor-Storm-Krimi gelesen hatte, nahm ich ihn mir während meines diesjährigen Sommerurlaubs vor. Husum (vor Jahren habe ich dort einmal bei einer Radtour in der Jugendherberge übernachtet, bin auch sonst schon öfter durch die Stadt gekommen), Theodor Storm und ein Kriminalfall – ein Mix, der Spannung verspricht.

Husum 1843: Die Stadt ist in Aufregung. Ein Bottich voll Blut, darin eine Leiche, die sich als Wachspuppe erweist. Wenig später wird ein echter Toter gefunden. Der junge Anwalt Theodor Storm spürt dem Geheimnis nach, in alten Dorfkirchen und vor den Deichen Husums. Ihm und seinem Schreiber Peter Söt schlägt die ohnmächtige Wut armer Bauern entgegen und das arrogante Schweigen der Reichen. Bis er auf ein fast vergessenes Schiffsunglück stößt, auf eine alte Schuld und einen Mörder, der diese Schuld eintreiben will.
(aus dem Klappentext)

Husum und Umgebung im 19. Jahrhundert

Was die Nordsee sich holt, gibt sie nicht mehr frei. Aber ihre Opfer sind nicht vergessen. – Husum im Jahr 1843: Eine falsche Leiche und eine echte, ein Schiffsunglück, das keines war, und ein Mörder, der Rache will: der junge Anwalt und zukünftige Dichter Theodor Storm stößt zusammen mit seinem geheimnisvollen Schreiber Peter Söt auf Wut, Schweigen und eine alte Schuld.

Zum Autoren: Tilman Spreckelsen wurde 1967 in Kronberg/Ts. geboren. Er studierte Germanistik und Geschichte in Freiburg und arbeitet heute als Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Mit diesem Roman gewann er den Theodor-Storm-Preis 2014. Begründet wurde das wie folgt: „Subtiles, von Ideenreichtum funkelndes Fortschreiben von Storms erzählten Welten.“

Man merkt ziemlich schnell, dass Tilman Spreckelsen nicht unbedingt ein Autor von Kriminalromanen ist. Er macht den Fehler, den jeder Anfänger macht, der sich an Krimis wagt: Er trägt etwas zu dick auf. Damit verzettelt er sich ziemlich schnell. Auch gibt es ein Zuviel an auftretenden Personen, sodass man manchmal nicht weiß, von wem gerade die Rede ist. Nicht umsonst hat der Autor am Ende des Buchs eine dem Leser hilfreiche Liste der wichtigsten Personen angefügt:

Die wichtigsten Personen (S. 266 f.):

Heinrich Bandmann, Kaufmann aus Hamburg
Christian Ulrich Beccau, Untergerichtsadvocat
Peter Behrens, Gastwirt in Schwabstedt
Hinrich Bohn, Gemeinderat in Schwabstedt
Henning Brauer, Gemeinderat in Schwabstedt
Claus Clausen, Schreiber von Johann Casimir Storm
Johann Dames, Kaufmann aus Husum
Harro Feddersen, Primaner
Johann Fenner, Gastwirt
August Gläser, Apotheker
Bottilla Sophia Greol, Dienstmädchen
Peter Heyne, Kaufmann in Friedrichstadt
Sophia Heyne, seine Witwe
Thede Honnens, Trinker aus Mildstedt
Reinhard, Hermann Ludwig Karl von Kaup, Bürgermeister von Husum
Heinrich Friedrich Kramer, Landvogt in Husum
Hans von Krogh, Amtmann
Johann Kuhlmann, Arzt
Paul Lüdersen, Kaufmann in Husum
Hinrich Möllers, Kaufmann in Plön
Knut Petersen, Gemeinderat in Schwabstedt
Carl Ernst Schmidt, Vermieter von Storms Kanzleiräumen
Anton Setzer, Amtsverwalter
Hanne, Laura und Sophie Setzer, Töchter des Amtsverwalters Setzer
Peter Söt, Schreiber von Theodor Storm (und Ich-Erzähler)
Johann Steffens, Armenhäusler aus Schwabstedt
Johann Casimir Storm, Koogschreiber, Abgeordneter und Anwalt in Husum, Vater von Theodor und Helene Storm
Helene Storm, Theodors Schwester
Theodor Storm, Anwalt in Husum
Friedrich Johann Christian Tostensen, Pförtner im Schloss
Christian Vorlauf, Geisterseher in Schwabstedt

So ist das Buch in erster Linie eine Zeitreise ins 19. Jahrhundert, denn Spreckelsen hat die Hintergründe der damaligen Zeit sehr genau recherchiert – oder wie es auf der Rückseite des Buchs steht: Historisch genau, atmosphärisch dicht, nordisch gut: Theodor Storm und sein Gehilfe ermitteln

Für einen echten Krimifan fehlt es natürlich an ‚Psychologie‘ in dem Roman. Nun geschehen Verbrechen hier meist aus der Not der Täter heraus. Und die reichen Kaufleute ähneln in ihrer Arroganz heutigen Industriellen. Aber etwas mehr Farbe, besonders bei der Person des Theodor Storm, hätte ich mir schon gewünscht. Er bleibt recht blass.

Trotzdem hat mir dieser Krimi sehr gut gefallen. Sicherlich hat es mit diesem ungewöhnlichen Mix (Historie, Storm, der Norden, Mord) zu tun. Und es kann ja nur noch besser werden. Spreckelsen plant einen zweiten Band mit Storm und seinem Gehilfen, dem Schreiber Peter Söt. Dieser soll zu Weihnachten spielen und sich um eine Mordserie um eine religiöse Sekte ranken.

Fragen an Tilman Spreckelsen:

In ‚Das Nordseegrab‘ geht es um ein Schiffsunglück, bei dem es nicht mit rechten Dingen zugeht, um ehrenwerte Kaufleute und betrogene Bauern. Wie haben Sie Atmosphäre und Alltagsdetails des 19. Jahrhunderts recherchiert? Gab es solche Mordfälle wirklich?

Die Details waren mir sehr wichtig: ich wollte wissen, was man 1843 in Husum für ein Stück Butter bezahlen musste, auf welchem Weg man von Storms Wohnung zum Hafen kam, welche Kartenspiele bei vornehmen und einfachen Leuten beliebt waren oder was in diesem Jahr die Attraktionen der Schausteller auf dem Pfingstmarkt der Stadt waren. Ich habe alte Reisebeschreibungen gelesen, juristische Texte, das damalige Husumer Wochenblatt, Storms Briefe … Ich habe die Häuser in Husum besucht, in denen Storm lebte oder seine Freunde traf. Und viele der Verbrechen, die ich schildere, haben so oder so ähnlich tatsächlich stattgefunden. Nur dass sie bei mir in einem größeren Zusammenhang stehen.

Theodor Storm kennt man als Dichter und Autor von ‚Der Schimmelreiter‘. Wie kamen Sie darauf, Storm als Ermittler zu entdecken?

Storm war Jurist und hat damit immerhin eine zehnköpfige Familie ernährt – das ist nur heute wenig bekannt. Ich wollte mir vorstellen, wie er als junger Anwalt – noch ohne Familie – nach dem Studium wieder nach Husum zurückkehr, manchmal einen Mandanten betreut, einen Chor gründet, sich verliebt und sonst ziemlich in den Tag hinein lebt, immer ein bisschen unter der Fuchtel seines erfolgreichen Vaters. Und dann plötzlich tief in einem Fall steckt, ohne es richtig zu merken.

Ihr Kriminalroman spielt an der Nordseeküste in Husum. Was hat Sie an diesem Landstrich gereizt, was ist das Besondere an dieser Gegend?

Der Himmel, das Meer, Husums wundervolle Altstadt … Da ist vieles noch so wie zur Zeit Theodor Storms. Ganz spannend ist, wie sich dort die Grenze zwischen Land und See immer wieder verschoben hat und noch heute verschiebt. Wer vor Husum bei Ebbe durchs Watt läuft, hat unter den Füßen eine versunkene Welt. All die alten Dörfer mit ihren Kirchen, Häusern, Brunnen und Äcker, die sich das Meer geholt hat! Wahrscheinlich muss man wie Storm in einer solchen Landschaft leben, um den >Schimmelreiter< zu schreiben.

Hein Sager sagt (1): Also Hein Sager sagt …

    … wie kann ein Mensch trotz seiner Gedanken mit anderen Menschen zusammenleben, wie wird er mit dem Wildwuchs seiner Gedanken, die doch den Konventionen der Gesellschaft widersprechen, fertig …

    Martin Walser: Dichten und Trachten (Jahresschau des Suhrkamp Verlags), 1958, Folge 11, S. 91

Mein Name ist Sager. Der Vorname tut eigentlich nichts zur Sache, aber wer’s wissen will, er ist Hein. Jetzt aber keine blöden Witze von wegen ‚Hein vonne Werft‘, ihr wisst, ‚das nervt‘! Also Hein Sager heiß ich. Bitte, auch keine Scherze mit Nein-Sager. Ich bin kein Nein-Sager, obwohl ich schon manchmal sage: Schluss jetzt, es reicht!

    Hein Sager sagt …

Ich will hier nicht groß philosophieren. Ich bin kein Nietzsche oder ein Descartes, der dachte, wenn er denkt, dass er ist. Dass mit dem Sein verstehe ich schon: Man ist, man existiert also, wenn man denkt. Ein schöner Gedanke …

Ich will hier auch nicht auf die Kacke hauen – wie man so sagt. Ich will sagen, was mich stört, was ich einfach nicht gut finde. Dann kann ich sagen, was okay ist in der Welt, wenn das auch nicht viel ist.

So oder so ähnlich könnte Hein Sager beginnen, zu uns zu sprechen. Hein Sager: Wer ist das? Es könnte fast jede(r) sein. Okay, mit grauem Bart und Brille komme ich sicherlich in Frage. Und vielleicht zu 80 % (mal mehr, mal weniger) bin ich das dann wohl auch. Im Hintergrund (siehe unten) sieht man Franz Kafka, der hier nur stellvertretend sein Konterfei herhalten musste (zudem als Comic-Zeichnung), dem ich ein Bild von mir ‚über(ge)legt‘ habe. Ich fand die Kafka-Zeichnung interessant und fand zudem ein Bildchen von mir, das annähernd deckungsgleich ist.

Hein Sager sagt -  Von Kafka zu Willi …

    Er muß seine Launen mir gegenüber weniger beherrschen als ich meine Launen ihm gegenüber. Ich muß mich ununterbrochen zusammennehmen. Zum Beispiel politisch. Man möchte doch öfter einmal irgendwelchen politischen Quatsch daherreden dürfen. Der Chef tut das ungeniert und frei heraus.

    Martin Walser zur Abhängigkeit vom Chef: Wer oder was leistet Seelenarbeit? unveröffentlichtes Typoskript, o.D., Archivmaterial Martin Walser

Was will Hein Sager (oder ich mit ihm) sagen? Wer kennt nicht die Abhängigkeit von seinem Chef, wie Martin Walser es beschreibt. Und auch sonst wagt es kaum einer, dem ‚Wildwuchs seiner Gedanken‘ freien Lauf zu lassen. Die Konventionen halten diese in Schacht. Und selbst wenn man er wagt, sich einmal ‚so richtig auszukotzen‘ und dazu (wie hier) versucht, es einer Kunstfigur in den Mund zu schieben, gelingt das nur ungenügend. So glaube ich, es sei denn, man beginnt damit, darauf hinzuweisen, dass man sich ‚von dem Folgenden‘ (der Folgen wegen) von vornherein distanziert. Das wäre dann unaufrichtig.

Aber soweit will ich mit Hein Sager gar nicht gehen. Er ist eine Kunstfigur, die sagt, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Das könnte mein Schnabel sein – es ist aber eher der Schnabel vieler. Eben derer, die sonst ihren Schnabel halten.

Noch eins: Hein Sager benutzt (wie ich) oft Anführungszeichen, auch ‚Gänsefüßchen‘ (sic!) genannt. Wir kennen das Zeichen: Zeige- und Mittelfinger beider Hände ausgestreckt und gegeneinander leicht versetzt in der Luft winkend. Es heißt, so meine ich es nicht wirklich, so meinen es andere. Wenn man schreibt, ist das klar. Da stehen die Häkchen unten und oben. Beim Sprechen hilft nur die genannte Geste. Das Gesagte oder Geschriebene ist ohne Anführungszeichen eine These, die dann durch die Anführungszeichen gewissermaßen zur Antithese wird. Was darauf folgt, sollte dann die Synthese sein. Man nennt das Dialektik.

Mark Twain: Die Tagebücher von Adam und Eva

Liebe auf den ersten Blick war es weiß Gott nicht – so lässt sich der Beginn der Romanze zwischen Adam und Eva beschreiben, wenn wir uns nicht auf die Genesis, sondern auf die Tagebücher berufen, die Mark Twain (1835-1910) seinen biblischen Protagonisten in die Federn diktierte. Mit ebenso humor- wie liebevoller Nachsicht verhandelt der weltberühmte amerikanische Autor hier die keineswegs paradiesischen Unzulänglichkeiten der Geschlechter am Beispiel des ersten Traumpaars der Geschichte. Dass die beiden schließlich doch noch zueinanderfinden, ist ein seltenes Glück für die Menschheit – und für den Leser!

Die Tagebücher von Adam und Eva von Mark Twain gibt es mit paradiesischen Bildern von Henri Rousseau als ‚handfestes‘ Büchlein, gegen das ein digitales Format (eBook) einfach nicht mithalten kann.

Mark Twain: Die Tagebücher von Adam und Eva

Mark Twain ist bekanntlich der ‚Vater‘ von Tom Sawyer und Huckleberry Finn, den wohl bekanntesten Jugendlichen der US-amerikanischen Literatur. Einst als Gegenkonzept zu den damals üblichen Kinderbüchern über Musterknaben und braven Mädchen entworfen, haben diese Klassiker der Jugendliteratur bis heute ihren Reiz nicht verloren.

Aber zurück zu Adam und Eva: Mark Twains kleiner Text hat Übersetzer förmlich wie Nektar die Bienen angezogen, dermaßen viele Übersetzung scheint es zu geben. Hier die ersten Sätze aus Adams Tagebuch:

Mark Twain: Die Tagebücher von Adam und Eva
ist ganz schön lästig. Ständig treibt es sich hier herum und folgt mit überall hin nach. Das behagt mir gar nicht, Gesellschaft bin ich nicht gewohnt. Wenn es doch bloß bei den anderen Tieren bliebe.

Und hier eine weitere Version (neu übersetzt vom Kim Landgraf):

Dieses neue Wesen mit den langen Haaren ist ziemlich im Weg. Es lungert immer irgendwo herum und rennt mir hinterher. Das gefällt mir nicht. Ich bin Gesellschaft nicht gewöhnt. Ich wünschte, es würde bei den anderen Tieren bleiben …

Im deutschen Projekt Gutenberg findet sich eine Übersetzung von Arno Niemer (© 2003):

Dieses neue Geschöpf mit den langen Haaren steht mir ganz schön im Weg. Es lungert nur rum und rennt hinter mir her. Ich mag das nicht, ich hatte vorher ja auch keinen Begleiter. Warum bleibt es nicht bei den anderen Tieren?

… und ebenda noch eine Übersetzung (ohne Namensnennung):

Dieses neue Geschöpf mit dem langen Haar fängt an, mir sehr im Wege zu sein. Es ist immer hinter mir her und lungert beständig um mich herum. Ich mag das nicht; ich bin nicht an Gesellschaft gewöhnt. Ich wünschte, es bliebe bei den übrigen Tieren …

siehe auch (im englischen Original):
Eve’s Diary, Complete by Mark Twain
The Entire Project Gutenberg Works of Mark Twain by Mark Twain

siehe außerdem: Heute Ruhetag (11): Mark Twain – Die Schrecken der deutschen Sprache

Andreas Hock: Bin ich denn der Einzigste hier, wo Deutsch kann?

    „Man sollte alle Tage wenigstens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Gemälde sehen und, wenn es möglich zu machen wäre, einige vernünftige Worte sprechen.“
    Johann Wolfgang von Goethe: Theaterdirektor Serlo zu seinem Freund Wilhelm Meister

Nun ja, der Titel des Buchs Bin ich denn der Einzigste hier, wo Deutsch kann? – Über den Niedergang unserer Sprache von Andreas Hock hat mich ‚aufgeschreckt‘. Und dass es mit unserer deutschen Sprache nicht gerade zum Besten bestellt ist, war mir schon länger bekannt. Aber gleich vom Niedergang sprechen …? Ich selbst habe mich in diesem Blog bereits weitreichend mit dem ‚Niedergang‘ der deutschen Sprache beschäftigt (siehe unten, dort findet Ihr mehrere Handvoll Links auf meine Beiträge zu dem Thema).

    Andreas Hock: Bin ich denn der Einzigste hier, wo Deutsch kann? - Über den Niedergang unserer Sprache

Zum Titel des Buchs: Der Duden sagt, dass „einzig“ normalerweise nicht gesteigert wird, schließt es also nicht bedingungslos aus. Selbst ein Autor wie Martin Walser („Er habe seit längerem geglaubt, er sei schon alt. Das war, wie er jetzt wisse, ein naseweises Anempfinden. Das einzigste, was ein wenig in die richtige Richtung ging, war eine Art Mitleid mit Alten.“ in Der Augenblick der Liebe auf Seite 200) lässt das Wort in ‚gesteigerter Form‘ zu. Fündig wurde ich dann u.a. auch in Übersetzung zu Anthony Burgess‘ 1985, André Gides Die Falschmünzer bzw. Umberto Ecos Der Friedhof in Prag (auch Heinz Strunk in Fleisch ist mein Gemüse benutzt die Steigerung). Es ist mehr ein logisches, als ein sprachliches Problem. Und ein ‚wo‘ statt des Relativpronomens „der“ ist im Duden als landschaftlich salopp (dem Süddeutschen entlehnt) beschrieben.

Es war einmal eine Sprache, die vor lauter Poesie und Wohlklang die Menschen zu Tränen rührte. Die von Dichtern und Denkern immer weiter perfektioniert wurde. Die um ein Haar auf der ganzen Welt gesprochen worden wäre. Das aber ist lange her – und ein für alle Mal vorbei. Heute ist Deutsch ein linguistisches Auslaufmodell!

Wie konnte es nur so weit kommen, dass unsere Kids zwar wissen, wer der Babo ist – aber keine Ahnung haben, wer dieser Goethe war? Warum wundern wir uns nicht, wenn uns die Werbung von Care Companys, Createurs d’Automobiles oder Sense and Simplicity erzählt? Und wieso, verdammt noch mal, nennen wir unsere Kinder Justin, Cheyenne oder Jeremy?

Andreas Hock fand Antworten auf diese und viele anderen Fragen über den Niedergang unserer Sprache – der eigentlich vor Hunderten von Jahren schon begann und an dem nicht nur Friedrich der Große, Adolf Hitler oder Helmut Kohl Schuld sind. Sondern voll wir alle, ey!
(Umschlagtext des Buches)

Soviel sei gleich gesagt, Andreas Hock ist nicht unbedingt ein Sprachpurist, geschweige denn ein Bewahrer der deutschen Sprache. Dazu dilettiert er zu sehr im Gebiet der Linguistik. Sein Buch will in erster Linie provozieren, versteht sich als Polemik und ist dabei durchaus witzig zu lesen. So neigt der Autor neben all den Verallgemeinerungen zu gewollten Übertreibungen, z.B. die Verwendung des Apostrophes: Bertha’s Snack’s. Leider wird beim Genitiv ziemlich häufig dieses kleine Häkchen verwendet, auch wenn es nur bei Namen erlaubt ist, die auf S und ähnliche Zischlaute enden (z.B. Klaus‘ Snacks). Das Plural-S ist dagegen nicht nur schlechtes Deutsch, sondern Dummheit wie ‚hausgemachte’s Rind’sgulasch‘. Solche und ähnliche Beispiele sind ausgesprochene Einzelfälle und belegen in keiner Weise den Niedergang unserer Sprache, sondern nur die Dummheit einzelner Personen. Das hätte sich Herr Hock ersparen können.

Sicherlich ist ein großes Problem die große Flut von Anglizismen. Nur sollte man schon einen Unterschied zwischen normalen sprachlichen Entwicklungen, dem Gebrauch in Fachsprachen und wirklichen Missständen machen (z.B. das Denglische). Ein Übel, wenn vielleicht auch ein notwendiges, ist die Verwendung von Abkürzungen, besonders in Fachsprachen (z.B. in der IT, also Informationstechnik).

Apropos Informationstechnik: Andreas Hock hegt eine allumfassende Abneigung gegen alles, was mit moderner Kommunikationstechnik (z.B. Internet) zu tun hat und macht gerade hier den Verfall unserer Sprache aus. E-Mails und Kurznachrichtendienste (SMS) sind die Brutstätte verbaler Unzulänglichkeiten. In Wikipedia erkennt er „das Speicherplatz gewordene Nachschlagewerk der Oberflächlichen“ (S. 88) und bleibt selbst äußerst oberflächlich. Es ist ja nicht so, dass er völlig Unrecht hätte. Was ich z.B. täglich an E-Mails bekomme wimmelt nur so von Flüchtigkeitsfehlern. Aber – bezogen auf Jugendliche – um eine SMS zu schreiben, muss man immerhin lesen und schreiben können.

Der Autor ist kein Freund der neuen Rechtschreibung. Auch ich habe seinerzeit besonders die Konzeptlosigkeit des Rats für deutsche Rechtschreibung bemängelt. Vor rund 10 Jahren gab es ein einziges Tohuwabohu, z.B. weil Schriftsteller und Zeitungen anders schrieben, als es die offizielle Rechtschreibung verlangte. Inzwischen hat sich das längst geglättet und auch ein Schriftsteller wie Martin Walser schreibt nach den neuen Rechtschreibregeln. Eigentlich ist die Debatte um die Rechtschreibreform längst der Schnee von gestern. Nicht so bei Herrn Hock, der zudem noch Zusammenhänge herstellt, die bei den Haaren herbeigezogen sind. Er schreibt: Laut einer Studie der Universität Hamburg von 2011 können nun 7,5 Millionen Menschen in unserem Land nicht richtig lesen und schreiben. Das sind: drei Millionen mehr als vor der Reform! (S. 161)

Andreas Hocks Buch ist in erster Linie dem wohlfeilen Sinnen vieler selbsternannter Sprachhüter geschuldet und von daher eher ein Ärgernis als ein Appell, sich der Wurzeln der deutschen Sprache zu bedienen, dieser also wieder neues Leben einzuhauchen.

Der Autor begibt sich in die Niederungen der Deutschen Sprache und meint nun, alles und jedes dort Aufgewühlte verallgemeinern zu müssen. Er fürchtet den Verlust der deutschen Identität. Nur versteht er sicherlich etwas anderes darunter als z.B. ich. Unsere Sprache des Alltags ist nun einmal nicht voll ‚lauter Poesie und Wohlklang‘. Im Zusammenhang mit der neuen Rechtschreibung schrieb ich vor etwa anderthalb Jahren: Ich denke, dass man eindeutig unterscheiden muss, nämlich zwischen einer amtlichen Rechtschreibung, die z.B. für Behörden, Gerichte, natürlich auch für Schulen gültig ist, und einer ‚nichtamtlichen’, bei der dann allerdings „jeder nach eigenem Gutdünken schreiben darf“. Letztere sollte man positiv sehen: Es gab und gibt genügend Schriftsteller, die sich bewusst nicht an die amtliche Rechtschreibung halten und sei es nur, um ungewöhnliche Wortneuschöpfungen zu kreieren. Sprache hat auch etwas mit Phantasie zu tun – und der sind bekanntlich keine Grenzen gesetzt, auch keine amtlich reglementierten.

Lächerlich, aber gekonnt im Buch platziert ist dabei der wiederholte Hinweis, dass deutsch „um ein Haar auf der ganzen Welt gesprochen worden wäre“: Erst fast Weltsprache, jetzt nur noch Auslaufmodell! So ein Buch verkauft sich ‚wie warme Semmeln‘.

siehe auch ein Interview mit Andreas Hock in der Süddeutschen Zeitung – Magazin

Bevor ich auf meine eigenen Beiträge ‚in dieser Sache‘ verweise, möchte ich einige Fehler in dem Buch aufdecken, die ich ärgerlich finde. Zunächst geht es um die Brüder Grimm (S. 34). Hier vermischt Herr Hock die Deutsche Grammatik, die allein Jacob Grimm verfasst hat, mit dem Mammutwerk des Deutschen Wörterbuchs. Ich habe den Eindruck, dass Herr Hock bisher noch nie einen Blick in dieses Wörterbuch geworfen hat.

Herr Hock spricht von der Beatgeneration (S. 47) der Sechzigerjahre und Beatniks (S. 93) und meint wohl die Generation der so genannten Beatmusik (Beatles, Rolling Stones usw.). Als Beat Generation wird eine Richtung der US-amerikanischen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg in den 1950er Jahren bezeichnet und ist als solches ein fester Begriff. Und R ‘n‘ B (Rhythm and Blues) war gewissermaßen der Vorläufer des Rock ’n’ Roll, gab es also nicht zeitgleich mit Techno, Hip-Hop usw. (S. 132).

    So wühlt man sich durch den deutschen Wortschatz

siehe auch meine Beiträge:
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm
Von Archaismen und Neologismen
technosexual lifestyle
Was ist ein Jackpot?
You need Zugzwang
Wenn der Amtsschimmel wiehert
Typisch deutsch: Gemütlichkeit
Wörterbuch der Szenesprache
Man spricht Deutsch
Bedrohte Sprachen in Deutschland
Daher der Name Bratkartoffel (1)
Daher der Name Bratkartoffel (2)
Kafkas Wortschatz und Kiezdeutsch
Wortschatz
Unworte
Deutsch 3.0
Jugendkriminalität und das geschriebene Wort

Günter Grass: Der Butt (1977)

Aus Anlass des Todes von Günter Grass im April diesen Jahres las ich erneut einen seiner wichtigsten Romane: Der Butt, der 1977 erschien. Mit Fokus auf das Gebiet der Weichselmündung behandelt er auf mehreren Erzählebenen die Geschichte der Menschheit von der Jungsteinzeit bis zur Gegenwart und hier insbesondere das Verhältnis zwischen Mann und Frau. Das Märchen Vom Fischer und seiner Frau ist dabei Ausgangspunkt und strukturgebendes Merkmal. Daraus entnommen der Butt, ein sprechender Fisch, den Grass als allzeitiger Berater der Männersache vorführt.

    Günter Grass: Der Butt (1977)

Mit der Zeugung eines Kindes beginnt der Icherzähler Günter Grass seinen Roman ‚Der Butt‘ und er beendet ihn mit der Geburt. Dazwischen, in den neun Monaten der Schwangerschaft, denen die neun Kapitel des Romans entsprechen, erzählt er seiner Frau, die er nach dem Märchen ‚Vom Fischer un syne Frau‘ Ilsebill nennt, von seinen Lebensläufen durch die Jahrhunderte.
Wie in jenem Märchen nahm seine lange Geschichte ihren Lauf an einem schönen Sommertag gegen Ende der Jungsteinzeit, als der Fischer Edek aus der Ostsee, dort wo Jahrtausende später die Stadt Danzig erstand, einen wundersamen Fisch fing, den uralten, sprechenden, allwissenden Butt. Zum Dank für die geschenkte Freiheit macht ihn der Butt unsterblich, begleitet er ihn als Mentor durch die Jahrhunderte. Vom Butt beraten, löst sich der Icherzähler aus der wärmenden Fürsorge der herrschenden Frauen, verläßt er Aua, das dreibrüstige Urweib in der Weichselmündung, vertritt er fortan die Herrschaft der Männer über die Frauen. Und doch verfällt er immer wieder dem Ewig-Weiblichen, vor allem den Kochkünsten der Frauen. Von neun Köchinnen weiß er Ilsebill zu berichten, von neun, vom Zeitgeist der jeweiligen weltgeschichtlichen Epoche bestimmten Frauen, liebenden und mörderischen, treusorgenden und herrschsüchtigen – immer neue Verwandlungen und Geschichten, Legenden, Sagen und Parabeln von Jahrhundert zu Jahrhundert. Indessen vollendet sich das Märchen vom Butt in der Gegenwart.
In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, während Ilsebill vergangenen Mythen lauscht, haben drei Frauen an der Ostseeküste den Butt erneut an der Angel, muß er sich in Berlin in einer Zinkwanne vor einem feministischen Tribunal verantworten, angeklagt als Betreiber der Männersache, als Verantwortlicher für das bittere Los der Frauen von der Steinzeit bis heute.

Dieser prall und sinnlich, poetisch und frivol erzählte und von Küchendüften durchzogene Roman von der Herrschaft der Männer und der Freiheit der Frauen ist eine magisch beschworene Menschheitsgeschichte aus mythologischer Vergangenheit und realer Gegenwart, phantastische Erfindungen und wahren Geschichten ohne Ende, ein „Danziger ‚Zauberberg‘“.
(aus dem Klappentext)

    Ilsebill salzte nach. Bevor gezeugt wurde, gab es Hammelschulter zu Bohnen und Birnen, weil Anfang Oktober. Beim Essen noch, mit vollem Mund sagte sie: „Wolln wir nun gleich ins Bett oder willst du mir vorher erzählen, wie unsre Geschichte wann wo begann?“

So beginnt dieser gut 550 Seiten starke Roman, wobei der Romanbeginn 2007 zum schönsten ersten Satz eines deutschsprachigen Romans gewählt wurde. Es geht also um Bett- und Küchengeschichten. Oft deftig das eine wie das andere. Und es geht um Männer und Frauen. Am Anfang stand das Matriarchat, eine Zeit, in der die Frauen das Sagen hatten. Aber die Männer wollten ihr ‚eigenes Ding‘. Und dank des Butts, der sich den Männern als Mentor anbot, übernahmen die Männer nach und nach das Ruder: „Das war am 3. Mai 2211 vor unserer Zeitrechnung – es soll ein Freitag gewesen sein – an einem jungsteinzeitlichen Tag“ (S. 26), als Edek, der junge Fischer, den sprechenden Plattfisch aus der Ostsee angelte.

Die Frauenbewegung war wenig von dem Roman angetan. Die Frauenzeitschrift Emma kürte Grass für sein Werk sogar zum Pascha des Monats. Heute liefe der Roman Gefahr, des Sexismus bezichtigt zu werden

Ja, es geht kaschubisch-rustikal zur Sache. Was da auf den Teller kommt, ist deftig-kräftig und verlangt einen guten Magen. Und in den Betten und Kojen fließen reichlich Körpersäfte. Am Ende kommt dann so etwas wie eine Bestandsaufnahme heraus: die Geschichte der Menschen, die durch Männer bestimmt ist, hat meist nur Krieg und Verderben hervorgebracht.

So kann und muss man Grass‘ Roman als eine Suche nach einem Dritten Weg verstehen. Ende der 60-er, Anfang der 70-er Jahre gab es die Suche nach alternativen Konzepten zu Kommunismus und Kapitalismus (Stichwort: Prager Frühling 1968). Dem Inhalt und der Thematik des Romans zufolge, könnte die von Grass gesuchte Alternative ein Mittelweg zwischen den zwei Extremen Matriarchat und Patriarchat sein. Ich denke aber, dass für Günter Grass der Dritte Weg letztendlich doch nur Illusion, nie aber eine realisierbare Option war.

Ich habe den Roman als Fischertaschenbuch 2181 – Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 101. – 150. Tausend: November 1979 – vorliegen und zum ersten Mal im Herbst 1981 gelesen. Damals habe ich mir ein kleines Personenregister angelegt, das ich hier als PDF-Datei beilege. Denn über die Jahrhunderte des erzählenden Werkes treten recht viele Personen auf. So behält man die Übersicht. Ich habe den Roman wie anfangs erwähnt anlässlich des Todes von Günter Grass erneut gelesen. Dabei habe ich mir Zeit gelassen. Es ging mir dabei wohl ähnlich wie Rolf Michaelis, der damals in der Wochenzeitschrift Die Zeit schrieb:

„Schon lange nicht mehr so Schönes gelesen. Ein Buch, mit dem man lange leben kann. Mit diesem Roman, nach dem sprechenden Plattfisch des Märchens benannt, geht es einem wie mit Menschen: Man hört zu, hört auch mal weg, ist glücklich und mal ärgerlich.“

Bei dieterwunderlich.de habe ich eine sehr ausführliche Inhaltsangabe samt Zitaten gefunden, die ich dem interessierten Leser hiermit empfehlen möchte. Zuletzt noch einige weitere Auszüge aus Rezensionen:

„Es ist die kunstvollste Verzwirnung individuellen Geschehens mit Historie, die ein Roman seit Joyce‘ ‚Ulysses‘ geleistet hat.“
Fritz J. Raddatz in Merkur

„Groß, frisch, oft überraschend, vor allem dann, wenn Grass sinnliche Sagas oder menschliche Tragödien unserer Gegenwart beschreibt, sind Sprache und phantasmagorische Phantasie dieses genialischen Erzählers.“
Joachim Kaiser in Süddeutsche Zeitung

„Ein Roman, in jeder Zeile erfüllt von praller Sinnlichkeit, voller Gerüche und auch Gestank, kraftvoll zupackend und zart, weit ausholend, ausschweifend und gebändigt.“
Kurt Lothar Tank in Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt

The Franz Kafka Rock Opera

Franz Kafka hat auch heute noch eine ungewohnt starke Anziehungskraft, besonders im englischen Sprachraum. Nicht neu und erst jetzt von mir ‚entdeckt‘ ist die Adaption einer Kafka’schen Erzählung zu einer Folge einer animierten Sitcom-Serie. Dabei handelt es sich um die US-amerikanische Fernsehreihe Home Movies. Und aus der ersten Staffel stammt die Folge sechs mit dem Titel: Director’s Cut.

    Home Movies – Season One – Episode 6: Director's Cut @ en.wikipedia

Dwayne, einer der Hauptfiguren der Serie, schreibt eine Rockoper, die auf Kafkas Erzählung Die Verwandlung (englisch: The Metamorphosis) basiert. Natürlich gibt es dazu einen filmischen Ausschnitt – und (darunter) die Lieder (deren fünf) im englischen Original. Ich denke, Franz Kafka hätte seinen Spaß daran gehabt, den ich nun euch wünsche:

• Kafka Song #1: Introduction
He is Franz Kafka!
Franz Kafka!
Be careful if you get him pissed…
Franz! Franz Kafka!
He’ll smite you with metaphor fists!
Writing all he can, he’s just a man
A warrior of words taking a stand
He is Franz Kafka!
Spoken: Oh look, but there he is, what will he say?
I’m a lonely German…a lonely German from Prague!
Kafka! Kafka! Kafka!

• Kafka Song #2: Turning into a bug
I don’t know what’s wrong with me I think I’m turning into a bug
I see double what I see I think I’m turning into a bug
I ain’t got no self-esteem I think I’m turning into a bug
Bet you fifty dollars I’m a man, I’m a scholar and I’m turning into a bug
Momma like a daddy like a baby like a baby like I’ll turn into a bug
Yeah! Yeah!
He is Franz Kafka!

The Franz Kafka Rock Opera: Living like a bug ain’t easy

• Kafka Song #3: Living like a bug ain’t easy
Living like a bug ain’t easy
My old clothes don’t seem to fit me
I got little tiny bug feet
I don’t really know what bugs eat
Don’t want no one stepping on me
Now I’m sympathizing with fleas
Living like a bug ain’t easy…

• Kafka Song #4: Ending
Spoken: Welcome to heaven Franz! My name is God! I think you’re going to like it here!
He is Franz Kafka!

[• Louis, Louis End Rap
Well, I’m, curing disease
Helping blind people read
Don’t drink that milk without talking to me (Oh yeah!)
I’m saving those who can’t see with their eyes
Don’t mess with me you’ll get pasteurized!
Yeah! Come on! Come on! Louis Louis in the house! Break it down!

(Jason does a human beatbox)]

• Kafka End Song
Right now he can
He’s just a man
A warrior of words
Taking a stand
He grew up very poor
He’s steel, it’s to the core
Born in 1883 died in 1924
He is Franz Kafka!

Quelle u.a.: The Animated Franz Kafka Rock Opera (openculture.com)

Heute Ruhetag (54): Robert Musil – Der Mann ohne Eigenschaften

Robert Musil (* 6. November 1880 in Klagenfurt am Wörthersee; † 15. April 1942 in Genf) war ein österreichischer Schriftsteller und Theaterkritiker.

Musils Werk umfasst Novellen, Dramen, Essays, Kritiken und zwei Romane, den Bildungsroman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß und sein unvollendetes Magnum Opus Der Mann ohne Eigenschaften von (je nach Ausgabe knapp unter bis über) 1000 Seiten. Zum ersten gibt es die Verfilmung Der junge Törleß von Volker Schlöndorff aus dem Jahre 1965 mit Mathieu Carrière in der Titelrolle.

Musils Der Mann ohne Eigenschaften zählt neben den Romanen Ulysses und Finnegans Wake von James Joyce, Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit und dem Roman Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin zu den literarischen Werken des letzten Jahrhunderts (Kafkas Romane lasse ich ganz einfach außen vor …). Allein die Seitenzahlen dieser Bücher mag manchen Leser zurückschrecken lassen. Aber vielleicht wagt es doch der oder die eine oder andere, dem Werk ‚auf den Leib‘ zu rücken. So ein Pfingsttag eignet sich bestimmt für den Anfang. Wohl bekommt’s 😉 !

    Heute Ruhetag = Lesetag!

Erster Teil – Eine Art Einleitung
1 Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht

Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Der Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der Venus, des Saturnringes und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering. Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913.

Autos schossen aus schmalen, tiefen Straßen in die Seichtigkeit heller Plätze. Fußgängerdunkelheit bildete wolkige Schnüre. Wo kräftigere Striche der Geschwindigkeit quer durch ihre lockere Eile fuhren, verdickten sie sich, rieselten nachher rascher und hatten nach wenigen Schwingungen wieder ihren gleichmäßigen Puls. Hunderte Töne waren zu einem drahtigen Geräusch ineinander verwunden, aus dem einzelne Spitzen vorstanden, längs dessen schneidige Kanten liefen und sich wieder einebneten, von dem klare Töne absplitterten und verflogen. An diesem Geräusch, ohne daß sich seine Besonderheit beschreiben ließe, würde ein Mensch nach jahrelanger Abwesenheit mit geschlossenen Augen erkannt haben, daß er sich in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien befinde. Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie Menschen. Die Augen öffnend, würde er das gleiche an der Art bemerken, wie die Bewegung in den Straßen schwingt, bei weitem früher als er es durch irgendeine bezeichnende Einzelheit herausfände. Und wenn er sich, das zu können, nur einbilden sollte, schadet es auch nichts. Die Überschätzung der Frage, wo man sich befinde, stammt aus der Hordenzeit, wo man sich die Futterplätze merken mußte. Es wäre wichtig, zu wissen, warum man sich bei einer roten Nase ganz ungenau damit begnügt, sie sei rot, und nie danach fragt, welches besondere Rot sie habe, obgleich sich das durch die Wellenlänge auf Mikromillimeter genau ausdrücken ließe; wogegen man bei etwas so viel Verwickelterem, wie es eine Stadt ist, in der man sich aufhält, immer durchaus genau wissen möchte, welche besondere Stadt das sei. Es lenkt von Wichtigerem ab.

[…]

Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften

Ralf-Peter Märtin: Dracula – Das Leben des Fürsten Vlad Tepes

    „Der wutrich und tirann vollbracht
    Alle die pein die man erdacht.
    Dy tirannen alsander
    Kainer so vil nie hat getan,
    Herodes, Dieoclecian,
    Nero und auch all ander.“

Michel Beheim: Von ainem wutrich der hies Trakle waida von der Walachei

Bram Stoker (1847 – 1912) war ein irischer Schriftsteller der uns hauptsächlich durch seinen Roman Dracula bekannt wurde. 1890 traf Stoker den ungarischen Professor Arminius Vámbéry, der ihm von der Legende des rumänischen Fürsten Vlad III. Drăculea (Drakula) erzählte. Aus diesem Charakter entwickelte Stoker die Figur des Vampirs Dracula. Sieben Jahre arbeitete Stoker an diesem Vampirroman, bis er am 18. Mai 1897 veröffentlicht wurde.

Seitdem geistert der dem 15. Jahrhundert entstammende Balkan-Fürst Vlad III. Draculea durch Romane und Horrorfilme. Wenn der historische Vlad auch nicht das Blut seiner Opfer trank, soll er doch ein äußerst brutaler Zeitgenosse gewesen sein. Nach seiner angeblich bevorzugten Hinrichtungsart trug er den Beinamen Vlad Țepeș (sprich Tzepesch – deutsch „Pfähler“).

Heute dürfte den Roman kaum einer gelesen haben. Dafür kennen die meisten aber mindestens eine der zahlreichen Verfilmungen des Romans. Begonnen hat das schon früh in der Stummfilmzeit: „NosferatuEine Symphonie des Grauens“; 1922 von Friedrich Wilhelm Murnau (Pseudonym für F.W. Plumpe) gedreht, mit May Schreck in der Rolle des Grafen. Einer der bedeutendsten deutschen Stummfilme. Trotz abweichender Titelei eine Adaption des Stokerschen Romans. ‚Der‘ Klassiker des Genres.

Das war nur der Auftakt. Es folgten viele andere Filme, die den Namen Dracula im Titel hatten.

Das Jahr 1979 brachte eine Renaissance des Vampirfilms […]. John Badhams Hollywood „Dracula“ mit dem schönen Frank Langella in der Hauptrolle, versprach zunächst Neues, indem er den Grafen als melancholisch-romantischen Bösen à la Byron präsentierte. Die an sich reizvolle Konzeption wurde aber durch eine Überfülle von Stilbrüchen heillos torpetiert.

Bram Stokers Dracula (1992) – Bram Stoker’s Dracula ist ein Horror- und Liebesdrama aus dem Jahr 1992 unter der Regie von Francis Ford Coppola. Die Hauptrollen spielten Gary Oldman als Graf und Anthony Hopkins als sein Kontrahent Professor van Helsing. Coppolas Filmadaption gilt – trotz einiger dramaturgischer Abweichungen – als die werktreueste Umsetzung von Bram Stokers Vampirroman.

Alle drei Filme habe ich zu Hause in meiner Mediathek vorliegen und habe angesichts dieses Beitrag wenigstens schon einmal einen Blick in alle drei hineingeworfen: Schaurig-schön … Wie bereits erwähnt: Ausgangspunkt des Dracula-Stoffes ist der rumänische Fürst Vlad III. Drăculea aus dem 15. Jahrhundert. Vlad Țepeș mag zwar ‚blutrünstig‘ gewesen sein, aber ein Vampir war er sicherlich nicht. Trotzdem ist seine Geschichte höchst fesselnd, zudem dann, wenn man sich für die Geschichte seiner Zeit interessiert: Die Türken hatten weite Teile des Balkan besetzt. Mehmed II., der Eroberer, Sohn von Murad II., regierte als Sultan des Osmanischen Reiches von 1451 bis 1481 – hatte Konstantinopel erobert und machte diese unter dem Namen Istanbul 1457 zu seiner Hauptstadt.

Bei mir kam vor vielen Jahren noch ein weiteres Interesse hinzu, was den Herrscher der Walachei (eben jeden Vlad III. Drăculea) betrifft. Ich war mit meiner heutigen Frau Mitte der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts zweimal in Rumänien und damit zwischen der Walachei und Transsilvanien (Siebenbürgen) unterwegs. Unter anderem besuchten wir auch Schloss Bran, das Touristen immer wieder gern als Draculaschloss präsentiert wird, obwohl Vlad III. Drăculea, dessen Herrschaft sich nicht auf dieses innerhalb des Karpatenbogens liegende Gebiet erstreckte, es nie betreten hat. Anderen Quellen zufolge hat er dort eine einzige Nacht in Gefangenschaft verbracht, als es noch Kronstadt gehörte. Es erinnert jedoch sehr an die Beschreibung von Draculas Burg aus Bram Stokers gleichnamigem Roman.

Kommen wir zum historischen Dracula (und seiner Familie) im Schnelldurchgang: Im Jahre 1431 befindet sich Vlad Besarab II., abgesetzter Wojwode der „Tara Româneasca“ (Walachei), der aufgrund seiner Mitgliedschaft im Drachenorden Kaiser Sigismunds den Beinamen Dracul trägt, in seinem Exil im siebenbürgischen Schäßburg, als sein zweiter Sohn geboren wird. Als Erwachsener wird der Drachensohn (Draculea) als Vlad III. „Ţepeș“ (der Pfähler), von den Osmanen „Scheitanoglu“ genannt, in die Geschichte eingehen … Und 466 Jahre später – wir wissen es längst – wird in London Bram Stokers Roman Dracula veröffentlicht, der den gefürchteten walachischen Fürsten zum dämonischen Vampirgrafen mutieren lässt…..

Zurück zu Vlad Dracul, dem Vater: Um der Treue Vlad Draculs sicher zu sein, bat sich Murad II., dem türkischen Sultan von 1431 bis 1451, zwei seiner Söhne als Geiseln aus. Der Fürst sandte ihm Vlad Draculea und seinen um fünf Jahre jüngeren dritten Sohn Radu. Den ältesten, Mircea, behielt er bei sich. (S. 34)

Später wurde Vlad Dracul [von den Ungarn] geschlagen, konnte aber fliehen. Sein Sohn Mircea, wurde gefangengenommen und in Tirgoviste hingerichtet. In der Nähe von Bukarest, kaum 60 Kilometer von der rettenden Donau entfernt, ereilte auch Vlad Dracul ein gewaltsamer Tod, er wurde erschlagen. Sein Grab, so man ihm eins gönnte, blieb unentdeckt bis auf den heutigen Tag. (S. 71)

Radu der Schöne [der Bruder] war im Lauf des Jahres 1475 den walachischen Wirren zum Opfer gefallen, ob in der Schlacht oder ermordet, ist strittig, sicher ist, daß es kein friedlicher Tod war. (S. 149)

Und wie endete Vlad III. Drăculea? … am 26. [November 1476] wurde Vlad Tepes zum dritten Mal als Woiwode ausgerufen. […] Der Moldaufürst [Stefan] überließ ihm eine Leibgarde von 200 ausgesuchten Kämpfern. So war er nicht ganz allein als um die Jahreswende 1476/77 ein Kontigent türkischer Akindschis mit Basarab Laiota im Gefolge in die Walachei einfiel. Starb Vlad Tepes im Kampf oder enthauptete ihn, dies die zweite schrecklichere Lesart, ein gedungener Mörder hinterrücks, so daß ihm der Kopf vor die Füße rollte? […]
Der Körper des Fürsten wurde in Snagov bestattet, einem Inselkloster unweit Bukarest. […] Sein Kopf hingegen, sorgfältigst in Honig konserviert, wurde als handgreifliches Beweisstück Mehmed II. übersandt, sodann auf einer Stange befestigt und zur Schau gestellt. (S. 155).

    Ralf-Peter Märtin: Dracula – Das Leben des Fürsten Vlad Tepes

Vlad III. Drăculea war zeitlebens ein grausamer Herrscher und machte auch vor seinem eigenen Volk keinen Halt. So abstoßend es heute wirken mag, wie der Herrscher über die Walachei mit Untertanen und Kriegsgegnern verfuhr – eine Ausnahme bildete er damit zu seiner Zeit keineswegs. Das Pfählen beispielsweise war als Strafe auch im damaligen Europa und im Osmanischen Reich verbreitet. In seinem Buch Dracula: Das Leben des Fürsten Vlad Tepes berichtet der Autor Ralf-Peter Märtin, dass andere zeitgenössische Machthaber dem Fürsten an Grausamkeit kaum nachstanden. So habe der französische König Ludwig XI., der als ein gerechter Herrscher galt, versucht, einen Verräter durch Begießen der Augen mit kochendem Wasser zu blenden. Der osmanische Sultan Mehmed II. wiederum habe die 300-köpfige Besatzung einer Burg, die ihm Widerstand geleistet hatte, niedermetzeln und ihren Hauptmann zersägen lassen.

    Vlad Tepes speist unter den Gepfählten

Die bevorzugte Hinrichtungsart trug dem walachischen Fürsten den Beinamen Vlad Țepeș, Vlad, der Pfähler ein. Grausamer geht es wohl kaum wie in dem Buch aus Roland Villeneuve: Grausamkeit und Sexualität, Stuttgart 1975, S. 24/25, zitiert wird:

„Um diese Strafe zu vollziehen, legt man den Verurteilten auf den Bauch, bindet seine Hände auf den Rücken fest und befestigt seine Beine so, daß sie weit gespreizt sind. […] Nachdem die Öffnung, durch die der Pfahl gehen soll, hinlänglich eingeölt ist, nimmt der Henker diesen in beide Hände und stößte ihn so tief er kann in den Anus des Verurteilten. Dann treibt er ihn mit Hilfe eines Hammers 50 bis 60 Zentimeter hinein. Hernach wird der Pfahl aufgerichtet und in die Erde gerammt. Der Delinquent bleibt nun sich selbst überlassen. Er hat nichts, an dem er sich anhalten könnte und wird von der Schwere seines Gewichts zu Boden gezogen, so daß der Pfahl immer tiefer in ihn eindringt, bis er schließlich entweder aus der Schulter, oder aus der Brust oder auch aus dem Magen wieder heraustritt.
Der Tod, der die schrecklichen Leiden dieses Unglücklichen beenden soll, läßt sich Zeit. Man hat Verurteilte gekannt, die bis zu drei Tagen in dieser schrecklichen Lage lebend zubrachten. Die Geschwindigkeit, mit der der Tod eintritt, ist verschieden und hängt von der Konstitution des Opfers wie von der Richtung des Pfahls ab. Tatsächlich hat man, in einem unglaublichen Raffinement von Grausamkeit, dafür gesorgt, daß die Spitze des Pfahls nicht ganz scharf, sondern ein wenig abgerundet ist. Dadurch wird vermieden, daß der Pfahl die Organe, die in seinem Weg liegen, durchbohrt und so einen raschen Tod herbeiführt. Die Organe werden nicht durchstoßen, sondern nur aus ihrer natürlichen Lage gedrängt. So wurden stark blutende Verletzungen vermieden und der Tod hinausgezögert, während die Schmerzen durch die Zusammenpressung der Nerven unbeschreiblich waren.“ (S.“137)

Dass gerade Vlad der Ruf besonderer Grausamkeit anhing, dürfte vor allem auf eine Flugschriften-Kampagne zurückgehen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sei diese am ungarischen Königshof zu lokalisieren.

Während der spätmittelalterliche Herrscher in Rumänien bis heute als Held verklärt wird, hat sich sein negatives Image im Westen verfestigt: Weithin gilt Vlad III. Draculea immer noch als pfählender, blutdürstiger Psychopath – eine Schreckensgestalt, die das Gruseln lehrt.

Hier noch einige Stichworte als Nebenbemerkungen (aus dem Buch zitiert):

1. Der Drache

Der Drache ist die Verkörperung des Bösen, des Teufels, der Versuchung. Die sieben Köpfe symbolisieren die sieben Hauptlaster: Hochmut, Neid, Zorn, Traurigkeit, Geiz, Gefräßigkeit und Unkeuschheit. Für sich genommen ist er das Zeichen des Chaos, der ungebändigten Kräfte, die erst Christus endgültig besiegt hat. Das Erscheinungsbild des Drachen legt Parallelen zu Vlad Tepes nahe: „ … ein landverheerendes, menschenvertilgendes Untier von entsetzlichem Aussehen, oft mit Fledermausflügeln ausgestattet …“ (S. 161)

2. Die Siebenbürger Sachsen

Siebenbürgen oder Transsylvanien (“hinter den Wäldern”) ist einer der buntesten ethnischen Flickenteppiche auf der europäischen Landkarte. Im 15. Jahrhundert wie auch heute noch bestand die Bevölkerung aus den vier Hauptgruppen der Rumänen, Ungarn, Szekler und Sachsen.

Die Deutschen waren in mehreren Einwanderungsschüben im 12. und 13. Jahrhundert ins Land gekommen. Zum größten Teil stammten sie von Rhein und Mosel, wurden aber von den ungarischen Beamten als „Sachsen“ deswegen bezeichnet, weil sie ihre Auswanderungsroute vom Rhein nach Mitteldeutschland geführt hatte und die Ungarn diese Zwischenstation ihres Weges fälschlich als ihre eigentliche Herkunft ansahen. Ein ihnen 1224 vom ungarischen König verliehener Freibrief, das „Andreanum“, sicherte ihnen freies Grundeigentum auf den ihnen verliehenen Gebieten, eigenes deutsches recht sowie volle Selbstverwaltung. Ihr Haupt siedlungsbereich war der Süden und Norden Siebenbürgens, wo sie die Städte Hermannstadt und Kronstadt, Schäßburg und Bistritz als Mittelpunkte eines florierenden Handels gründeten. Die Siedlungen lagen zudem in den fruchtbarsten Regionen Siebenbürgens, was hohe landwirtschaftliche Erträge garantierte. Da die Sachsen auch im Bergbau – die siebenbürgischen Goldminen galten als unerschöpflich, ebenso gab es große Salzlagerstätten – wegen ihrer Kenntnisse gefragt waren, reichte ihre gesellschaftliche Machtposition über ihren bevölkerungsmäßigen Anteil weit hinaus. Im Handel und in vielen handwerklichen Bereichen besaßen sie fast eine Monopolstellung. (S. 19)

3. Das Osmanische Reich (Vorläufer des IS?)

„… wir sehen den christlichen Glauben eingeschränkt und in einem Winkel zusammengedrängt. Denn nachdem er den gesamten Erdkreis gewonnen hatte, ist er jetzt schon aus Asien und Afrika vertrieben und wird in Europa nicht in Ruhe gelassen. Groß ist das Reich, das die Tartaren und Türken diesseits von Don und Hellespont, die Sarazenen bei den Spaniern besetzt halten; klein ist das Gebiet, das auf Erden den Namen Christi bewahrt …“ zitiert nach Arno Borst; Lebensformen im Mittealter, Frankfurt/M. u.a. 1973,, S. 632

Himmel und Hölle

Himmel und Hölle ist eine Variante des Hinkelkastenspiels, ein Hüpfspiel, das auf fast allen Schulhöfen überall auf der Welt in einer Vielzahl von Varianten gespielt wird. Die Menschen haben doch mehr miteinander gemein, als man denkt, den Kindern sei Dank.

    Himmel und Hölle – Hinkelkastenspiel (Rayuela)

Die spanische Variante nennt sich Rayuela. Diesen Namen trägt auch ein Roman von Julio Cortázar (1914–1984), der 1963 (deutsch: 1981 bei Suhrkamp als Rayuela: Himmel-und-Hölle) veröffentlicht wurde. Cortázars Meisterwerk ist ein literarisches Experiment in der Tradition des Nouveau Roman, das zu den wichtigsten spanischsprachigen Romanen des 20. Jahrhunderts zählt und das bei zeitgenössischen lateinamerikanischen Schriftstellern wie Gabriel García Márquez, Mario Vargas Llosa oder José Lezama Lima Bewunderung fand. Es gibt zwei Lesarten des Buchs. Man kann es mehr oder weniger linear, also von Anfang bis zum Ende lesen, wie man normale Bücher eben so liest. Oder man liest die Kapitel in einer bestimmten Reihenfolge (73 – 1 – 2 – 116 – 3 usw.), wie ich es getan habe.

Der Vollständigkeit halber. Es gibt da auch noch ein Fingerspiel namens Himmel ODER Hölle, das bei Kindern sehr beliebt ist. Es wird aus einem quadratischen Blatt Papier gefaltet und anschließend in den Farben Blau (für Himmel) und Rot (für Hölle) so angemalt, dass man, wenn man es öffnet – was über zwei Achsen möglich ist – entweder in den „Himmel“ oder in die „Hölle“ blickt.

Nun in den nächsten Tagen verweile ich in Sizilien. Da ist mir in diesem Zusammenhang ein Witz eingefallen, ich weiß nicht, ob ich den wieder hinbekomme. Der Witz handelt auf jeden Fall von einem Italiener, einem Deutschen und einem Engländer (so einer darf ja nirgends fehlen). Neben der französischen gilt die italienische Küche als besonders gut. Es gibt übrigens mehr als nur Pizza und Spaghetti. Wir Deutschen sind ja bekannt für unsere technischen Produkte. Engländer kennt man für ihren schrägen, oftmals schwarzen Humor. Und so gestaltet sich der Himmel auf Erden, wenn sich ein Italiener ums Essen kümmert, ein Deutscher für die Technik – und ein Engländer mit seinem Humor unterhält. Die Hölle wird’s aber sein, wenn ein Engländer den Kochlöffel schwingt, ein Italiener sich der Technik annimmt und ein Deutscher sich des Humors bedient. Himmel und Hölle!